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WELTBÜHNE<br />
Analyse<br />
Illustration: Simon Prades<br />
fing keineswegs mit Hitler an und hörte<br />
auch nicht mit ihm <strong>auf</strong>. Dazu gehört auch<br />
der einseitige Besuch: Der Kleine erwartet<br />
ihn, immer in den Grenzen des Tourismus,<br />
aber er erwidert ihn nicht. Es<br />
ist eine neue Entwicklung, dass Busse<br />
voll Schweizer nach Nürnberg <strong>auf</strong> den<br />
Christkindlmarkt, nach Berlin oder gar<br />
an die Ostsee fahren. Der Geografielehrer<br />
ließ uns 1947 darüber abstimmen, ob<br />
wir England oder Deutschland „durchnehmen“<br />
sollten. Der Ausgang war klar:<br />
mit der Folge, dass mir die deutsche Topografie<br />
lange weniger geläufig war als<br />
die australische.<br />
Die freie Wahl des blinden Fleckes,<br />
der die Wahrnehmung ersetzt, gehört zu<br />
den Müsterchen direkter Demokratie, an<br />
denen ich schon als Unmündiger teilnehmen<br />
durfte. Doch Ja-Nein-Entscheidungen<br />
angesichts komplexer Verhältnisse<br />
pflegen schon im Ansatz kindlich zu sein.<br />
Der „Bauch“ hat das letzte Wort, und<br />
man kann nur hoffen, dass die Summe<br />
der Bäuche die Entscheidung des Einzelnen<br />
korrigiert. Oft genug stehen am Ende<br />
die Köpfe, die dazugehören, selbst ratlos<br />
vor dem Resultat, das hinten herausgekommen<br />
ist. Aber es gehört zum Komment<br />
der Demokratie, auch im Kuriosesten<br />
so etwas wie ein Orakel zu erkennen;<br />
man versteht es zwar nicht, aber gültig<br />
bleibt es <strong>auf</strong> jeden Fall.<br />
Die deutsch-schweizerische Beziehung<br />
hat sich durch einen weiteren Faktor<br />
kompliziert: den europapolitischen.<br />
Wie der Schweizer Schriftsteller Peter<br />
Bichsel schon vor Jahren festgestellt<br />
hat: Wenn die Deutschschweizer (nicht<br />
die Romands!) von „Europa“ reden, meinen<br />
sie die Deutschen. Das kam nicht von<br />
ungefähr, als das westliche Deutschland<br />
selbst seine Identität zugunsten Europas<br />
suspendiert hatte. Seit das vereinigte<br />
Deutschland zur faktischen, wenn<br />
auch immer noch widerwilligen Vormacht<br />
der Union geworden ist, gilt es erst<br />
recht. Das Stück deutscher Unbefangenheit,<br />
das seither zurückgekehrt ist, kann<br />
böser Wille leicht mit der Großmannssucht<br />
von vorgestern verwechseln. Die<br />
deutschen Nachbarn sind uns Deutschschweizern<br />
schon als Garanten unserer<br />
Identität unentbehrlich.<br />
Natürlich ist Deutschland davon,<br />
dass wir es im Geografieunterricht nicht<br />
durchnahmen, nicht weggegangen;<br />
Ja-Nein-<br />
Entscheidungen<br />
in komplexen<br />
Fragen pflegen<br />
schon im Ansatz<br />
kindlich zu sein.<br />
Der „Bauch“ hat<br />
das letzte Wort<br />
ebenso wenig geht heute „Europa“ davon<br />
weg, dass wir uns ihm nicht anschließen.<br />
Man möchte sagen: im Gegenteil. Als<br />
neuer Garant schweizerischer Identität<br />
beherrscht es geradezu den Diskurs über<br />
diese, muss allerdings, wie ein Schwarzes<br />
Loch, das uns nicht verschlingen<br />
darf, auch sorgfältig in Rechnung gestellt<br />
sein. Nähme die pragmatische Schweiz<br />
der ideologischen dieses Rechnungswesen<br />
nicht ab, existierten bald beide real<br />
nicht mehr. Nur nimmt der Pragmatismus<br />
die Rücksicht, für das Überhandnehmen<br />
der Vernunft den Notfall abzuwarten,<br />
den die ideologische Schweiz – darf<br />
man sagen: glücklicherweise? – ohnehin<br />
als Normalfall betrachtet.<br />
DIE SCHWEIZ FÜRCHTET gerne das<br />
Schlimmste, um sich zu attestieren, das<br />
Beste daraus gemacht zu haben. In der<br />
Not entdeckt sie ihre Tugend, und der<br />
vorsorglichen Angst entspricht die nachträgliche<br />
Selbstgratulation. Das stimmt<br />
zur Mentalität der Grenzbesetzung, mit<br />
welcher die Volksseele gut gefahren zu<br />
sein glaubt und darum auch so weiterfahren<br />
will, in die beängstigend offene<br />
Zukunft hinein.<br />
So spielt der andere für den Binnenhaushalt<br />
der Exportnation mit ihrer<br />
Fremdenindustrie eine zugleich ungeliebte<br />
und tragende Rolle. Die Schweiz<br />
hat mehr europapolitisch relevante<br />
Volksabstimmungen hinter sich als jedes<br />
EU-Land. Die meisten resultierten, willig<br />
oder nicht, in der Anerkennung unserer<br />
Zugehörigkeit zu Europa – mit Ausnahme<br />
der grundsätzlichen.<br />
Eine institutionelle Zugehörigkeit<br />
zum europäischen Wirtschaftsraum hat<br />
die Blocher-Partei 1992 fast im Alleingang<br />
(nicht ohne grünen Zuzug) erledigt<br />
und die Regierung zum Anzetteln eines<br />
komplizierten „bilateralen“ Vertragswerks<br />
genötigt, bei dessen Zustandekommen<br />
man, im Vertrauen <strong>auf</strong> die eigenen<br />
Trümpfe wie die Gotthard-Passage, den<br />
Goodwill der Gegenseite nicht allzu nötig<br />
zu haben glaubte.<br />
Politisch wollte die Fiktion kultiviert<br />
sein, dass die eigene Seite immer noch<br />
selbstbestimmt agiere. Dazu fanden sich<br />
denkwürdige Formulierungen wie diejenige<br />
eines Bundesrats, „man müsse beitrittsfähig<br />
sein, um nicht beitreten zu<br />
müssen“ – bei Ulbricht hieß das: den<br />
Klassenfeind überholen, ohne ihn einzuholen.<br />
Solche Finessen waren unumgänglich,<br />
nachdem die Regierung in einer<br />
unvorsichtigen Stunde ein Beitrittsgesuch<br />
in Brüssel hinterlegt hatte; danach<br />
musste sie für das Eis besorgt sein, <strong>auf</strong><br />
welches das Projekt gelegt werden wollte.<br />
Um ein Eidgenosse zu bleiben, musste der<br />
Bundesrat schwören, den verhängnisvollen<br />
Schritt nur getan zu haben, um ihn<br />
nicht wirklich tun zu müssen.<br />
Dass er davon nicht glaubwürdiger<br />
wurde, war die innenpolitische Marktchance<br />
der Nationalkonservativen, die<br />
sie weidlich nutzten: Sie bekamen den<br />
Schatten kostenlos geliefert, gegen den<br />
sie wählerwirksam boxen konnten. Der<br />
globale Unternehmer Christoph Blocher<br />
an ihrer Spitze trieb das Doppelspiel,<br />
das er Wirtschaft und Regierung<br />
<strong>auf</strong>gezwungen hatte, bei weitem pfiffiger<br />
als diese. Als besserem Patrioten<br />
(ausgesprochen) und besserem Unternehmer<br />
(unausgesprochen) hatte ihm<br />
die verachtete „Classe politique“ eine<br />
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<strong>Cicero</strong> – 3. 2014