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SINFONIK Joseph Haydn: Sinfonien Nr. 90 und 92 G-dur („Oxford“) Heidelberger Sinfoniker, Thomas Fey (2010/11)<br />
Zeitnah statt historisch-distanziert: Ohne Haydns lebenslange Experimentierarbeit wäre die<br />
Händel-Interpretin Lisa Smirnova. Geschichte der Sinfonie anders verlaufen: Trotzdem setzen<br />
die meisten Dirigenten höchstens mal eine seiner späten<br />
„Londoner“ aufs Programm und benutzen es dann<br />
als Aufwärmstück. Eine Komplettaufnahme aller 104<br />
Haydn-Sinfonien in Angriff zu nehmen, mutet da heute<br />
schon fast wie ein Abenteuer an. Die<br />
Zahl abgeschlossener Gesamteinspielungen<br />
kann man an einer Hand abzählen.<br />
Adam Fischer war der Letzte,<br />
dem dies gelang, und er benötigte dafür<br />
<strong>mehr</strong> als ein ganzes Jahrzehnt.<br />
KLANGTIPP<br />
Schon 13 Jahre lang feilt der deutsche<br />
Musik:<br />
Dirigent Thomas Fey mit seinen Heidelberger<br />
Sinfonikern an seinem gro-<br />
Klang:<br />
ßen Haydn-Projekt, und er hat jetzt,<br />
in Folge 16, noch nicht einmal die<br />
Hälfte des riesigen Konvoluts eingespielt.<br />
Die künstlerischen Resultate<br />
dieses bedächtigen Vorgehens aber<br />
können sich hören lassen. Sein Ziel<br />
Hänssler Classic 98.629 (61:26)<br />
Haydns experimenteller Humor<br />
ist es, „Papa Haydn den Zopf abzuschneiden,<br />
den ihm 19. und 20. Jahrhundert<br />
haben wachsen lassen“,<br />
schreibt Fey im Booklet, „und dem<br />
Hörer den großen Experimentator<br />
Haydn mit all der Kühnheit und Schönheit seiner affektgeladenen<br />
Kontrast-Musik bekannt zu machen“. So verfolgt<br />
der vormalige Harnoncourt-Schüler Fey mit seinem<br />
40-köpfigen Ensemble von Anfang an einen „historisch<br />
orientierten“ Interpretationsansatz, der heutigen<br />
Schrieb die Sinfonien 90 und 92 im<br />
Hochgefühl des Weltruhms: Joseph<br />
Haydn (1732-1809), Ölgemälde von<br />
Thomas Hardy (1791).<br />
Hörern mit zügigen Tempi und kontrastreicher Dynamik<br />
die unverbrauchte Modernität Haydns vermitteln<br />
will. Nachdem er sich in den ersten Folgen auf die mittleren<br />
Sinfonien konzentriert hatte, unternimmt er diesmal<br />
einen Vorstoß in die Wunderwelt seiner späten 1788<br />
für Paris komponierten Sinfonien Nr. 90 und 92, die<br />
Haydn, im Hochgefühl wachsenden<br />
Weltruhms, gleich an zwei Auftraggeber<br />
verkaufte. Und auch hier bleibt<br />
Fey seiner forschen Grundlinie treu.<br />
Er verknüpft kammermusikalische,<br />
schlanke Prägnanz mit einer geradezu<br />
elektrisierenden Frische und attackierender<br />
Spiellaune zu einer ungemein<br />
lebendigen und impulsreichen<br />
Interaktion eines „demokratischen“<br />
Kollektivs. So klingen diese späten,<br />
komplex gearbeiteten Meisterwerke<br />
für ein aufgeklärtes großstädtisches<br />
Publikum bei ihm fast radikaler und<br />
experimenteller als bei manchem echten<br />
Originalklangensemble.<br />
Bei all seiner Vorliebe für rasante Tempi<br />
und starke Kontraste ist Thomas<br />
Fey sensibel genug, um auch die<br />
spirituelle Tiefe von Joseph Haydns<br />
asketisch-schönen langsamen Themen auszuloten und<br />
dabei auf den natürlichen Sprachgestus zu achten. Man<br />
kann gespannt sein auf die weiteren Folgen dieser charmant<br />
polternden, spannungsreichen, aufregenden musikalischen<br />
Frischzellenkur.<br />
Attila Csampai<br />
KLASSIK-DVDs<br />
DVD / OPER<br />
Virgin 07095191 (180 Min., 2 DVDs)<br />
Claudio Monteverdi: L’incoronazione di Poppea<br />
de Niese, Jaroussky, Bonitatibus,<br />
Cencic, Abete, Burt,<br />
Lemos, Quintans, Debono,<br />
Bayodi-Hirt u.a., Les Arts<br />
Florissants, Christie;<br />
Regie: Pizzi (2010)<br />
Typ: DVD<br />
Tonformat: DD 2.0, DD 5.1<br />
Sprache: IT<br />
Untertitel: IT, D, E, F, ES<br />
Extras: –<br />
Kunst:<br />
Ton:<br />
Bild:<br />
Nicht nur die Kultur der Antike, auch die Zügellosigkeit<br />
des Alten Rom hat das Opernschaffen<br />
Monteverdis stark inspiriert. Leider spürt<br />
man in Pier Luigi Pizzis Inszenierung der „Poppea“<br />
kaum etwas von dieser Faszination. Anstatt<br />
die Intrigen am Hofe Neros psychologisch<br />
auszuleuchten, konzentriert sich seine Deutung<br />
auf allzu glatte Bühnenbilder und eigenwillige<br />
Kostüme. Und dass der Kaiser bei Pizzi eine<br />
homoerotische Beziehung zum Dichter Lucano<br />
unterhält, macht seine Lesart nicht interessanter.<br />
Umso spannender der musikalische Teil<br />
dieser Produktion aus Madrid: Danielle de<br />
Niese ist eine so delikate wie abgründige Protagonistin,<br />
Philippe Jaroussky ein hinreißend<br />
empfindsamer und differenzierter Nerone. Max<br />
Emanuel Cencic singt einen virtuosen und ausdrucksstarken<br />
Ottone, Anna Bonitatibus eine<br />
glaubhaft verzweifelte Ottavia. Antonio Abete<br />
zeigt Seneca als würdevollen Stoiker. In den Travestierollen<br />
der beiden Ammen sorgen Robert<br />
Burt (Arnalta) und José Lemos für die wenigen<br />
unterhaltsamen Momente des Regiekonzepts.<br />
So weit es die Aufnahme erkennen lässt, kommt<br />
William Christies brillantes Originalklangensemble<br />
ausgezeichnet mit der Akustik des Teatro<br />
Real zurecht und setzt Monteverdis Partitur unter<br />
Hochspannung.<br />
Miquel Cabruja<br />
FOTO: PR<br />
DVD / OPER<br />
Naxos 2.110277-78 (187:28)<br />
Nikolai Rimsky-Korsakow: Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesh und der Jungfrau Fewronja<br />
Monogarova, Kazakov,<br />
Panfilov, Gubsky u.a.; Teatro<br />
Lirico di Cagliari, Vedernikov.<br />
Regie: Nekrošius (2008)<br />
Typ: 2 DVD<br />
Tonformat: 2.0 PCM Stereo /<br />
DTS 5.0<br />
Sprache: RUS<br />
Untertitel: E<br />
Extras: –<br />
Kunst:<br />
Ton:<br />
Bild:<br />
Dies vorab: Diese Empfehlung gilt einem Meisterwerk<br />
der Operngeschichte – dem späten,<br />
1907 in St. Petersburg uraufgeführtem Vierakter<br />
von Nikolai Rimsky-Korsakow, eine Art<br />
russischer Parsifal. Musikalisch ist diese 2008<br />
aufgezeichnete Produktion aus Cagliari <strong>mehr</strong><br />
als achtbar: Das Orchester unter dem Bolshoi-<br />
GMD Alexander Vedernikov wird der raffiniert<br />
instrumentierten Farbigkeit der Partitur absolut<br />
gerecht, der groß besetzte Chor ist klangvoll,<br />
das fast ausschließlich russische Solisten-<br />
Ensemble durchweg beeindruckend – vor allem<br />
Tatiana Monogarovas dunkler Sopran in<br />
der Titelrolle und der majestätische Bass Michail<br />
Kazakovs als Fürst Juri. Die Inszenierung des<br />
litauischen Regisseurs Eimuntas Nekrošius ist<br />
allerdings arg holzschnittartig und grobschlächtig<br />
– kein Vergleich mit der zu Recht bejubelten<br />
Version, die Dmitri Tcherniakov Anfang des<br />
Jahres in Amsterdam herausgebracht hat. Hinzu<br />
kommen eine ziemlich klägliche Bildqualität<br />
und die nur englischsprachige Untertitelung.<br />
Aber dies ist nun einmal die derzeit einzige<br />
DVD-Version der Oper, die unbedingt eine größere<br />
Verbreitung verdient hätte.<br />
Eine musikalisch sehr überzeugende, szenisch<br />
eher unbefriedigende Aufführung, die das Werk<br />
immerhin erstmals auf DVD präsentiert.<br />
Michael Stegemann<br />
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