GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz
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Schwerpunkt<br />
„Demokratie ist die Gegenwelt zur Uniform“<br />
Das Summerhill der Türkei: Besuch der Aziz-Nesin Stiftung<br />
- Text und Fotos: Lucas Schmitt -<br />
„Eine Woche Bildungsurlaub in Istanbul? Du hast es gut! Mal was anderes<br />
als das IFB in Speyer! Wird bestimmt interessant....“. Einige meiner<br />
Kolleginnen und Kollegen wären sicher gerne mitgeflogen.<br />
•Titelbild<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung:<br />
Betreuerin der Nezin-Stiftung<br />
mit<br />
einem der jüngsten<br />
Kinder. Die Kinder<br />
sind begeistert<br />
von der Simultan-<br />
Übersetzung über<br />
Kopfhörer.<br />
• Bilder unten:<br />
Hauptgebäude der<br />
Stiftung. Aziz Nesin<br />
war der Meinung,<br />
dass es den<br />
Kindern seiner<br />
Stiftung gut gehen<br />
solle - der Swimmingpool<br />
soll dazu<br />
beitragen! -<br />
• Gesprächsrunde<br />
mit Kindern in<br />
„Opa Aziz“ Garten.<br />
Nach 7 Tagen am Bosporus, vielen<br />
Gesprächen mit Gewerkschaftern,<br />
Journalisten, Menschenrechtsvertretern,<br />
Mitarbeitern politischer Stiftungen<br />
und NGOs, Wissenschaftlern<br />
und Lehrkräften fällt es mir<br />
schwer, die Eindrücke in meinem<br />
Kopf zu ordnen. So schlimm hatte<br />
ich mir die politische Situation der<br />
Türkei wirklich nicht vorgestellt, ein<br />
Land, das sich „auf dem Weg in die<br />
EU“ befindet... Jetzt fallen mir die<br />
schwer bewaffneten Militärpolizisten<br />
auf, die an jeder Ecke der Stadt stehen,<br />
ich bemerke die kurz geschorenen<br />
Jungs, die (in Zivil) die Fußgängerzone<br />
überwachen und knallhart<br />
zupacken, sobald sich dort Menschen<br />
zu Gruppen zusammenfinden.<br />
Wenn man erst einmal heraus hat,<br />
woran man sie erkennt, merkt man,<br />
dass sie überall sind …<br />
Unsere Gesprächspartner wirkten oft<br />
deprimiert: „Die Türkei ist eine als<br />
Demokratie verpackte Militärdiktatur,<br />
regiert vom allmächtigen Nationalen<br />
Sicherheitsrat. Die Islamisten<br />
werden immer stärker. Die EU hat<br />
kein Interesse an uns. Es geht weder<br />
vor noch zurück - und wer es wagt,<br />
etwas dagegen zu sagen, wird mit<br />
Prozessen überzogen … oft droht gar<br />
Schlimmeres!“. Wir treffen den Vorsitzenden<br />
der „Türkisch-Is“ Gewerkschaft;<br />
ihm wird der Prozess gemacht,<br />
weil er zur Demonstration<br />
am 1. Mai aufgerufen hat. Die Vorsitzende<br />
des türkischen Menschenrechtsvereins<br />
berichtet, dass 13 ihrer<br />
Vorgänger und Kollegen ermordet<br />
wurden und sie ebenfalls schon<br />
angegriffen wurde. Sie lässt sich nicht<br />
einschüchtern und arbeitet trotz der<br />
ständigen Bedrohung weiter. Während<br />
unseres Aufenthaltes wird in<br />
Istanbul - unter mysteriösen Umständen<br />
- ein jüdischer Geschäftsmann<br />
ermordet. Spekulationen werden<br />
geäußert: Die Mafia? Die Islamisten?<br />
Stecken politische Interessen<br />
dahinter? Zwei Tage nach unserer<br />
Abreise explodiert am Taxim-Platz<br />
(nicht weit vom Hotel, in dem wir<br />
wohnten) eine Bombe. Die Türkei<br />
im Jahr 2001.<br />
Hoffnungsschimmer<br />
Die Fahrt führt hinaus aus der Stadt<br />
Istanbul, Richtung Edirne und Bulgarien.<br />
Rechts und links der Route<br />
nichts als Industrie, Dreck, Wohnblocks,<br />
das Messegelände, Einkaufszentren<br />
und uniforme Neubausiedlungen.<br />
Istanbul baut; nicht schön,<br />
aber zweckmäßig. Die Metropole<br />
wuchert, frisst sich langsam und unaufhaltsam<br />
immer weiter in die karge<br />
Landschaft.<br />
Bei Catalca biegt unser Bus von der<br />
Europastraße 5 ab. Die Bebauung<br />
wird lichter, die Gegend wirkt ländlich.<br />
Nach wenigen Kilometern haben<br />
wir unser Ziel erreicht: Cocuk<br />
Cenneti (Kinderparadies) steht am<br />
Tor lesen. Dahinter Zweckbauten,<br />
Wirtschaftsgebäude und ein Gelände,<br />
das eher einer Baustelle als unserer<br />
Vorstellung von einem „Kinderparadies“<br />
entspricht. Das sollte nun<br />
die Nesin-Stiftung sein, von der wir<br />
in den vergangenen Tagen bereits so<br />
viel gehört haben...<br />
Freundliche Mitarbeiter, Kinder und<br />
Jugendliche der Stiftung begrüßen<br />
uns und führen durch Haus und<br />
Garten. Die beiden Hauptgebäude<br />
der Nesin-Stiftung beherbergen die<br />
Kinderzimmer, Speise- und Aufenthaltsräume,<br />
eine Bibliothek, das Archiv<br />
und den erst kürzlich fertiggestellten<br />
Theatersaal. Hier sollen in<br />
Zukunft Theaterstücke aufgeführt<br />
werden, Lesungen, Konzerte oder<br />
Zirkusspiele stattfinden. Ein junger<br />
Bewohner erzählt voller Stolz, dass<br />
es nun endlich gelungen sei, den<br />
Raum trocken zu legen; bald werde<br />
der Saal offiziell eröffnet. Weiter geht<br />
es durch Aufenthaltsräume und den<br />
Speisesaal der Kinder. Von der Terrasse<br />
des Gebäudes eröffnet sich ein<br />
weiter Blick über den Garten, die<br />
Nebengebäude, Werkstätten, Ställe<br />
und umliegende Hügel. Ein lauer<br />
Wind weht, es ist still und wir genießen<br />
den Blick in die Natur. Im<br />
Haus begegnet uns der Gründer der<br />
Stiftung - Aziz Nesin - in jeder Ecke<br />
des Gebäudes. Fast überall hängen<br />
Plakate, Gemälde, Fotos, Zeichnungen<br />
des Schriftstellers, in einem improvisierten<br />
Museum werden seine<br />
Bücher und Andenken aufbewahrt.<br />
„Hier hat sich einer ein Denkmal<br />
errichtet!“ - die Ansammlung von<br />
„Nesin-Reliquien“ wirkt auf den ersten<br />
Blick befremdlich. Warum dieser<br />
Personenkult um einen, der als<br />
„Atheist und Kommunist“ bezeichnet<br />
wurde? Auch andere Fragen werden<br />
gestellt: Warum nimmt die Stiftung<br />
nicht noch mehr Kinder auf?<br />
Das Elend der Straßenkinder Istanbuls<br />
ist groß, hier wäre noch Platz<br />
und der Swimmingpool im Garten<br />
wäre doch nun wirklich nicht nötig<br />
gewesen … Die Suche nach Ungereimtheiten<br />
beginnt.<br />
10 <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 3-4 /2002