Ausgabe 2/2013 - Deutsche Olympische Gesellschaft
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Ein Weg durchs Jahrhundert:<br />
Ulrich Inderbinen – Der König der Alpen<br />
Carlo von Opels Erinnerungen an einen Bergkameraden<br />
Ludwig reichte Ulrich das Seil für den Klettergurt. Beide<br />
hatten gemütlich gefrühstückt. Ihnen war die Hektik<br />
fremd, von der allmorgendlich die Hörnli-Hütte<br />
beherrscht wurde. Für Viele war es ein Lebensziel – das Matterhorn,<br />
4.478 Meter, Fels, Geröll, Eis und Schnee. Sie gingen<br />
in die Kälte, hatten ihre Stirnlampen auf. Erst in einer Stunde<br />
würde sich die Morgensonne am Gipfel zeigen. Schon bald<br />
war das erste Fixseil erreicht: Mit den Armen hochziehen, die<br />
Beine suchen Halt. Noch rund 1.200 Meter lagen vor ihnen.<br />
Kein Meter konnte normal begangen werden. Jahr für Jahr<br />
gibt es tragische Unfälle. Nach etwa zwei Stunden erreichten<br />
sie die Solvay-Schutzhütte. Nicht alle, die dort rasten, setzen<br />
den Aufstieg fort.<br />
„Gelangweilt habe ich mich nie“, sagte Ulrich in einem AP-<br />
Interview und fügte mit einem Schalk in den Augen hinzu:<br />
„…höchstens dann, wenn meine Kunden zu langsam marschiert<br />
sind.“ Gäste, die ihn nicht kannten, fragten schon mal<br />
im Bergführerbüro, ob sie nicht einen jüngeren Führer<br />
bekommen könnten, und hinterher beklagten sie sich, weil<br />
Ulrich so schnell gegangen sei. „Bei meinen Kollegen bin ich<br />
dafür bekannt, dass ich nicht anhalten mag, bevor ich mein<br />
Ziel erreicht habe.“ – „Stress und Eile“, fügte er hinzu, „sind<br />
mir unbekannt. Ich lebe, wie ich klettere, mit langsamen und<br />
wohlüberlegten Schritten.“<br />
„Ich bin“, so pflegte er stolz zu sagen, „die einzige Person in<br />
Zermatt, die kein Telefon hat.“ Kunden, die mit ihm in Verbindung<br />
treten wollten, konnten ihn am frühen Nachmittag in<br />
der Kirchgasse antreffen oder über das Bergsteigerbüro<br />
buchen.<br />
Die Solvay-Hütte liegt auf 4.000 Meter – und weiter ging’s,<br />
das Steilste lag noch vor ihnen, die sogenannte Schulter<br />
musste geklettert werden. Für die oft recht zahlreichen Bergsteiger<br />
wurden Fixseile angebracht. Vor diesen bildete sich<br />
manchmal ein Stau, vor allem dann, wenn die ersten vom<br />
Gipfel herunter kamen. Die Luft wurde dünner, und es wurde<br />
empfindlich kälter. Sie erreichten den steilen Schneegrat, der<br />
sich zum Gipfel zieht und meistens nur mit Steigeisen zu<br />
begehen ist. Nach normalen 4 Stunden standen sie auf dem<br />
imposanten Gipfel, von dem es nach beiden Seiten 1.000<br />
Meter steil bis senkrecht abfallend ins Tal geht. Beim Abstieg<br />
passieren die meisten Unfälle, weil Kraft und Konzentration<br />
nachlassen. Es war das erste Mal, dass Ulrich bei einem Führerkollegen<br />
am Seil war, er selbst hatte 360 Menschen aufs<br />
Matterhorn geführt. Die ganze Tour bereitete den beiden<br />
keinerlei Schwierigkeiten. Ludwig Imhofen reichte Ulrich die<br />
Hand – Ulrich Inderbinen – er war 90 Jahre alt.<br />
Am 3. Dezember 1900 erblickte er in Zermatt als eines von 9<br />
Kindern das Licht der Welt. Noch bis 1995 führte er Gäste<br />
aufs Breithorn. Im 96. Lebensjahr stehend, hielt Inderbinen in<br />
seiner Biographie fest: „Meine gute Gesundheit habe ich<br />
meiner positiven Lebenseinstellung, der Freude an der Natur<br />
und meinem Beruf zu verdanken. Als Kind lernte ich mit<br />
wenig zufrieden zu sein, keine Forderungen an das Leben zu<br />
stellen und immer zu arbeiten.<br />
Die erste Begegnung mit ihm hatte ich bei einer Besteigung<br />
des Castor, ein leichter 4.000er in unmittelbarer Nachbarschaft<br />
des Pollux, der etwa die gleiche Anforderung stellt: So<br />
etwa 500 Höhenmeter, Anstieg mit Ski, dann der ausgesetzte<br />
Gipfelgrat zu Fuß. Inderbinen, auf dem Pollux unterwegs,<br />
benötigte mit seinen damals 83 Jahren genau die gleiche Zeit<br />
wie ich, der sein Enkel sein könnte. Hätte er nicht einen Gast<br />
dabei gehabt, wäre er sicherlich noch schneller gewesen.<br />
Mich hat das damals sehr beeindruckt.<br />
Inderbinen hätte auch einen anderen Weg zum Geldverdienen<br />
finden können. Aber er ging seinen Weg, der an seiner<br />
Haustür begann und meist steil bergauf führte. Er erlebte, wie<br />
die ersten Glühbirnen eingeschaltet wurden, die ersten Fernsprecher<br />
klingelten, die ersten Kraftdroschken das kleine<br />
Bergdorf erreichten und die Musik auf einmal aus dem Rundfunkgerät<br />
kam. Die Kinder gingen im Sommer barfuß zur<br />
Schule, von den Bäuerinnen wurde noch gesponnen, gewebt,<br />
gegerbt. Die Almen wurden bis zum Fels gemäht und das Heu<br />
ins Tal gezogen. Der Skifahrer musste vor der Abfahrt seine<br />
Ski und sich selbst den Berg hinauftragen. Und wo einst der<br />
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