10.11.2013 Aufrufe

GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz

GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz

GEW-ZEITUNG Rheinland-Pfalz

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Schwerpunkt<br />

Wie Kinder ihren Lernweg finden<br />

Eindrücke aus dem schwedischen Kindergarten<br />

- Von Bernhard Eibeck -<br />

Alles da, was das<br />

Kinderherz begehrt.<br />

Foto: Seifert<br />

„Gestern Vormittag haben sie ein<br />

Krankenhaus gebaut. Die Katze von<br />

einem Kind hatte sich am Fuß verletzt<br />

und brauchte Hilfe. Am Nachmittag<br />

wollten sie Feuerwehr spielen<br />

und haben das Haus angezündet.“<br />

Jan Andersens Antwort auf die<br />

Frage aus der <strong>GEW</strong>-Gruppe, was die<br />

Kinder den ganzen Tag über so machen,<br />

war ganz einfach.<br />

Acht Journalisten, Erziehungswissenschaftler<br />

und <strong>GEW</strong>-Hauptvorständler<br />

besuchten im Rahmen einer<br />

fünftägigen Expedition ins<br />

PISA-Wunderland Schweden die<br />

Stockholmer Kindertagesstätte -<br />

oder wie es dort offiziell heißt die<br />

„Pre-School“ - Ekbacken.<br />

Den Kopf voll mit schweren Fragen<br />

nach Konzepten frühkindlicher Pädagogik<br />

und des Lernens stießen sie<br />

immer wieder auf das gleiche Phänomen:<br />

Die Schweden verstanden sie<br />

gar nicht. So auch Jan Andersen, der<br />

Erzieher. Kinder lernen im Leben.<br />

Und da es ihr Leben ist, lernen sie<br />

so, wie es in ihr Leben passt.<br />

Für ihn besteht die Umsetzung des<br />

Pre-School Curriculums, das es in<br />

Schweden als verbindliche Vorgabe<br />

für alle Kindereinrichtungen seit<br />

1998 gibt, nicht aus didaktisch ausgearbeiteten<br />

Lernzielen, die es in einer<br />

bestimmten Zeit zu erreichen<br />

gilt, sondern daraus, Kindern Entwicklungsräume<br />

zu eröffnen, in denen<br />

sie ihre eigenen Lernwege gehen.<br />

Wenn es im Curriculum heißt, dass<br />

Kinder die Fähigkeit entwickeln sollen,<br />

„Mathematik in sinnvollen Zusammenhängen<br />

mit Situationen zu<br />

entdecken und zu benutzen“, dann<br />

bleibt offen, ob und wann sie in welchem<br />

Zahlenraum subtrahieren oder<br />

multiplizieren gelernt haben müssen.<br />

Manche Kinder rechnen schon mit<br />

vier Jahren bis 30, andere können<br />

Zahlenreihen auf Englisch.<br />

Curriculare Konstruktionen<br />

Prof. Dr. Gunnila Dahlberg vom<br />

Stockholmer Lehrerbildungsinstitut,<br />

an dem auch das Personal der Kindertagesstätten,<br />

die „Pre-School<br />

Teacher“, ausgebildet wird, erklärt<br />

den Hintergrund dieser besonderen<br />

Lernphilosophie. Kinder lernen<br />

nicht, weil Erwachsene sie etwas lehren.<br />

Die Lernleistung des Kindes<br />

besteht vielmehr darin, aus der Vielzahl<br />

der Eindrücke, die aus der Umwelt<br />

auf sie einströmen, das herauszufiltern,<br />

was sie für die Konstruktion<br />

ihrer persönlichen Wirklichkeit<br />

brauchen. Lernen ist Konstruktion,<br />

Bildung ist immer Selbstbildung.<br />

Das wusste schon Jean Piaget, dessen<br />

Forschungen aus den 50er Jahren<br />

in letzter Zeit um neue Ergebnisse<br />

aus der Hirnforschung, der<br />

Lern- und der Entwicklungspsychologie<br />

erweitert wurden. Schon ein<br />

Säugling lernt auf diese Weise, dass<br />

er beständig neue Eindrücke macht,<br />

sie mit Bekanntem abgleicht und<br />

seine Welt entdeckend konstruiert.<br />

Den Rahmen dieser Lernwelt bilden<br />

soziale Beziehungen, zunächst zu den<br />

Eltern, später auch zu anderen Kindern.<br />

Im schwedischen Bildungswesen<br />

wird das Verständnis von der kindlichen<br />

Lern-Welt-Konstruktion konsequent<br />

umgesetzt. Zuallererst darin,<br />

dass man Kindern Spielräume<br />

gibt. In Ekbacken hat jede der fünf<br />

Gruppen, bestehend aus 10 bis 16<br />

Kindern, deren drei: einen Raum<br />

fürs grobe Handwerken, einen Raum<br />

fürs feine Malen und Geschichten<br />

lesen und einen Raum fürs Ausruhen,<br />

Kuscheln und Schlafen. Und für<br />

alle noch einen Tobe- und einen Essensraum.<br />

Es ist alles da, was das Kinderherz<br />

begehrt und was Geist und<br />

Sinn brauchen. Aquarium, Terrarium,<br />

Computer, Lego, Bücher, Stifte<br />

und Papier. Nur eines fehlt: Ordnung.<br />

Weil es keinen Stundenplan<br />

gibt mit genauer Zeiteinteilung für<br />

Malen und Basteln, Geschichten lesen<br />

und Burgen bauen, ist immer<br />

alles gleichzeitig in Bewegung. Und<br />

die 16 Erzieherinnen und Erzieher,<br />

die für die insgesamt 69 Kinder da<br />

sind, auch. Das ist das spezielle und<br />

besondere Ordnungssystem, kleine<br />

Gruppen von Kindern und verlässliche<br />

Beziehungen zu den Erwachsenen.<br />

Eine Erzieherin oder ein Erzieher<br />

ist für vier Kinder da. Diese stabile<br />

Beziehung gewährleistet, dass die<br />

Welt der Kinder nicht aus den Fugen<br />

gerät und man Wagnisse eingehen<br />

kann, weil man weiß, dass der<br />

Absturz nicht weh tut. Laufen lernen<br />

geschieht in der Zeit zwischen<br />

dem Aufstehen und dem Hinfallen.<br />

Aber nur dann, wenn jemand da ist,<br />

der einem beim Wiederaufstehen<br />

hilft und einen ermutigt, weiter zu<br />

laufen. So bilden die sozialen Beziehungen<br />

die Ordnung zwischen den<br />

Menschen, die wichtiger ist als die<br />

Ordnung zu den Sachen.<br />

Mut zum Risiko<br />

Das besondere an Ekbacken ist das<br />

große, leicht abschüssige Außengelände.<br />

Der kundige Blick des deutschen<br />

Besuchers sucht eines vergebens:<br />

die Rutschbahn, das Klettergerüst,<br />

die Schaukel. Statt dessen<br />

große Bäume, selbst gezimmerte<br />

Hütten, Steinhaufen zum Klettern<br />

16 <strong>GEW</strong>-Zeitung <strong>Rheinland</strong>-<strong>Pfalz</strong> 3-4 /2002

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!