Erziehungsverständnisse in evangelikalen ... - Bieler Tagblatt
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Beim autoritativ-dogmatischen Erziehungsverständnis gibt es Elemente, die nicht <strong>in</strong> die Gesamtlogik des<br />
vertretenen, eher offenen Erziehungsansatzes passen. Diese Widersprüche ergeben sich aus zwei unvere<strong>in</strong>baren<br />
Zielen: E<strong>in</strong>erseits soll das K<strong>in</strong>d zu Selbstbestimmung und Autonomie h<strong>in</strong>geführt werden, andererseits<br />
zu e<strong>in</strong>em Glauben an Gott nach evangelikaler Denkart. Vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieses <strong>Erziehungsverständnisse</strong>s<br />
werden k<strong>in</strong>dliche Grundbedürfnisse grossenteils wahrgenommen, der Erziehungsstil ist warm<br />
und zugewandt – es gibt aber E<strong>in</strong>schränkungen. Diese stehen im Zusammenhang mit <strong>evangelikalen</strong> Setzungen<br />
(„Nur wer an Gott glaubt, ist erlöst“, „Homosexualität ist Sünde”, „Das ‘sündige’ K<strong>in</strong>d” u.a.). E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d,<br />
das an der Existenz Gottes zweifelt, kann dadurch <strong>in</strong> grösste Not kommen. Und Jugendliche, die feststellen,<br />
dass sie homosexuell s<strong>in</strong>d, bef<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sche<strong>in</strong>bar ausweglosen Situation. Oft hat auch die Glaubensvermittlung<br />
selbst e<strong>in</strong>en manipulativen Charakter, weil letzte Wahrheiten nicht h<strong>in</strong>terfragbar s<strong>in</strong>d. Bei<br />
verschiedenen Ratgebern, die dem autoritativ-dogmatischen Erziehungsverständnis zugeordnet werden,<br />
kommen auch Formen von körperlicher Gewalt vor. Selbstbestimmung und Autonomie ist bei diesem Erziehungsverständnis<br />
häufig nur um den Preis grosser Schuldgefühle möglich.<br />
Die Bedürfnisse des K<strong>in</strong>des aber auch der Eltern stehen beim autoritativ-partizipativen Erziehungsverständnis<br />
im Zentrum. Erziehung wird <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie als Beziehung verstanden. Eltern werden Hilfen vermittelt,<br />
damit sie das Beziehungsgeschehen mit ihren K<strong>in</strong>dern zusammen positiv gestalten können. Problematisches<br />
Verhalten wird nicht bewertet, sondern zunächst zu verstehen versucht. Der dabei berücksichtigte<br />
Kontext ist sehr weit und schliesst immer auch die Reflexion elterlicher Anteile mit e<strong>in</strong>. Durch das konsequente<br />
E<strong>in</strong>nehmen der k<strong>in</strong>dlichen Perspektive wird auf die Grundbedürfnisse des K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>gegangen und<br />
Formen von Gewalt entgegengewirkt. Nach diesem Erziehungsverständnis sollen Eltern ihren Glauben vertreten<br />
und ihn ihren K<strong>in</strong>dern vermitteln. Gleichzeitig werden die K<strong>in</strong>der aber ermutigt, auch bezüglich letzter<br />
Fragen ihre eigenen Überzeugungen auszubilden.<br />
Zwei Beispiele für solche modernen Programme vor christlichem H<strong>in</strong>tergrund s<strong>in</strong>d PEP4Kids und<br />
PEP4Teens. Wie andere empfehlenswerte Ratgeber und Erziehungsprogramme (s. Empfehlungen der Stiftung<br />
K<strong>in</strong>derschutz Schweiz, S. 39) setzen sie bei den Ressourcen von Eltern und K<strong>in</strong>dern an. Sie erfreuen<br />
sich <strong>in</strong> <strong>evangelikalen</strong> Kreisen <strong>in</strong> der Schweiz grosser Beliebtheit, Interessierte können sich zu Tra<strong>in</strong>ern ausbilden<br />
lassen.<br />
Autoritativ-partizipatives Erziehungsverständnis und evangelikaler Glaube<br />
Hier stellt sich die Frage, ob e<strong>in</strong>e „Erziehung aus dem Glauben”, d.h. e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> den Glauben bei<br />
gleichzeitiger Förderung der kritischen Autonomie vor evangelikalem H<strong>in</strong>tergrund möglich ist. Oder ganz<br />
grundsätzlich: Ist e<strong>in</strong> autoritativ-partizipatives Erziehungsverständnis vere<strong>in</strong>bar mit evangelikalem Glauben,<br />
dessen zentrale Annahme lautet: Der Mensch kann sich frei für Gott entscheiden, entscheidet er sich aber<br />
gegen ihn, ist er für immer verloren?<br />
Auch wenn evangelikaler Glaube wenig dogmatisch praktiziert wird, basiert er doch auf dogmatischen<br />
Setzungen: Menschen s<strong>in</strong>d errettet oder verloren, sie entscheiden sich für oder gegen Gott. Der Preis für<br />
Autonomie und kritisches H<strong>in</strong>terfragen geht nach evangelikaler Doktr<strong>in</strong> mit der Gefahr ewiger Verlorenheit<br />
e<strong>in</strong>her. Der Zielkonflikt zwischen Autonomie und Glauben, der sich <strong>in</strong> der Erziehung zeigt, sche<strong>in</strong>t <strong>in</strong> den<br />
zentralen <strong>evangelikalen</strong> Setzungen selbst angelegt.<br />
Wie schwer kritische Autonomie im Kontext <strong>evangelikalen</strong> Glaubens grundsätzlich fällt, zeigt sich u.a. <strong>in</strong><br />
der Verbreitung von hochproblematischen Ratgebern wie jenem von Tedd Tripp auch <strong>in</strong> gemässigten <strong>evangelikalen</strong><br />
Geme<strong>in</strong>schaften. Der kritische Reflex nach aussen, gegen alles „Weltliche”, funktioniert nicht nach<br />
<strong>in</strong>nen – und die Referenz auf geme<strong>in</strong>sam geteilte christliche Werte führt dazu, dass K<strong>in</strong>dsmisshandlung<br />
nicht als solche erkannt werden kann.<br />
Dass das Bedürfnis von evangelikal gläubigen Eltern und Erziehungspersonen nach Ratgebern und Kursen<br />
gross ist, welche zu e<strong>in</strong>er Erziehung anleiten, <strong>in</strong> der sich Autonomie und Glaube nicht ausschliessen, zeigt<br />
die Nachfrage nach den PEP-Programmen. Damit e<strong>in</strong>e die k<strong>in</strong>dliche Autonomie fördernde Entwicklung aus<br />
dem Glauben möglich ist, müsste jedoch h<strong>in</strong>ter evangelikale Setzungen zurückgegangen werden – ob sich<br />
dessen die NutzerInnen und Tra<strong>in</strong>er von PEP-Programmen bewusst s<strong>in</strong>d, ist fraglich.<br />
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