GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz
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Schwerpunkt<br />
Wie Kinder ihren Lernweg finden<br />
Eindrücke aus dem schwedischen Kindergarten<br />
- Von Bernhard Eibeck -<br />
Alles da, was das<br />
Kinderherz begehrt.<br />
Foto: Seifert<br />
„Gestern Vormittag haben sie ein<br />
Krankenhaus gebaut. Die Katze von<br />
einem Kind hatte sich am Fuß verletzt<br />
und brauchte Hilfe. Am Nachmittag<br />
wollten sie Feuerwehr spielen<br />
und haben das Haus angezündet.“<br />
Jan Andersens Antwort auf die<br />
Frage aus der <strong>GEW</strong>-Gruppe, was die<br />
Kinder den ganzen Tag über so machen,<br />
war ganz einfach.<br />
Acht Journalisten, Erziehungswissenschaftler<br />
und <strong>GEW</strong>-Hauptvorständler<br />
besuchten im Rahmen einer<br />
fünftägigen Expedition ins<br />
PISA-Wunderland Schweden die<br />
Stockholmer Kindertagesstätte -<br />
oder wie es dort offiziell heißt die<br />
„Pre-School“ - Ekbacken.<br />
Den Kopf voll mit schweren Fragen<br />
nach Konzepten frühkindlicher Pädagogik<br />
und des Lernens stießen sie<br />
immer wieder auf das gleiche Phänomen:<br />
Die Schweden verstanden sie<br />
gar nicht. So auch Jan Andersen, der<br />
Erzieher. Kinder lernen im Leben.<br />
Und da es ihr Leben ist, lernen sie<br />
so, wie es in ihr Leben passt.<br />
Für ihn besteht die Umsetzung des<br />
Pre-School Curriculums, das es in<br />
Schweden als verbindliche Vorgabe<br />
für alle Kindereinrichtungen seit<br />
1998 gibt, nicht aus didaktisch ausgearbeiteten<br />
Lernzielen, die es in einer<br />
bestimmten Zeit zu erreichen<br />
gilt, sondern daraus, Kindern Entwicklungsräume<br />
zu eröffnen, in denen<br />
sie ihre eigenen Lernwege gehen.<br />
Wenn es im Curriculum heißt, dass<br />
Kinder die Fähigkeit entwickeln sollen,<br />
„Mathematik in sinnvollen Zusammenhängen<br />
mit Situationen zu<br />
entdecken und zu benutzen“, dann<br />
bleibt offen, ob und wann sie in welchem<br />
Zahlenraum subtrahieren oder<br />
multiplizieren gelernt haben müssen.<br />
Manche Kinder rechnen schon mit<br />
vier Jahren bis 30, andere können<br />
Zahlenreihen auf Englisch.<br />
Curriculare Konstruktionen<br />
Prof. Dr. Gunnila Dahlberg vom<br />
Stockholmer Lehrerbildungsinstitut,<br />
an dem auch das Personal der Kindertagesstätten,<br />
die „Pre-School<br />
Teacher“, ausgebildet wird, erklärt<br />
den Hintergrund dieser besonderen<br />
Lernphilosophie. Kinder lernen<br />
nicht, weil Erwachsene sie etwas lehren.<br />
Die Lernleistung des Kindes<br />
besteht vielmehr darin, aus der Vielzahl<br />
der Eindrücke, die aus der Umwelt<br />
auf sie einströmen, das herauszufiltern,<br />
was sie für die Konstruktion<br />
ihrer persönlichen Wirklichkeit<br />
brauchen. Lernen ist Konstruktion,<br />
Bildung ist immer Selbstbildung.<br />
Das wusste schon Jean Piaget, dessen<br />
Forschungen aus den 50er Jahren<br />
in letzter Zeit um neue Ergebnisse<br />
aus der Hirnforschung, der<br />
Lern- und der Entwicklungspsychologie<br />
erweitert wurden. Schon ein<br />
Säugling lernt auf diese Weise, dass<br />
er beständig neue Eindrücke macht,<br />
sie mit Bekanntem abgleicht und<br />
seine Welt entdeckend konstruiert.<br />
Den Rahmen dieser Lernwelt bilden<br />
soziale Beziehungen, zunächst zu den<br />
Eltern, später auch zu anderen Kindern.<br />
Im schwedischen Bildungswesen<br />
wird das Verständnis von der kindlichen<br />
Lern-Welt-Konstruktion konsequent<br />
umgesetzt. Zuallererst darin,<br />
dass man Kindern Spielräume<br />
gibt. In Ekbacken hat jede der fünf<br />
Gruppen, bestehend aus 10 bis 16<br />
Kindern, deren drei: einen Raum<br />
fürs grobe Handwerken, einen Raum<br />
fürs feine Malen und Geschichten<br />
lesen und einen Raum fürs Ausruhen,<br />
Kuscheln und Schlafen. Und für<br />
alle noch einen Tobe- und einen Essensraum.<br />
Es ist alles da, was das Kinderherz<br />
begehrt und was Geist und<br />
Sinn brauchen. Aquarium, Terrarium,<br />
Computer, Lego, Bücher, Stifte<br />
und Papier. Nur eines fehlt: Ordnung.<br />
Weil es keinen Stundenplan<br />
gibt mit genauer Zeiteinteilung für<br />
Malen und Basteln, Geschichten lesen<br />
und Burgen bauen, ist immer<br />
alles gleichzeitig in Bewegung. Und<br />
die 16 Erzieherinnen und Erzieher,<br />
die für die insgesamt 69 Kinder da<br />
sind, auch. Das ist das spezielle und<br />
besondere Ordnungssystem, kleine<br />
Gruppen von Kindern und verlässliche<br />
Beziehungen zu den Erwachsenen.<br />
Eine Erzieherin oder ein Erzieher<br />
ist für vier Kinder da. Diese stabile<br />
Beziehung gewährleistet, dass die<br />
Welt der Kinder nicht aus den Fugen<br />
gerät und man Wagnisse eingehen<br />
kann, weil man weiß, dass der<br />
Absturz nicht weh tut. Laufen lernen<br />
geschieht in der Zeit zwischen<br />
dem Aufstehen und dem Hinfallen.<br />
Aber nur dann, wenn jemand da ist,<br />
der einem beim Wiederaufstehen<br />
hilft und einen ermutigt, weiter zu<br />
laufen. So bilden die sozialen Beziehungen<br />
die Ordnung zwischen den<br />
Menschen, die wichtiger ist als die<br />
Ordnung zu den Sachen.<br />
Mut zum Risiko<br />
Das besondere an Ekbacken ist das<br />
große, leicht abschüssige Außengelände.<br />
Der kundige Blick des deutschen<br />
Besuchers sucht eines vergebens:<br />
die Rutschbahn, das Klettergerüst,<br />
die Schaukel. Statt dessen<br />
große Bäume, selbst gezimmerte<br />
Hütten, Steinhaufen zum Klettern<br />
16 <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 3-4 /2002