GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz
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<strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong><br />
Beilage zur E&W<br />
<strong>GEW</strong> <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong><br />
Neubrunnenstraße 8 · 55116 Mainz<br />
Telefon: 06131-28988-0 • FAX 06131-28988- 80<br />
E-mail: <strong>GEW</strong>@<strong>GEW</strong>-RLP.de<br />
Schulgeist<br />
Als Oma noch Lehrerin war...<br />
Sätze, die mit „früher“ oder „zu meiner<br />
Zeit“ beginnen, veranlassen erst einmal<br />
alle BiVis (bis vierzig) die Ohren<br />
auf Durchzug zu stellen. Wenn das<br />
nicht gelingt, dann werden geistig die<br />
Ärmel hochgekrempelt und Kampfpositionen<br />
eingenommen: „Wäre doch<br />
gelacht, wenn wir diesen alten Müll<br />
nicht endlich für immer entsorgen<br />
könnten und diese alten Kamele, die<br />
immer wieder das Gras über längst vergangenen<br />
Dingen abfressen, zum<br />
Schweigen bringen könnten!“<br />
Nichts da, ich liebe meine Situation als<br />
altes wiederkäuendes Kamel. Es ist einfach<br />
erstaunlich, wie jede Generation<br />
glaubt, alles, was sie erlebt und denkt,<br />
sei ganz neu, bloß weil es für sie neu<br />
ist. Deshalb weide ich gerne Gras über<br />
alten Sachen ab, um zu beweisen: Fast<br />
alles war schon einmal da oder hat sich<br />
nur minimal geändert oder trägt nur<br />
ein neues Outfit.<br />
Das Beispiel, das ich erzählen will, liegt<br />
so reichlich zwanzig Jahre zurück und<br />
geschah in einer rheinland-pfälzischen<br />
Großstadt-Grundschule. Es ging um die<br />
Noten für das Halbjahreszeugnis, die<br />
im vierten Schuljahr ja eine besondere<br />
Bedeutung haben wegen der davon<br />
abhängigen Schullaufbahnempfehlung.<br />
Damals war das Urteil einer Lehrkraft<br />
noch verbindlich, und wenn sich die<br />
Eltern nicht daran hielten, hatte das<br />
eine Aufnahmeprüfung für das Kind an<br />
der Schulart zur Folge, die man für es<br />
wünschte.<br />
Eine als „links“ verschriene Kollegin<br />
führte eine vierte Klasse und entdeckte<br />
in der Notenliste bei einer Schülerin,<br />
die ein sonst durchweg gutes Zeugnis<br />
bekommen sollte, im Fach Mathematik<br />
ein „Ausreichend“. Dieses Fach<br />
wurde vom Schulleiter unterrichtet, der<br />
dieses Fach auf der Jahrgangsstufe für<br />
sich reservierte, da man nach seiner<br />
Meinung dafür keinerlei Vorbereitung<br />
benötigte, weil sich Mathe ja eh nie<br />
ändert.<br />
Die Kollegin hatte bis Ende des dritten<br />
Schuljahres ihre Klasse auch in Mathematik<br />
unterrichtet, und die betreffende<br />
Schülerin hatte - wie in den übrigen<br />
Fächern - gute Leistungen erbracht.<br />
Die Schülerin, Manuela, war nicht<br />
unbedingt ein „pflegeleichtes“ Kind.<br />
Tochter eines GI, der wegen krimineller<br />
Delikte schon seit einigen Jahren<br />
untergetaucht war, und einer sehr jungen<br />
deutschen Mutter, die ständig auf<br />
der Suche nach einem neuen Partner<br />
war. Manuela war sich deshalb meist<br />
selbst überlassen, und ihr Äußeres entsprach<br />
nicht den bei LehrerInnen gängigen<br />
Normen eines gepflegten Kindes.<br />
Die Haare hatten schon lange keinen<br />
Frisör mehr gesehen, die Fingernägel<br />
waren zu lang und meist etwas schmutzig,<br />
die Kleidung wurde wohl auch nur<br />
wöchentlich gewechselt. Da sie schnell<br />
im Denken war, fiel ihr auch immer<br />
ein kesser Spruch zu den Äußerungen<br />
von MitschülerInnen und Lehrkräften<br />
ein, den sie ohne große Hemmungen<br />
laut von sich gab. Aber frech oder gar<br />
aufsässig war sie nicht, sie konnte sich<br />
nur verbal gut ihrer Haut wehren -<br />
auch den Lehrkräften gegenüber.<br />
Die Klassenlehrerin hatte im Vorjahr<br />
oft über dieses Mädchen im Lehrerzimmer<br />
gesprochen und staunend über ihre<br />
schulischen Leistungen berichtet - trotz<br />
der ungünstigen familiären Situation.<br />
Ihre Enttäuschung über die Mathematikleistung<br />
war deshalb sehr groß, da<br />
sie gehofft hatte, Manuela eine Schullaufbahnempfehlung<br />
für das Gymnasium<br />
schreiben zu können. Außerdem<br />
hatte sie leise Zweifel daran, dass die<br />
Note „ausreichend“ tatsächlich zutreffend<br />
war.<br />
Sie entschloss sich deshalb, mit dem<br />
Schulleiter diesen Einzelfall zu besprechen<br />
und dabei auf die Vorschrift hinzuweisen,<br />
dass innerhalb eines halben<br />
Jahres eine Note nicht um zwei Stufen<br />
sinken dürfe, es sei denn, es lägen außergewöhnliche<br />
Gründe dafür vor, die<br />
dann aber auch aktenkundig gemacht<br />
werden müssten.<br />
Das beabsichtigte pädagogische Gespräch<br />
in der großen Pause war dann<br />
keines. Es war ein verbaler, sehr lautstarker<br />
Schlagabtausch, den das Kollegium<br />
fast vollständig durch die Wand<br />
des Lehrerzimmers mithören konnte.<br />
„Rein pädagogische Gründe“ veranlassten<br />
den Schulleiter zu der Note „ausreichend“.<br />
Er habe gesehen, dass die<br />
bereits in die Notenliste eingetragenen<br />
Noten eine Schullaufbahnempfehlung<br />
für das Gymnasium zur Folge haben<br />
könnte, und das habe er „mit Rücksicht<br />
auf die Schülerin doch verhindern<br />
müssen“. „Sehen Sie sich die doch einmal<br />
an, da gehört sie einfach nicht hin.<br />
Sie tun ihr nichts Gutes, wenn Sie sie<br />
aus ihrer sozialen Schicht herausholen.<br />
Sie wird nur unglücklich werden“.<br />
Diese Aussage ließ bei der Kollegin<br />
wohl alle Sicherungen durchbrennen,<br />
denn jetzt hörten wir unfreiwillig mit,<br />
wie sie etwas von „Sie haben Ihren<br />
Beruf verfehlt, Rechtsbeugung und Sozialfaschist“<br />
brüllte. Außerdem drohte<br />
sie an, die Bezirksregierung mit diesem<br />
Fall zu befassen und ein Dienstordnungsverfahren<br />
gegen ihn zu beantragen.<br />
Sie setzte sich auch ohne die angedrohten<br />
Maßnahmen durch, denn die Note<br />
„ausreichend“ konnte nicht mit Noten<br />
der schriftlichen Arbeiten belegt werden,<br />
und mutig war dieser Schulleiter<br />
immer nur gegenüber Schwächeren. Er<br />
änderte seine Note in „befriedigend“<br />
ab, und die Kollegin formulierte ihre<br />
Schullaufbahnempfehlung für das<br />
Gymnasium.<br />
Der Werdegang von Manuela gab der<br />
Kollegin im Nachhinein Recht. Zwar<br />
nicht ganz gradlinig aber nur mit einem<br />
kurzzeitigem Umweg machte<br />
Manuela das Abitur und ist heute<br />
Grund- und Hauptschullehrerin in<br />
Baden-Württemberg.<br />
Ist diese alte „Kamelle“ nicht brandaktuell?<br />
Steht nicht in der Pisa-Studie,<br />
dass das deutsche Schulsystem die<br />
„Schwachen“ noch immer benachteiligt?<br />
Und nicht nur das System! KollegInnen,<br />
die sich so für ihre SchülerInnen<br />
einsetzen, sind selten, denn wer lebt<br />
schon gern in Dauerfehde mit seinem<br />
Vorgesetzten?<br />
Ursel Karch<br />
36 <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 3-4 /2002