Erziehungsverständnisse in evangelikalen ... - Bieler Tagblatt
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dieses Verständnis hat zur Konsequenz, dass das K<strong>in</strong>d ausschliesslich aus der Fremdperspektive wahrgenommen<br />
wird. Es wird kaum vom K<strong>in</strong>d und se<strong>in</strong>en Bedürfnissen ausgegangen, sondern immer vom Ideal, zu<br />
welchem das K<strong>in</strong>d werden soll. Wie beim machtorientierten Typ verh<strong>in</strong>dert diese Sichtweise die Erfüllung<br />
wesentlicher k<strong>in</strong>dlicher Grundbedürfnisse und ist auch mit dem Vorkommen von körperlicher und psychischer<br />
Gewalt an K<strong>in</strong>dern verbunden.<br />
8.3.1 Welt- und Menschenbild<br />
Die Weltsicht des dogmatisch-wahrheitsorientierten <strong>Erziehungsverständnisse</strong>s ist geschlossen. Biblische<br />
Pr<strong>in</strong>zipien stehen <strong>in</strong> ihrem Zentrum. Im Gegensatz zum dogmatisch-machtorientierten Verständnis s<strong>in</strong>d die<br />
Inhalte dieser Pr<strong>in</strong>zipien von zentraler Bedeutung. Sie stellen e<strong>in</strong> Ideal dar, auf das h<strong>in</strong> alle erzieherischen<br />
Bemühungen ausgerichtet werden sollen. Gemäss der für dieses Verständnis typischen Überzeugung, muss<br />
das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> das Bild Gottes umgestaltet werden: „Was genau ist Ihr Ziel. Für Sie als christliche Eltern gibt<br />
es auf diese Frage nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Antwort – und die steht <strong>in</strong> der Bibel. Sie sollten für Ihre K<strong>in</strong>der dasselbe<br />
höchste Ziel haben wie der Apostel Paulus für se<strong>in</strong>e geistlichen K<strong>in</strong>der: dass sie <strong>in</strong> das Ebenbild Christi umgestaltet<br />
werden” (Priolo 2009, S. 9). Diese Umgestaltung ist nur durch die Übernahme des elterlichen Glaubens<br />
möglich.<br />
Im Gegensatz zum machtorientierten Verständnis basiert die Sicherheit und Gewissheit, welche dieses Verständnis<br />
auszeichnet, weniger auf der Macht e<strong>in</strong>er höheren Autorität als auf der Wahrheit. Das Problem<br />
aller philosophischen und wissenschaftlichen Verständnisbemühungen besteht aus wahrheitsorientierter<br />
Sicht dar<strong>in</strong>, dass der Mensch sich vermittels der Vernunft nicht selber erkennen kann. Dobson (2012) spricht<br />
im Zusammenhang mit der „Natur der K<strong>in</strong>der” von der Bibel als „Eigentümer-Handbuch”: „Nur der Schöpfer<br />
der K<strong>in</strong>der kann uns sagen, wie er sie gemacht hat, und das hat er <strong>in</strong> der Bibel getan” (Dobson 2012, S. 22).<br />
Zwar ist Gehorsam auch <strong>in</strong> diesem Verständnis zentral, er stellt aber nicht das angestrebte Ziel selbst dar,<br />
sondern e<strong>in</strong>e Vorbed<strong>in</strong>gung für dessen Erreichen. So schildert Paul David Tripp (Tripp, P.D. 2009, S. 26)<br />
e<strong>in</strong>en Vater, der alles versucht hatte, um se<strong>in</strong>e Tochter zur Unterordnung zu br<strong>in</strong>gen. An diesen Vater richtet<br />
er die folgenden Worte: „Ist Respekt etwas Gutes? Natürlich! Sollten Eltern ihren K<strong>in</strong>dern diese Eigenschaft<br />
beibr<strong>in</strong>gen? Ja! Aber ich darf davon nicht völlig beherrscht werden, denn sonst werde ich D<strong>in</strong>ge persönlich<br />
nehmen, die gar nicht persönlich geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d; ich werde me<strong>in</strong>e Rolle als Repräsentant Gottes aus dem<br />
Auge verlieren, und ich werde etwas erkämpfen, und fordern wollen, was nur Gott bewirken kann” (Tripp,<br />
P.D. 2009).<br />
Wenn das bereits beim dogmatisch-machtorientierten Erziehungsverständnis erwähnte Buch der Sprüche<br />
als Referenz herangezogen wird, ist die Tendenz weniger stark, die Verse als direkte Begründungen für die<br />
körperliche Züchtigung auszulegen. Im Mittelpunkt steht eher die göttliche Weisheit: „Das Buch der Sprüche<br />
ist ke<strong>in</strong> Nachschlagewerk über D<strong>in</strong>ge, die wir tun oder lassen sollen, oder das, was richtig oder falsch ist.<br />
Vielmehr vermittelt uns dieses Buch zwei Weltanschauungen, nämlich die Weisheit und die Torheit” (Tripp,<br />
P.D. 2009).<br />
Wie beim dogmatisch-machtorientierten Verständnis wird Glauben als re<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>halten von Gesetzen verurteilt,<br />
K<strong>in</strong>der sollen sich „von sich aus so verhalten wollen, wie es dem Herrn gefällt” (Tripp, P.D. 2009, S. 41).<br />
Im Vordergrund steht die Haltung, das Herz. Auch im dogmatisch-wahrheitsorientierten Erziehungsverständnis<br />
wird der Gew<strong>in</strong>n an Sicherheit durch e<strong>in</strong> stark vere<strong>in</strong>fachtes Welt- und Menschenbild erkauft. Alles<br />
wird aus der Sicht des durch die letzten biblischen Pr<strong>in</strong>zipien gezeichneten Ideals betrachtet. Durch die Reduktion<br />
gehen Facetten der Welt und des menschlichen Se<strong>in</strong>s verloren. Geme<strong>in</strong>samkeiten und Unterschiede<br />
zwischen Phänomenen ausserhalb des Bereichs der „Weisheit” s<strong>in</strong>d irrelevant. Ihre e<strong>in</strong>zige Geme<strong>in</strong>samkeit<br />
bildet die Abweichung.<br />
Im dogmatisch-wahrheitsorientierten Verständnis ist das starre Entweder-Oder der dogmatischen Weltsicht<br />
stärker durch den Gegensatz von Wahrheit vs. Relativismus bzw. Konformität vs. Abweichung geprägt.<br />
Gottesbild<br />
Das höchste Pr<strong>in</strong>zip der Umgestaltung <strong>in</strong> das Bild Gottes ist stark durch die spezifische Betonung gewisser<br />
heilsgeschichtlicher Elemente bestimmt. Die durch den Sündenfall zerstörte harmonische E<strong>in</strong>heit mit Gott<br />
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