Erziehungsverständnisse in evangelikalen ... - Bieler Tagblatt
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Verständnis geht es aber weniger um diese letzten (biblischen) Pr<strong>in</strong>zipien selbst. Im Vordergrund steht die<br />
Unterwerfung unter die höchste Autorität. Im Erziehungsleitbild zeigt sich die Geschlossenheit der Weltsicht<br />
dar<strong>in</strong>, dass das K<strong>in</strong>d ausschliesslich aus der Fremdperspektive wahrgenommen wird. Es wird nie vom K<strong>in</strong>d<br />
und se<strong>in</strong>en Bedürfnissen vor se<strong>in</strong>em kognitiven und emotionalen Entwicklungsstand ausgegangen, sondern<br />
immer vom Anspruch der höchsten Autoritäten, sei dies Gott oder seien dies die Eltern und deren Normen.<br />
Diese starre Optik aufs K<strong>in</strong>d verunmöglicht die Erfüllung wesentlicher k<strong>in</strong>dlicher Grundbedürfnisse und ist<br />
auch mit ausgeprägter körperlicher und psychischer Gewalt verbunden.<br />
8.2.1 Welt- und Menschenbild<br />
Die im dogmatisch-machtorientierten Erziehungsverständnis vermittelte Weltsicht ist sehr geschlossen. Den<br />
Kern des Verständnisses bilden letzte biblische Pr<strong>in</strong>zipien, deren Gültigkeit durch den Bezug auf die höchste<br />
göttliche Autorität garantiert werden.<br />
Zentral für das dogmatisch-machtorientierte Verständnis s<strong>in</strong>d aber nicht die biblischen Pr<strong>in</strong>zipien selbst,<br />
sondern die vollständige Unterwerfung unter die höchste Autorität: „Es ist für alle Ewigkeit wichtig, dass<br />
Sie dafür sorgen, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter dem Herrn nicht nur <strong>in</strong>tellektuelle Zustimmung geben.<br />
Christus verlangt vollständige Unterwerfung des Herzens und des Lebens, damit er Wiedergeburt schenkt”<br />
(Ezzo & Ezzo 2006, S. 16).<br />
Die dogmatische Begründung für diese zentrale Überzeugung wird sehr häufig <strong>in</strong> Versen aus dem Buch der<br />
Sprüche, e<strong>in</strong>er Sammlung von Weisheitssprüchen des Alten Testamentes, gefunden.<br />
Aus diesem Erziehungsverständnis spricht die sich ihrer Macht gewisse Stimme der unfehlbaren Autorität:<br />
„Es liegt viel Genugtuung <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>dererziehung. Sie ist leicht und gleichzeitig e<strong>in</strong>e Herausforderung. Als<br />
me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der durchs Zimmer krabbeln konnten (und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall: rollen), begann ich mit e<strong>in</strong>er Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gsstunde”<br />
(Pearl & Pearl 2008, S. 5).<br />
„Rute und Tadel gibt Weisheit; aber e<strong>in</strong> Knabe sich selbst überlassen, macht<br />
se<strong>in</strong>er Mutter Schande” (Spr 29,15 zit. durch Pearl & Pearl 2008, S. 54).<br />
„Züchtige de<strong>in</strong>en Sohn, so wird er dich erquicken und dir Freude machen“ (Spr<br />
29,17 zit. nach Tripp 2009, S. 135).<br />
„Wer se<strong>in</strong>e Rute schont, der hasst se<strong>in</strong>en Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt<br />
ihn bald” (Spr 13,24 zit. nach Pearl & Pearl 2008, S. 43).<br />
„Züchtige de<strong>in</strong>en Sohn, solange Hoffnung da ist; aber lass de<strong>in</strong>e Seele nicht<br />
bewegt werden, ihn zu töten” (Spr 19,18, LUT als Referenz angegeben von Ezzo<br />
& Ezzo 2006, S. 166).<br />
Tabelle 4: Beispiele von zitierten Versen aus dem Buch der Sprüche<br />
Diese Selbstsicherheit wird begleitet<br />
von e<strong>in</strong>em holzschnittartigen Weltund<br />
Menschenbild. Vom K<strong>in</strong>d sche<strong>in</strong>t<br />
nur das auf, was mit dem Pr<strong>in</strong>zip der<br />
Unterwerfung <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht<br />
werden kann. E<strong>in</strong> illustratives Beispiel<br />
dafür f<strong>in</strong>det sich bei Tripp<br />
(2009). Im Kapitel „Vom Säugl<strong>in</strong>gsalter<br />
bis zum K<strong>in</strong>desalter: Erziehungsziele”<br />
(ebd. S. 158ff) beschreibt er<br />
auf knapp zwei Seiten sehr stark<br />
vere<strong>in</strong>fachend die Veränderungen,<br />
die bei e<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dieser Phase zu beobachten s<strong>in</strong>d. Im sozialen Bereich s<strong>in</strong>d dies nach Tripp folgende:<br />
„Die soziale Veränderung des K<strong>in</strong>des ist nicht m<strong>in</strong>der radikal. Die erste soziale Beziehung hat das K<strong>in</strong>d zu<br />
se<strong>in</strong>er Mutter. Bald wird der Kreis der vertrauten Personen auf die anderen Familienmitglieder erweitert. Das<br />
K<strong>in</strong>d erwirbt sich se<strong>in</strong>e persönliche Art und Weise, wie es mit anderen umgeht. Es lernt, wie es sich bei anderen<br />
beliebt machen kann. Es lernt, wie es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er stets grösser werdenden Welt <strong>in</strong> sozialen Beziehungen<br />
Anerkennung bekommt. Mit vier oder fünf Jahren wird es eigene Freunde haben” (ebd. S. 159).<br />
Worum es dem Autor aber wirklich geht, s<strong>in</strong>d nicht die e<strong>in</strong>zelnen Veränderungen, sondern Veränderung per<br />
se: „Dieser Zeitraum kann mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Wort beschrieben werden – Veränderung” (Tripp 2009). Und<br />
diese ist bedrohlich: „Bei so tief greifenden Veränderungen <strong>in</strong>nerhalb kürzester Zeit verliert man leicht das<br />
Ziel aus den Augen [...] Du brauchst e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges, umfassendes Erziehungsziel [...]” (ebd., S. 160). Bereits <strong>in</strong><br />
den ersten Regungen des Babys und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>des ist die Möglichkeit des Verstosses gegen das letzte Pr<strong>in</strong>zip<br />
angelegt. Die raschen Veränderungen lassen nämlich erahnen, dass hier e<strong>in</strong> Subjekt am Entstehen ist mit<br />
eigenen Antrieben, Bedürfnissen und Zielen. Von dieser Eigendynamik kommen vor allem Aspekte <strong>in</strong>s Blickfeld,<br />
die den Bereich der Über- und Unterordnung betreffen. Bereits das kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>d wisse, wie man die anderen<br />
manipulieren kann, <strong>in</strong>dem man sich bei ihnen beliebt macht. Es ist deshalb zentral, dass die Unterwerfung<br />
des K<strong>in</strong>des unter e<strong>in</strong>e höhere Autorität schon <strong>in</strong> der ersten Phase durchgesetzt wird: „Die allerwichtigs-<br />
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