GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz
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Bildung International<br />
Aziz Nesin: Dichter,<br />
Demokrat und Satiriker<br />
Aziz Nesin (1915 in Istanbul geboren)<br />
war als Schriftsteller (Geschichten,<br />
Romane, Hörspiele, Reiseerzählungen,<br />
Gedichte) und Satiriker<br />
wohl der produktivste und populärste<br />
Autor der Türkei. Bisher sind 138<br />
Bücher von ihm veröffentlicht worden,<br />
seine Werke wurden in mehr als<br />
30 Sprachen übersetzt. 20 Bücher<br />
erschienen auch in Deutsch. Er erhielt<br />
zahlreiche Auszeichnungen (u.a.<br />
1994 die Carl-von Ossietzky Medaille).<br />
Berühmt wurde er vor allem<br />
durch seine bissigen politischen Satiren.<br />
In seinem Heimatland machte<br />
er sich damit nicht nur Freunde.<br />
Mit zwei Attentaten und über 200<br />
Prozessen wurde versucht, ihn zum<br />
Schweigen zu bringen. Als 1993 in<br />
der Kleinstadt Sivas während eines<br />
Kulturkongresses Fundamentalisten<br />
das Tagungshotel anzündeten und 37<br />
Künstler umkamen, konnte er dem<br />
Attentat knapp entkommen. Im<br />
August 1994 hatte ihm der oberste<br />
Staatsanwalt der Türkei die Todesstrafe<br />
angedroht. Heute genießt sein<br />
Werk internationales Ansehen. Seit<br />
November 2000 ist die deutsch-türkische<br />
Europaschule in Berlin nach<br />
Aziz Nesin benannt. Nesin starb vor<br />
7 Jahren und wurde im Garten seiner<br />
Stiftung begraben.<br />
1972 erfüllte sich Nesin einen lang<br />
gehegten Traum und legte den<br />
Grundstein seines „Kinderparadieses“.<br />
Das Gelände gleicht inzwischen<br />
einem kleinen Dorf mit einem großen<br />
Garten. Fast zehn Jahre hatte der<br />
Aufbau gedauert, bis Anfang der<br />
80er Jahre die ersten Kinder aufgenommen<br />
wurden. Bis zu seinem Tod<br />
lebte Aziz Nesin „als Oberhaupt einer<br />
großen Familie“ mit den Kindern<br />
in der von ihm gegründeten Stiftung.<br />
Heute leben 36 Kinder hier. Manche<br />
sind Waisen oder Halbwaisen,<br />
andere stammen aus Familien, die<br />
nicht in der Lage sind, für ihre Kinder<br />
zu sorgen. Die Kinder kommen<br />
aus allen Provinzen der Türkei und<br />
haben sehr unterschiedliche Lebenswege<br />
hinter sich. In der Nesin Stiftung<br />
finden die Kinder ein neues<br />
Zuhause, besuchen die staatliche<br />
Schule des Nachbarortes und können<br />
in der Einrichtung bleiben, bis<br />
sie ihre Ausbildung beendet haben.<br />
Aziz Nesin ist sicher kein großer pädagogischer<br />
Neuerer - dennoch muss<br />
die Philosophie seiner Stiftung - im<br />
Vergleich zur familiären und staatlichen<br />
Erziehung der Türkei - als revolutionär<br />
bezeichnet werden:<br />
„Unsere Erziehungsprinzipien weichen<br />
erheblich von den sonst üblichen<br />
ab. Bei uns gibt es keine Prügelstrafe,<br />
kein Anschreien, überhaupt<br />
keine Strafen. Nicht immer können<br />
wir nach unseren Prinzipien leben,<br />
aber - und das ist das Interessanteste<br />
- wir haben kein Programm. Das Programm<br />
muss jeder für sich machen,<br />
anstatt es vorgesetzt zu bekommen.<br />
Ein Programm, das ein Mensch für<br />
sich macht, ist stimmiger und anspruchsvoller<br />
als das, was andere ihm<br />
vorsetzen.<br />
Wann es ins Bett geht, bestimmt jedes<br />
Kind selbst - die ganz Kleinen<br />
ausgenommen. Nach dem Grundschulalter<br />
entscheidet jedes Kind<br />
auch selbst, welches Buch es lesen<br />
will, ebenfalls, wie lange und wo dies<br />
geschehen soll. Wir beraten die Kinder<br />
nur, wenn wir gefragt werden.<br />
Bei uns dürfen die Kinder ruhig vorlaut<br />
sein - das ist das Recht, das ihnen<br />
kein anderes pädagogisches Programm<br />
einräumt. Die Kinder haben<br />
das Recht, vorlaut zu sein, und dieses<br />
Recht sollten sie öfter in Anspruch<br />
nehmen. Kinder, die heute<br />
frech sein dürfen, werden mit Sicherheit<br />
als Erwachsene keinen Nachholbedarf<br />
haben. Solche Kinder werden<br />
mit Sicherheit als Erwachsene ihren<br />
Mund auftun; daran arbeiten wir! In<br />
der Türkei ist die Verwirklichung<br />
solcher Prinzipien kaum möglich.<br />
Dennoch, das ist es, woran wir arbeiten.<br />
Ich kann nicht behaupten,<br />
dass wir unser Ziel erreicht hätten,<br />
Zu den Bildern rechts:<br />
• Azis Nesins umfangreiche Sammlung<br />
von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern.<br />
Leider fehlen der Stiftung bis<br />
heute die Mittel diese Sammlung zu<br />
archivieren.<br />
• Emine (19) eine Bewohnerin der Stiftung,<br />
beantwortet selbstbewusst die Fragen<br />
der Besucher.<br />
• Gesprächsrunde mit Kindern in „Opa<br />
Aziz“ Garten.<br />
<strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 3-4 /2002<br />
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