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Erziehungsverständnisse in evangelikalen ... - Bieler Tagblatt

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10 Fazit<br />

Es war das Thema körperliche und psychische Gewalt an K<strong>in</strong>dern <strong>in</strong> Zusammenhang mit Erziehungsratgebern,<br />

das die Fachstelle <strong>in</strong>foSekta <strong>in</strong> Zusammenarbeit mit der Stiftung K<strong>in</strong>derschutz Schweiz zur vorliegenden<br />

Studie veranlasste. Presseberichte, die aufhorchen liessen, besorgniserregende Anfragen sowie die<br />

Diskussionen zum Thema der „richtigen” Erziehung <strong>in</strong>nerhalb evangelikaler Geme<strong>in</strong>schaften, haben die<br />

beiden Organisationen bewogen, sich mit dem Thema Gewalt <strong>in</strong> <strong>evangelikalen</strong> Erziehungsratgebern vertieft<br />

ause<strong>in</strong>anderzusetzen.<br />

Vier <strong>Erziehungsverständnisse</strong><br />

Für diese Studie wurde e<strong>in</strong>e Auswahl von 21 besonders verbreiteten, problematischen oder e<strong>in</strong>flussreichen<br />

<strong>evangelikalen</strong> Erziehungsratgebern und -kursen kritisch rezensiert. Es wurde deutlich, dass es nicht die<br />

„christliche” oder „evangelikale” Erziehung gibt, sondern unter diesem Begriff e<strong>in</strong>e grosse Bandbreite<br />

von Ansätzen zu f<strong>in</strong>den ist.<br />

In e<strong>in</strong>er vergleichenden Analyse wurden Idealtypen von <strong>Erziehungsverständnisse</strong>n herausgearbeitet: das<br />

dogmatisch-machtorientierte, das dogmatisch-wahrheitsorientierte, das autoritativ-dogmatische und das<br />

autoritativ-partizipative Erziehungsverständnis. Der Hauptunterschied zwischen den <strong>Erziehungsverständnisse</strong>n<br />

besteht <strong>in</strong> der Perspektive, welche gegenüber dem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>genommen wird. Bei den beiden dogmatischen<br />

<strong>Erziehungsverständnisse</strong>n wird das K<strong>in</strong>d aus der Optik höchster göttlicher Pr<strong>in</strong>zipien betrachtet. Die<br />

ganze Erziehung wird auf diese Pr<strong>in</strong>zipien ausgerichtet. Bei den autoritativen Verständnissen wird pr<strong>in</strong>zipiell<br />

vom K<strong>in</strong>d und se<strong>in</strong>en Bedürfnissen her gedacht.<br />

In den Ratgebern, die den dogmatischen <strong>Erziehungsverständnisse</strong>n zugeordnet werden, wurden mehr Phänomene<br />

von körperlicher und psychischer Gewalt gefunden. H<strong>in</strong>ter diesen beiden dogmatischen <strong>Erziehungsverständnisse</strong>n<br />

stehen unterschiedliche letzte Pr<strong>in</strong>zipien: Beim dogmatisch-machtorientierten Erziehungsverständnis<br />

steht die Unterwerfung unter e<strong>in</strong>e Autorität im Vordergrund, beim dogmatischenwahrheitsorientierten<br />

Erziehungsverständnis die Umgestaltung des K<strong>in</strong>des <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Ideal.<br />

Die angetroffenen Formen und die Intensität der gegen das K<strong>in</strong>d gerichteten Gewalt <strong>in</strong> Ratgebern, welche<br />

dem dogmatisch-machtorientierten Erziehungsverständnis zugeordnet wurden, s<strong>in</strong>d erschreckend: Ritualisierte<br />

körperliche Gewalt <strong>in</strong> Form von körperlicher Züchtigung, Herabsetzungen, <strong>in</strong>konsistente Botschaften,<br />

Terrorisieren bis h<strong>in</strong> zum gezielten Brechen des Willens des K<strong>in</strong>des. Um den Machtanspruch über das<br />

K<strong>in</strong>d zu legitimieren, werden christliche Inhalte herangezogen. Die Erziehung richtet sich gegen das k<strong>in</strong>dliche<br />

Autonomiemotiv und damit gegen den Kern des k<strong>in</strong>dlichen Se<strong>in</strong>s. K<strong>in</strong>dliche Grundbedürfnisse werden<br />

systematisch negiert, das K<strong>in</strong>d wird <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Identitätsentwicklung massiv beh<strong>in</strong>dert. Die Folgen dieser Formen<br />

von Gewalt s<strong>in</strong>d existentiell.<br />

Zwei der hochproblematischen Ratgeber, welche diesem Erziehungsverständnis zugeordnet wurden, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

der Schweiz <strong>in</strong> <strong>evangelikalen</strong> Kreisen immer noch verbreitet: Erziehung nach Gottes Plan von Ezzo und<br />

Ezzo (2006) dient <strong>in</strong> mehreren Geme<strong>in</strong>schaften als Kursgrundlage. Auch der Ratgeber Eltern – Hirten der<br />

Herzen von Tedd Tripp (2009) f<strong>in</strong>det sich immer noch auf Literaturlisten evangelikaler Geme<strong>in</strong>schaften.<br />

Aber auch das Gewaltpotential bei den Ratgebern mit dogmatisch-wahrheitsorientiertem Erziehungsverständnis<br />

ist sehr hoch. Das hat damit zu tun, dass das K<strong>in</strong>d zu e<strong>in</strong>em Ideal h<strong>in</strong>gelenkt werden soll. K<strong>in</strong>dliche<br />

Grundbedürfnisse werden nur <strong>in</strong>sofern (an-)erkannt, als sie diesem Ideal entsprechen. Das K<strong>in</strong>d wird <strong>in</strong><br />

erster L<strong>in</strong>ie unter dem Aspekt der Abweichung von diesem Ideal verstanden. Entsprechend dom<strong>in</strong>iert auch<br />

der lenkende, dirigistische Aspekt, Erziehung zielt darauf, das Bedürfnis des K<strong>in</strong>des nach (Selbst-)Wirksamkeit<br />

zu „kanalisieren”. Dadurch wird das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em autonomen Erleben beschnitten, se<strong>in</strong> ganzes Leben<br />

und Werden ist auf e<strong>in</strong>e fremde Bestimmung h<strong>in</strong> angelegt. Körperliche Gewalt ist als „letztes Mittel” stets<br />

gegenwärtig. Psychische Gewalt erfährt das K<strong>in</strong>d durch dauernde Entwertung (weil es nicht dem „Ideal”<br />

entspricht), konstante Manipulation <strong>in</strong> Richtung e<strong>in</strong>es fremden Wollens und durch die allgegenwärtigen<br />

Glaubens<strong>in</strong>halte (ewiges Verlorense<strong>in</strong>) selbst. Die Folgen dieser Formen von Gewalt s<strong>in</strong>d ebenfalls existentiell.<br />

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