Neue Ungleichheit und politische Repräsentation - Universität Trier
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Arbeitspapier 1/2011, <strong>Trier</strong> 2011<br />
<strong>Neue</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Repräsentation<br />
Winfried Thaa<br />
Kontakt: Prof. Dr. Winfried Thaa, Universität <strong>Trier</strong>, Universitätsring 15, Zi. A 127, 54286 <strong>Trier</strong><br />
Telefon: 0049 – (0)651 201-2135<br />
E-Mail: thaa@uni-trier.de<br />
Web: www.sfb600.uni-trier.de<br />
http://www.uni-trier.de/index.php?id=8000&L=0
Inhalt<br />
Vorbemerkung............................................................................................................................ 1<br />
1. Einleitung: Gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> nimmt zu, ihre <strong>politische</strong> Repräsentation<br />
dagegen ab.................................................................................................................................. 1<br />
2. Von der sozialstaatlichen Parteien- zur marktorientierten Publikumsdemokratie ................. 4<br />
2.1 Produktionsregime <strong>und</strong> Sozialstruktur................................................................................. 4<br />
2.2 <strong>Neue</strong> Muster sozialer <strong>Ungleichheit</strong> ...................................................................................... 7<br />
2.3 Die Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation: Von der Parteien- zur Publikumsdemokratie ....... 11<br />
2.4 Doppelte Abkoppelung <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Konfliktunfähigkeit der neuen <strong>Ungleichheit</strong>........ 14<br />
3. Die sozialwissenschaftliche Debatte zur neuen <strong>Ungleichheit</strong>.............................................. 17<br />
3.1 Ein schematischer Überblick.............................................................................................. 17<br />
3.2 Exklusion oder Prekarisierung ........................................................................................... 19<br />
3.2.1 Die begriffliche Debatte .................................................................................................. 19<br />
3.2.2 Empirische Bef<strong>und</strong>e ........................................................................................................ 27<br />
3.3 Zwischenfazit ..................................................................................................................... 37<br />
4. Schwierigkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation prekarisierter <strong>und</strong> exkludierter<br />
gesellschaftlicher Gruppen....................................................................................................... 38<br />
4.1 Die symbolische Dimension der neuen <strong>Ungleichheit</strong> ........................................................ 38<br />
4.1.1 Der Unterschichtsdiskurs <strong>und</strong> die verlorene Respektabilität .......................................... 38<br />
4.1.2 Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen in der Wettbewerbsgesellschaft.......... 43<br />
4.1.3 Resilienz gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen? ............................................. 46<br />
5. Ausblick: Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Exklusion <strong>und</strong><br />
Prekarisierung betroffenen Gruppen ........................................................................................ 48<br />
Literatur.................................................................................................................................... 51
<strong>Neue</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Repräsentation<br />
von Winfried Thaa<br />
Vorbemerkung<br />
Das folgende Papier ist in der vorliegenden Form nicht zur Veröffentlichung gedacht. Es will<br />
zunächst lediglich Anstöße für eine Diskussion über die Konsequenzen des neuen Charakters<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>strukturen für die Möglichkeit ihrer <strong>politische</strong>n Repräsentation in zeitgenössischen<br />
Demokratien bieten. Dazu war es unumgänglich, zumindest in Gr<strong>und</strong>zügen die<br />
Debatten der soziologischen Armutsforschung zu rekapitulieren.<br />
Hauptziel ist dabei allerdings nicht, einen möglichst breiten Überblick über diese Debatte zu<br />
gewinnen, sondern die Schwierigkeiten genauer zu bestimmen, die einer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
der von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen Betroffenen entgegenstehen, ein Aspekt,<br />
der in der soziologischen Forschung kaum thematisiert wird. Aufgr<strong>und</strong> eines solchen ersten,<br />
gewiss unvollständigen Bildes vom Repräsentationsaspekt der neuen Formen von Armut <strong>und</strong><br />
Prekarisierung sollten dann im weiteren Vorgehen die Forschungsergebnisse der einzelnen<br />
Teilprojekte daraufhin befragt werden, welches Potential verschiedene Repräsentationsformen<br />
besitzen, diese spezifischen Schwierigkeiten zu überwinden.<br />
1. Einleitung: Gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> nimmt zu, ihre <strong>politische</strong> Repräsentation<br />
dagegen ab<br />
Die sozialwissenschaftlichen Bef<strong>und</strong>e sind eindeutig: Seit Beginn der achtziger Jahre steht die<br />
Entwicklung aller westlichen Industriestaaten unter dem Zeichen einer zwar unterschiedlich<br />
stark ausgeprägten <strong>und</strong> nicht synchron verlaufenden, insgesamt aber deutlichen Tendenz zu<br />
steigender gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong>. Die Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich erhöht sich,<br />
die Spreizung der Gehälter <strong>und</strong> der Anteil der Niedriglohnbezieher nimmt zu, die Armutsraten<br />
steigen. 1 Die Dramatik dieser Entwicklung erschließt sich allerdings nicht allein aus der<br />
deutlichen Zunahme quantitativer <strong>Ungleichheit</strong>sindikatoren. Sie liegt vielmehr in der Umkehr<br />
eines zuvor jahrzehntelang anhaltenden <strong>und</strong> lange Zeit als geradezu selbstverständlich geltenden<br />
sozialen Fortschritts, der zur graduellen Angleichung von Lebensweisen <strong>und</strong> Lebenschancen<br />
verschiedener gesellschaftlicher Klassen <strong>und</strong> Schichten sowie zum Ausbau der<br />
1 Vgl. etwa OECD 2008; B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Soziales (Armutsbericht) 2008, Wingerter 2009,<br />
Süß 2010.<br />
1
sozialen Sicherungssysteme geführt hatte. Während die ersten Nachkriegsjahrzehnte von der<br />
Erfahrung eines verallgemeinerten Massenkonsums, gesellschaftlichen Aufstiegs <strong>und</strong> sozialer<br />
Sicherheit geprägt waren, steht die internationale gesellschafts<strong>politische</strong> Diskussion heute im<br />
Zeichen von Begriffen wie „<strong>Neue</strong> Armut“ <strong>und</strong> „Prekariat“, „Exklusion“ <strong>und</strong> „Underclass“.<br />
Die modernen repräsentativen Demokratien, die auch in ihren westlichen Stammländern erst<br />
im Laufe des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts alle Bürger mit gleichen <strong>politische</strong>n <strong>und</strong> sozialen<br />
Rechten einschlossen 2 , müssen damit zum ersten Mal in ihrer Geschichte politisch mit einer<br />
länger anhaltenden Zunahme gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> umgehen.<br />
Spätestens seit Tocqueville wird jedoch die Ausbreitung der <strong>politische</strong>n Demokratie in den<br />
Kontext eines unaufhaltsamen, historisch weit zurückreichenden Siegeszugs gesellschaftlicher<br />
Gleichheit gestellt. 3 Derzeit könnte es dagegen scheinen, als wäre, zeitgleich mit dem globalen<br />
Erfolg der <strong>politische</strong>n Demokratie durch den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus,<br />
das Voranschreiten gesellschaftlicher Gleichheit erst einmal gestoppt oder sogar<br />
umgekehrt worden. Während jedoch in den Jahrzehnten der sukzessiven Verringerung der<br />
Unterschiede in Einkommen <strong>und</strong> Lebenschancen die weiter bestehenden <strong>Ungleichheit</strong>en ihren<br />
Ausdruck in dominanten <strong>politische</strong>n Konfliktlinien fanden, insbesondere in derjenigen<br />
zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital, scheint dies unter den Bedingungen erneut zunehmender<br />
<strong>Ungleichheit</strong> immer weniger der Fall zu sein. Im Vergleich zur starken Repräsentation der<br />
materiellen Interessen <strong>und</strong> der gesellschaftlichen Perspektive der industriellen Lohnarbeit<br />
während der Hochzeiten der Parteiendemokratien in den 50er, 60er <strong>und</strong> 70er Jahren des<br />
vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts sind die von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen wie Dauerarbeitslosigkeit,<br />
prekärer Beschäftigung, <strong>Neue</strong>r Armut oder sozialräumlicher Segregation betroffenen<br />
Gruppen heute politisch wenig präsent. Obwohl gesellschaftswissenschaftlich breit<br />
diskutiert <strong>und</strong> publizistisch thematisiert, scheint es sich bei den genannten Phänomenen um<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sformen zu handeln, die, bislang jedenfalls, weder zu einer Wiederbelebung der<br />
alten, noch zur Herausbildung neuer <strong>politische</strong>r Konfliktlinien führten. Ob die im Zusammenhang<br />
der Konflikte um die mit der sog. Hartz-Kommission verb<strong>und</strong>enen Reformen des<br />
Arbeitsmarkts <strong>und</strong> des Sozialstaates erfolgreiche Gründung der „Linken“ aus der im wesentlichen<br />
ostdeutschen PDS <strong>und</strong> linken westdeutschen Gruppen zur Herausbildung einer solchen<br />
Konfliktlinie führen wird, ist derzeit noch unklar.<br />
2 Dazu Marshall 1992.<br />
3 So formuliert Tocqueville in der Einleitung zum ersten Band seines Werks „Über die Demokratie in Amerika“:<br />
„Die stufenweise Entwicklung der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen ist also ein von der Vorsehung<br />
gewolltes Ereignis, denn sie hat dessen wesentliche Merkmale: sie ist allgemein, sie ist beständig, <strong>und</strong> sie<br />
entzieht sich immer neu der menschlichen Einwirkung; alle Begebenheiten <strong>und</strong> alle Menschen dienen der<br />
Entwicklung der Gleichheit“ (Tocqueville 1835/1985: 19).<br />
2
Kaum weniger als die ausbleibende Verfestigung <strong>politische</strong>r Konflikte entlang der genannten<br />
gesellschaftlichen Spaltungen erstaunt jedoch, dass sich die Politikwissenschaft zwar mit<br />
diesem Thema beschäftigt, dabei aber kaum nach den Möglichkeiten einer angemessenen<br />
<strong>politische</strong>n Repräsentation der ausgegrenzten <strong>und</strong> marginalisierten Gruppen fragt. Politikwissenschaftlich<br />
thematisiert werden die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Armuts<strong>und</strong><br />
Exklusionsforschung vor allem unter folgenden Gesichtspunkten:<br />
• Erstens als Zurückdrängung <strong>politische</strong>r Regulierungen <strong>und</strong> staatlicher Existenzsicherung<br />
durch die naturalisierte Logik des Marktes <strong>und</strong> des Wettbewerbs (Abromeit<br />
2009, Lessenich/Nullmeier 2006, Rosa 2006);<br />
• zweitens als Legitimationsdefizit der Demokratie durch die Schwächung egalitärer<br />
Politiken <strong>und</strong> die Aushöhlung der partizipatorischen Substanz von Bürgerrechten<br />
(Crouch 2008, Kronauer 2002 <strong>und</strong> 2010, Schäfer 2010);<br />
• <strong>und</strong> drittens im Kontext der Parteienforschung als mangelhafte Responsivität der<br />
Volksparteien gegenüber den Interessen sozial Schwacher <strong>und</strong> der enttäuschten<br />
Erwartungen an eine staatliche Sicherung gesellschaftlicher Solidarität (Vester 2009,<br />
Neugebauer 2007).<br />
Die bisherige Arbeit des Teilprojekts C 7 „Formen <strong>und</strong> Funktionsweisen <strong>politische</strong>r Repräsentation<br />
von Fremden <strong>und</strong> Armen“ konzentrierte sich demgegenüber auf einen Vergleich<br />
verschiedener Formen der <strong>politische</strong>n Repräsentation, insbesondere parteipolitisch-parlamentarischer,<br />
deliberativer <strong>und</strong> deskriptiver Repräsentationsformen, <strong>und</strong> fragte dabei nach deren<br />
Leistung für die Repräsentation sog. schwacher Interessen. Hier soll nun versuchsweise<br />
einmal von der anderen, nämlich der gesellschaftlichen Seite ausgehend gefragt werden,<br />
worin die Schwierigkeiten speziell der von neuen <strong>Ungleichheit</strong>en betroffenen Gruppen liegen,<br />
eine wirkungsvolle <strong>politische</strong> Repräsentation zu finden, um dann, unter Berücksichtigung der<br />
bisherigen Forschungsergebnisse, zu diskutieren, welches Potential die verschiedenen Repräsentationsformen<br />
besitzen, diese neuen <strong>Ungleichheit</strong>en in den <strong>politische</strong>n Prozess einzubringen.<br />
Dazu werde ich zunächst knapp auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher<br />
Entwicklung <strong>und</strong> Form der repräsentativen Demokratie während der Jahrzehnte des sozialstaatlich<br />
gebändigten Kapitalismus eingehen, um so eine Vorstellung des historischen<br />
Wandels zu gewinnen, vor dem sich die neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen <strong>und</strong> ihre Repräsentationsdefizite<br />
erst abzeichnen können (2). Danach werde ich die gesellschaftsanalytische<br />
Debatte zu den neuen Formen der <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> ihrer adäquaten begrifflichen Erfassung<br />
rekapitulieren (3), um auf dieser Gr<strong>und</strong>lage dann die Schwierigkeit ihrer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
präziser zu bestimmen (4). Von da aus sollten dann unter Rekurs auf die<br />
3
Forschungsergebnisse des SFB 600 - in der weiteren Arbeit des Synthesevorhabens -<br />
verschiedene Formen der <strong>politische</strong>n Repräsentation darauf befragt werden, wie sie geeignet<br />
scheinen, die neuen Formen gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> politisch zu repräsentieren.<br />
2. Von der sozialstaatlichen Parteien- zur marktorientierten Publikumsdemokratie<br />
Die Gesellschaften der am weitesten entwickelten kapitalistischen Länder haben sich während<br />
der letzten drei Jahrzehnte erheblich gewandelt. Die sozialwissenschaftliche Literatur ist sich<br />
einig, dass es dabei nicht nur um graduelle Veränderungen geht. Quer zu sonstigen Kontroversen<br />
herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass es sich bei diesem Wandel um<br />
einen Bruch mit einer zuvor jahrzehntelang anhaltenden Entwicklung handelt, die gekennzeichnet<br />
war durch die Steigerung von Produktivität <strong>und</strong> Massenkonsum, sozialstaatliche<br />
Absicherung von Existenzrisiken, die Ausweitung gesellschaftlicher Integration sowie eine<br />
vergleichsweise breite, von gesellschaftlichen Verbänden <strong>und</strong> demokratischen Parteien getragene<br />
<strong>politische</strong> Partizipation. Etwas systematischer möchte ich diese nach übereinstimmender<br />
Meinung mittlerweile der Vergangenheit angehörende Phase der Entwicklung durch drei<br />
verschiedene Dimensionen charakterisieren, nämlich erstens durch das Akkumulationsregime<br />
<strong>und</strong> die sozio-ökonomische Gr<strong>und</strong>struktur, zweitens durch die vorherrschenden Muster<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> ihre Beziehung zum Bürgerstatus sowie drittens durch die vorherrschende<br />
Form der <strong>politische</strong>n Repräsentation.<br />
2.1 Produktionsregime <strong>und</strong> Sozialstruktur<br />
In der marxistisch geprägten Literatur findet sich für die in Frage stehende Phase vergleichsweise<br />
hohen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung <strong>und</strong> starker<br />
Zunahme des Massenkonsums der Begriff des fordistischen Produktionsregimes. Er scheint<br />
über den Rahmen einer marxistischen Gesellschaftsanalyse hinaus geeignet, die sozio-ökonomischen<br />
Gr<strong>und</strong>züge dieser mehrere Jahrzehnte andauernden Phase der Gesellschaftsgeschichte<br />
westlicher Industrieländer zu veranschaulichen.<br />
Der in der Bezeichnung steckende Hinweis auf die von Henry Ford eingeführte Fließbandproduktion<br />
der Automobilindustrie verweist auf die durch Arbeitsorganisation <strong>und</strong> technische<br />
Innovationen erzielten Produktivitätssteigerungen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage eine deutliche<br />
Erhöhung der Durchschnittslöhne <strong>und</strong>, als Folge davon, wiederum die Ausweitung von Nachfrage<br />
<strong>und</strong> Produktion möglich wurden. Trotz aller, im einzelnen gewichtigen Unterschiede<br />
zwischen verschiedenen Ländern war diese von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 70er<br />
4
Jahre reichende Periode durch die Inkorporierung organisierter Arbeiterinteressen gekennzeichnet.<br />
Es war demnach eine Zeit offensichtlicher, aber in der Regel durch Kompromisse zu<br />
lösender sowie staatlich regulierter Verteilungskonflikte zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit (Dörre<br />
2009: 48). Zu ihren herausragenden Kennzeichen gehörten nicht nur eine historisch beispiellose<br />
Steigerung des Massenkonsums, sondern auch die sozialstaatliche Absicherung des an<br />
sich unsicheren Status der Lohnarbeit sowie eine deutliche Verringerung absoluter <strong>und</strong> relativer<br />
Armut (Dörre 2009: 49). Verstärkt wurde das Bild eines politisch gestaltbaren, alle Gruppen<br />
der Gesellschaft erfassenden Fortschritts durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik,<br />
die mittels makroökonomischer Interventionen Wachstum <strong>und</strong> Vollbeschäftigung sichern <strong>und</strong><br />
damit die nationale Wohlfahrt zu erhöhen trachtete. In diesen Zusammenhang gehört auch die<br />
breite Erfahrung einer Statusverbesserung, sei es durch die Aufwertung qualifizierter Lohnarbeit<br />
in sozialpartnerschaftlichen Kooperationszusammenhängen (Lessenich 2009: 154), sei<br />
es durch die Erfahrung sozialen Aufstiegs durch Bildung <strong>und</strong> berufliche Qualifikation<br />
(Geißler 2006: 282-286).<br />
In unserem Kontext ist besonders hervorzuheben, dass in dieser Zeit, wie es John Rawls in<br />
seiner einflussreichen Gerechtigkeitstheorie formuliert, die Gesellschaft intuitiv als Kooperationszusammenhang<br />
im nationalen Rahmen erscheint, in dem „ jedermanns Wohlergehen von<br />
der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand ein befriedigendes Leben hätte“ (Rawls<br />
1975: 32). Zugleich ist die Organisation gesellschaftlicher Interessen <strong>und</strong>, daran anknüpfend,<br />
die <strong>politische</strong> Repräsentation von Großgruppen in hohem Maß durch die Struktur dieser<br />
gesellschaftlichen Kooperation geprägt.<br />
Gegen aktuelle Verklärungen des wohlfahrtsstaatlichen Industriekapitalismus sollte allerdings<br />
daran erinnert werden, dass die gesellschaftliche Integration der Lohnabhängigen nicht für<br />
alle Gruppen in gleichem Maße galt <strong>und</strong> insbesondere Frauen sowie Migranten nur teilweise<br />
von den für diese Zeit typischen korporatistischen Arrangements profitierten. Gerade die oben<br />
erwähnte kollektive Erfahrung des sozialen Aufstiegs durch Bildung <strong>und</strong> Statusverbesserung<br />
war in den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren mit der breiten Einbeziehung von Frauen in meist<br />
schlechter bezahlte Lohnarbeitsverhältnisse sowie der Übernahme einfacher manueller Tätigkeiten<br />
durch Migranten verb<strong>und</strong>en. Zudem führten sowohl die hierarchisch-bürokratische<br />
Form des Produktionsregimes als auch die rücksichtlose Modernisierungspolitik auf Kosten<br />
von Natur <strong>und</strong> gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen in den 60er <strong>und</strong> 70er Jahren zu<br />
sozialen Widerstandsbewegungen. Ob diese mit Boltanski/Chiapello als „Künstlerkritik“, also<br />
als eine nicht von Umverteilungsforderungen, sondern von Selbstverwirklichungsansprüchen<br />
5
der Individuen ausgehende Kapitalismuskritik adäquat erfasst werden können, sei dahingestellt<br />
(Boltanski/Chiapello 2005).<br />
Bereits Ende der 70er Jahre jedoch geriet der hier nur grob umrissene fordistische <strong>und</strong> wohlfahrtsstaatliche<br />
Kapitalismus in eine Krise. Auch hier brauchen uns die möglichen Ursachen<br />
<strong>und</strong> die genaueren Konzeptualisierungen, mit denen diese Veränderungen erfasst werden,<br />
nicht im Einzelnen zu interessieren. Ob durch die Verteuerung fossiler Energien erzwungen<br />
oder durch technischen Fortschritt induziert, ob als Strategie der Kapitalseite, als Reaktion auf<br />
die hohe Staatsverschuldung oder in erster Linie als Folge der Internationalisierung der<br />
Märkte - die makroökonomische Regulierung, die korporatistische Einbindung der Arbeiterorganisationen<br />
<strong>und</strong> der Ausbau des Sozialstaates galten nun als Entwicklungshindernisse <strong>und</strong><br />
wurden abgebaut zugunsten einer ökonomischen Steuerung durch die Kapitalmärkte, der<br />
Deregulierung der Arbeitsbeziehungen sowie kostensparender Reformen des Sozialstaates.<br />
Parallel dazu beschleunigte sich in entwickelten westlichen Ländern der Bedeutungsverlust<br />
der Industriearbeit gegenüber dem Dienstleistungssektor. 4<br />
Erinnert sei daran, dass die kritische Sozialwissenschaft die damit einhergehende Erosion<br />
gesellschaftlicher Großgruppen <strong>und</strong> ihrer traditionalen, gemeinschaftlich geprägten Lebensstile<br />
zunächst positiv als Individualisierungsprozesse bewertete, die gegenüber den starren<br />
Regelungen <strong>und</strong> festen Zugehörigkeiten der alten Industriegesellschaft die Selbstverwirklichungschancen<br />
der Menschen erhöhen sollten. Ulrich Beck glaubte gar die „`Wehen´ einer<br />
neuen Handlungsgesellschaft, Selbstgestaltungsgesellschaft“ beobachten zu können (Beck<br />
1993: 162).<br />
Dies hat sich gr<strong>und</strong>legend geändert. Heute dominiert die Befürchtung, der deregulierte, weitgehend<br />
den Marktkräften <strong>und</strong> ihrem Veränderungsdruck überlassene Kapitalismus führe zu<br />
einer in letzter Instanz selbstzerstörerischen Entstabilisierung <strong>und</strong> Desintegration der Gesellschaft.<br />
Autoren wie Richard Sennett, Zygmunt Bauman <strong>und</strong> Robert Castel kontrastieren den<br />
früheren, noch durch stabile Organisation, institutionelle Verlässlichkeit <strong>und</strong> Sicherung der<br />
Lebensperspektive geprägten Typ des Kapitalismus mit einem deregulierten, Flexibilität <strong>und</strong><br />
Mobilität erzwingenden <strong>und</strong> dadurch soziale Bindungen <strong>und</strong> Sicherheiten auflösenden<br />
Typus 5 . An die Stelle materiellen Forschritts, kollektiv erkämpfter sozialer Sicherheit sowie<br />
gesellschaftlicher Integration <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Partizipation tritt damit die Erfahrung materieller<br />
Unsicherheit, individueller Anpassungszwänge <strong>und</strong> einer deutlicheren Spaltung der Gesellschaft<br />
in Gewinner <strong>und</strong> Verlierer.<br />
4 Für Deutschland ist diese Entwicklung genauer belegt bei Geißler 2006: 166.<br />
5 Zusammenfassend dazu etwa Peter 2009.<br />
6
2.2 <strong>Neue</strong> Muster sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />
Die bereits in den achtziger Jahren einsetzende <strong>und</strong> sich in den neunziger Jahren verstärkende<br />
sozialwissenschaftliche Diskussion um die skizzierten Veränderungen dreht sich über weite<br />
Strecken um die genauere Erfassung individualisierender <strong>und</strong> die Solidarität von Großgruppen<br />
zersetzender Formen sozialer <strong>Ungleichheit</strong>. Darauf bezogen unterscheidet Martin<br />
Kronauer zwischen zwei verschiedenen <strong>Ungleichheit</strong>smustern, die unschwer der klassischen<br />
Industriegesellschaft auf der einen <strong>und</strong> ihrer Auflösung in der deregulierten Wettbewerbsgesellschaft<br />
auf der anderen Seite zuordenbar sind (Kronauer 2002: 51). Das erste der beiden<br />
<strong>Ungleichheit</strong>smuster ist gekennzeichnet durch Wechselbeziehungen ungleicher Abhängigkeiten<br />
in einem Kooperationsverhältnis, das zweite durch einen im Ausschluss aus jeder<br />
wechselseitigen Beziehung kulminierenden Marginalisierungsprozess. Kronauer charakterisiert<br />
das erste der beiden <strong>Ungleichheit</strong>smuster durch eine „Logik der internen <strong>Ungleichheit</strong><br />
<strong>und</strong> Dominanz“, das zweite durch eine „Logik der Trennung“ (Kronauer 2002: 39).<br />
Im ersten <strong>Ungleichheit</strong>smuster geht es um den Interessengegensatz zwischen sozialen Gruppen<br />
sowie den Kampf der in dieser Struktur benachteiligten Gruppen um Anerkennung. Eine<br />
solche Konstellation stärkt den Zusammenhang der Benachteiligten <strong>und</strong> ermöglicht die<br />
Entwicklung gemeinsamer Umverteilungs- <strong>und</strong> Gleichstellungsziele. Konkretisieren lässt sich<br />
dies zum einen mit gewerkschaftlichen Organisationen <strong>und</strong> den von ihnen geführten Verteilungskämpfen<br />
gegen die Kapitalseite. Zum anderen impliziert dieses <strong>Ungleichheit</strong>smuster der<br />
Industriegesellschaft jedoch eine breitere, auch politisch organisierbare Orientierung auf die<br />
Verbesserung des kollektiven Status <strong>und</strong> die Durchsetzung von Rechts- <strong>und</strong> Chancengleichheit.<br />
Benachteiligte Gruppen können deshalb, so wäre Kronauer hinzuzufügen, eine über ihre<br />
besondere Lage hinausreichende allgemeine Zukunftsperspektive der Gleichstellung <strong>und</strong><br />
Emanzipation entwickeln <strong>und</strong> damit auch gesamtgesellschaftlich als Repräsentant einer solchen<br />
Zukunft gelten.<br />
Armut im engeren Sinn ist in dieser Phase der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft der<br />
Nachkriegsjahrzehnte in den westeuropäischen Gesellschaften ein eher marginales Phänomen.<br />
Zudem wird erwartet, dass es in nächster Zukunft als Folge des allgemeinen Abbaus von<br />
<strong>Ungleichheit</strong>en gänzlich überw<strong>und</strong>en werden kann (Paugam 2008: 164-212, 278f.).<br />
In diesem Zusammenhang ist auf T. H. Marshalls Abfolge der Durchsetzung verschiedener<br />
Dimensionen des Bürgerstatus hinzuweisen. Bekanntlich sieht Marshall in der Geschichte<br />
moderner Gesellschaften, ganz ähnlich wie Alexis de Tocqueville, eine dominierende Entwicklungstendenz<br />
zu mehr Gleichheit. Dabei unterscheidet er zwischen einem bürgerrechtlichen<br />
(civic), <strong>politische</strong>n (political) <strong>und</strong> sozialen (social) Bürgerstatus (citizenship) <strong>und</strong><br />
7
eschreibt die britische Geschichte der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte als sukzessive Durchsetzung<br />
dieser drei Dimensionen gleicher Bürgerrechte. Nach der Durchsetzung der Gleichheit vor<br />
dem Gesetz im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert (civic citizenship) kommt es nach heftigen Kämpfen im 19.<br />
<strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert zur Verallgemeinerung des Wahlrechts (political citizenship) <strong>und</strong><br />
schließlich zu einer Erweiterung des Staatsbürgerstatus um soziale Rechte (social citizenship),<br />
mit denen erst die egalitäre <strong>und</strong> partizipatorische Substanz des rechtlichen <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n<br />
Bürgerstatus zu verwirklichen ist. Insbesondere die zweite <strong>und</strong> dritte Dimension des Bürgerstatus<br />
lassen sich unschwer auf die Konfliktdynamik der oben beschriebenen ersten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur<br />
beziehen. Allgemeiner ist zu vermuten, dass Kooperationsverhältnisse ungleicher<br />
Abhängigkeiten, wie sie für Industriegesellschaften typisch sind, eine auf umfassende<br />
Gleichstellung gerichtete Konfliktdynamik entfalten.<br />
Die neuen Phänomene sozialer <strong>Ungleichheit</strong> sind nach Kronauer jedoch nicht mehr durch<br />
ungleiche Kooperation, sondern durch eine Logik des Ausschlusses gekennzeichnet. Sie<br />
„marginalisieren Menschen soweit, dass sie sie schließlich selbst noch aus den Wechselbeziehungen<br />
ungleicher Abhängigkeitsverhältnisse verstoßen“ (Kronauer 2002: 51). Eine<br />
gegenüber der traditionellen Industriegesellschaft neuartige, exkludierende <strong>Ungleichheit</strong> stellt<br />
nicht nur Kronauer fest. Armin Nassehi, ein Systemtheoretiker, resümiert:<br />
„Nicht mehr Arbeit bzw. Positionierung innerhalb des Beschäftigungssystems scheint<br />
unterprivilegierte Lebenslagen zu beschreiben, sondern inzwischen das Herausfallen<br />
aus solchen Strukturen“ (Nassehi 2004: 326).<br />
Ganz ähnlich, wenn auch in spieltheoretischen Kategorien, formulierte Claus Offe bereits<br />
einige Jahre zuvor diese Differenz. Er unterscheidet eine Gewinner-Verlierer Konstellation in<br />
der traditionellen Industriegesellschaft, in der die Verlierer im Spiel bleiben, von einer Konstellation<br />
der Exklusion-Inklusion, in der verschiedene Individuen oder Gruppen gar nicht erst<br />
ins Spiel kommen oder aufgr<strong>und</strong> bestimmter Defizite wieder herausfallen (Offe 1996).<br />
Als Fluchtpunkt seiner zweiten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur nennt Kronauer die Nutzlosigkeit, <strong>und</strong><br />
zwar sowohl in der Zuschreibung von außen als auch im Lebensgefühl der Betroffenen selbst<br />
(Kronauer 2002: 51). Die Armutsforschung spricht darauf bezogen von einem Typus der<br />
„disqualifizierenden Armut“, der sich durch ein Gefühl des Absturzes <strong>und</strong> eine weit über<br />
unmittelbar Betroffene hinausreichende Furcht vor sozialer Ausgrenzung auszeichne (Paugam<br />
2008: 114f., 281). Zugespitzt formuliert tritt damit ein Prekariat an die Stelle des Proletariats<br />
(Vogel 2009: 198).<br />
In dieser etwas schematischen Gegenüberstellung zweier <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen nehmen<br />
Migranten eine besondere Stellung ein. Obwohl in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland die sog.<br />
Gastarbeiter in den ersten Jahrzehnten der Zuwanderung in die wechselseitigen Abhängig-<br />
8
keitsstrukturen der Erwerbsarbeit einbezogen waren, da sie ohne Arbeitsplatz gar keine<br />
Aufenthaltsgenehmigung bekamen, blieben ihnen <strong>politische</strong> Rechte lange Zeit vorenthalten,<br />
so dass ihr Status <strong>und</strong> ihre sozialen Rechte auch schon zu Zeiten des wohlfahrtsstaatlichen<br />
Kapitalismus prekäre Züge trugen. Heute dürften die Exklusionstendenzen der neuen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse aber auch bei denjenigen, die mittlerweile die Staatsbürgerschaft<br />
erworben haben, allein schon aufgr<strong>und</strong> ihres Status als ethnische <strong>und</strong> häufig auch religiöse<br />
Minderheit in der deutschen Gesellschaft verstärkt werden.<br />
Neben diesen exkludierenden <strong>und</strong> disqualifizierenden Zügen der neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur<br />
ist ihr oben bereits erwähnter fluider, von sozialstrukturell vorgegebenen <strong>und</strong> kollektiv<br />
geteilten Statussituationen gelöster Charakter von erheblicher Konsequenz. Gesellschaft als<br />
eine im nationalen Rahmen zusammengehaltene Vergemeinschaftungsform scheint zunehmend<br />
fiktional zu werden <strong>und</strong> von einer durch die Entgrenzung <strong>und</strong> Vervielfältigung marktwirtschaftlichen<br />
Wettbewerbs geprägte Konkurrenzgesellschaft ersetzt zu werden (Rosa 2006;<br />
Lessenich/Nullmeier 2006).<br />
Spezifischer unterscheidet sich der postfordistische vom klassischen Industriekapitalismus<br />
durch die Schwächung kollektiver Organisationen <strong>und</strong> die Stärkung individueller Verantwortung<br />
sowohl auf der Ebene der Arbeitsorganisation als auch für den beruflichen Werdegang<br />
insgesamt (Castel 2009: 25f.). Eine ganze Reihe von Soziologen macht diese neue Arbeitswelt<br />
auch für gravierende Veränderungen der Subjekte selbst verantwortlich. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
der Auflösung stabiler Organisation, der Bindung der Arbeitskräfte an die Unternehmen<br />
<strong>und</strong> deren sozialer Verantwortung spricht Zygmunt Bauman von einer "Mentalität<br />
der kurzen Dauer" (Bauman 2003: 176), Richard Sennett gar von der Zerstörung des Charakters<br />
durch eine erzwungene Mobilität <strong>und</strong> Flexibilität, die kontinuierliche Biographien<br />
unmöglich machten (Sennett 1998).<br />
Wie mehrere Studien der Milieuforschung zeigen, bilden sich in der neuen, durch Ausgrenzung<br />
charakterisierten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur verschiedene Subkulturen aus, die kulturell zwar<br />
nur noch wenig verbindet, zugleich jedoch das Gefühl eint, abgehängt zu werden <strong>und</strong> keine<br />
Chancen mehr auf einen Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu haben. Neben den Resten<br />
des traditionellen Arbeitermilieus finden sich hier autoritär orientierte Geringqualifizierte,<br />
Migrantenmilieus, aber auch „moderne“, hedonistisch an Freizeit, Unterhaltung <strong>und</strong> Körperkult<br />
orientierte Milieus (Ueltzhöffer/Flaig 1993; Vester u.a. 2001; Hradil 2006). Erfahrungen<br />
mit solidarischen Organisationsformen <strong>und</strong> gemeinsamem Handeln werden in diesen gesellschaftlichen<br />
Gruppen über den privaten Bereich hinaus kaum mehr gemacht. Frank Walter<br />
spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Klasse“ „ … ohne Wahrnehmung eigener<br />
9
Kollektivität <strong>und</strong> verbindender Interessen, ohne Gegenideologie <strong>und</strong> subversiven Aktionsdrang“<br />
(Walter 2011: 14).<br />
Während die Benachteiligten in Kronauers erstem <strong>Ungleichheit</strong>smuster sowohl in der eigenen<br />
als auch in der Fremdwahrnehmung allgemeine Interessen repräsentieren, <strong>und</strong> ihnen die<br />
Zukunft zu gehören scheint, werden die von Marginalisierung <strong>und</strong> Ausschluss Betroffenen im<br />
zweiten <strong>Ungleichheit</strong>muster eher als selbstverantwortliche Versager oder bestenfalls als<br />
unglückliche Opfer wahrgenommen.<br />
Verflüssigung <strong>und</strong> Entkollektivierung führen zudem zu einer über klar eingrenzbare Gruppen<br />
hinausreichenden Verunsicherung hinsichtlich des eigenen sozialen Status <strong>und</strong> der beruflichen<br />
Zukunft. Robert Castel sieht das Hauptkennzeichen der neuen sozialen <strong>Ungleichheit</strong> deshalb<br />
weniger in der Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen als vielmehr in einer durch die<br />
Dynamik der Entkollektivierung beförderten Verbreitung der „Verw<strong>und</strong>barkeit“, weshalb er<br />
den Exklusionsbegriff ablehnt <strong>und</strong> stattdessen von Prozessen der Entkoppelung <strong>und</strong> Prekarisierung<br />
spricht (Castel 2009: 29f.). Aus dieser Sicht ist das Hauptmerkmal der neuen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> weniger die Exklusion einer Randgruppe als vielmehr eine weit in die Mittelschichten<br />
hineinreichende Statusgefährdung <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Ängste <strong>und</strong> Verunsicherungen.<br />
Die Entkollektivierung der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen <strong>und</strong> die Individualisierung von Erfolg<br />
oder Misserfolg im Arbeitsleben wird zudem von Reformen des Sozialstaates <strong>und</strong> Deregulierungen<br />
des Arbeitsmarkts begleitet, die sich als Erosion des sozialen Bürgerstatus beschreiben<br />
lassen. Ralf Dahrendorf betont noch 1995, dass der Bürgerstatus ein nicht-ökonomischer<br />
Begriff sei, der die Stellung der Menschen unabhängig vom Wert ihres Beitrages zum<br />
Wirtschaftsprozess definiere <strong>und</strong> keinesfalls den Extravaganzen des Marktes überlassen<br />
werden dürfe (Dahrendorf 1995: 33). Demgegenüber zeichnet sich während der letzten Jahre<br />
in den großen westlichen Demokratien eine Entwicklung ab, in der marktorientierte Reformen<br />
die mit dem sozialen Bürgerstatus verb<strong>und</strong>enen Rechtsansprüche abbauen oder stärker als<br />
bisher an Vorleistungen der Individuen binden. Die egalisierenden Effekte des Bürgerstatus<br />
verlieren damit gegenüber marktförmigen Verteilungseffekten an Bedeutung. Die Umgestaltung<br />
der Sozial- <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik zu einem „Aktivierungsregime“ verstärkt die individualisierende<br />
Wahrnehmung des eigenen Schicksals in einem insgesamt naturwüchsig<br />
vorausgesetzten Marktgeschehen (Lessenich/Nullmeier 2006). Darüber hinaus geht mit der<br />
Zunahme sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> der Schwächung des sozialen Bürgerstatus auch eine<br />
<strong>politische</strong> Marginalisierung der betroffenen Gruppen einher (Neugebauer 2007; Schäfer 2010;<br />
Walter 2011).<br />
10
2.3 Die Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation: Von der Parteien- zur Publikumsdemokratie<br />
Die sozialwissenschaftliche Literatur diskutiert die Schwierigkeiten der von der neuen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sstruktur benachteiligten Gruppen, ihre Interessen durchzusetzen, vor allem in<br />
zweierlei Hinsicht: Zum einen scheint fraglich, ob die von Franz Walter im obigen Zitat als<br />
neue Klasse ohne wahrgenommene Kollektivität <strong>und</strong> Gegenideologie charakterisierten<br />
Gruppen (Walter 2011: 14) aufgr<strong>und</strong> ihrer Lage noch die Fähigkeiten <strong>und</strong> Ressourcen besitzen,<br />
sich effektiv zu organisieren <strong>und</strong> vernehmbar zu artikulieren. Zum anderen wird, von<br />
Emil Durkheims Begriff der „organischen Solidarität“ ausgehend, bezweifelt, dass die Gesellschaft<br />
gegenüber Gruppen, die allenfalls noch marginal in die wechselseitige Abhängigkeit<br />
arbeitsteiliger Industriegesellschaften eingeb<strong>und</strong>en sind, bereit <strong>und</strong> fähig ist, entsprechende<br />
Solidaritätsleistungen zu erbringen (Hofmann 2009: 319). Beide Fragen sind jedoch allein aus<br />
gesellschaftlicher Perspektive, ohne Berücksichtigung der Ebene der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
nicht zu beantworten. In einer Demokratie müssen Solidaritätsleistungen im <strong>politische</strong>n<br />
Wettbewerb gefordert, in Bezug auf eine Vorstellung vom Allgemeinwohl argumentativ<br />
begründet <strong>und</strong> durch Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden. Ob <strong>und</strong> wie das gelingen<br />
kann, hängt deshalb nicht nur von gesellschaftlichen Faktoren wie der Organisationsfähigkeit<br />
der fordernden Gruppe oder den gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen ab,<br />
sondern von der Struktur <strong>und</strong> Funktionsweise des <strong>politische</strong>n Systems, insbesondere von den<br />
Repräsentationsbeziehungen zwischen den miteinander konkurrierenden Parteien <strong>und</strong> den von<br />
ihnen repräsentierten Bürgern.<br />
In diesem Zusammenhang diskutiert die politikwissenschaftliche Literatur seit geraumer Zeit<br />
über eine Krise der <strong>politische</strong>n Repräsentation. Dies geschieht überwiegend aus der Perspektive<br />
der betroffenen Parteien oder aber unter legitimatorischer <strong>und</strong> demokratietheoretischer<br />
Perspektive als Krise oder gar Ende der Demokratie. Für den ersten Zugang stehen zahlreiche<br />
Veröffentlichungen, die sich mit dem Niedergang der großen Volksparteien beschäftigen <strong>und</strong><br />
diesen entweder auf die Erosion der sie ursprünglich tragenden sozio-kulturellen Milieus<br />
zurückführen, oder aber auf die Entfernung der <strong>politische</strong>n Eliten von den im Kern weiterhin<br />
bestehenden Milieus. 6 Der zweite Diskussionsstrang, der besonders einflussreich von Colin<br />
Crouchs These der „Postdemokratie“ vertreten wird, stellt in gesellschaftskritischer Absicht<br />
den Niedergang der Parteien in einen breiteren, durch Vermarktlichung <strong>und</strong> zunehmende<br />
gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> gekennzeichneten Kontext <strong>und</strong> diagnostiziert das Ende oder<br />
zumindest den weitgehenden Verlust der ökonomischen, sozial-strukturellen, medialen oder<br />
6 Zur Kontroverse zwischen der Erosions- <strong>und</strong> der Enttäuschungsthese vgl. Thaa 2011.<br />
11
auch individuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen demokratischer <strong>politische</strong>r Partizipation.<br />
7<br />
Demgegenüber synthetisiert Bernard Manin in seinem bereits 1997 erschienen Buch „The<br />
Principles of Representative Government“ die Veränderungen der letzten Jahrzehnte unter der<br />
Perspektive ihrer Wirkung auf die Repräsentationsbeziehungen in den liberalen Demokratien<br />
entwickelter westlicher Länder. Dabei unterscheidet er drei Phasen in der Entwicklung der<br />
repräsentativen Demokratie: Den klassischen Parlamentarismus des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die<br />
Parteiendemokratie, die das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert prägte <strong>und</strong> schließlich die zur Zeit sich krisenhaft<br />
herausbildende Phase der Publikumsdemokratie bzw. "audience democracy" (Manin 1997:<br />
193-235). Obwohl Manin in den einzelnen Dimensionen des seinen drei Phasen zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />
Wandels eher holzschnittartig bleibt, macht ihn für unseren Zusammenhang interessant,<br />
dass er seine Idealtypen nach der jeweils dominierenden Art der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
konstruiert.<br />
Das Zeitalter des klassischen Parlamentarismus war demnach gekennzeichnet durch die Wahl<br />
gesellschaftlich herausragender Persönlichkeiten, die in erster Linie Einzelwahlkreise vertraten.<br />
Gegenüber den erst in Entstehung begriffenen Parteien erfreuten sich die Parlamentarier<br />
großer Unabhängigkeit. Ihr Verhältnis zu den Wählern entsprach Edm<strong>und</strong> Burkes<br />
„Trusteeship“, d.h. die Abgeordneten entschieden weitgehend nach ihrem persönlichen Urteil.<br />
Im Parlament fanden dementsprechend echte, argumentativ geführte Debatten statt, in deren<br />
Verlauf sich Mehrheiten verändern konnten. Außerhalb des Parlaments existierte eine starke,<br />
unabhängige Öffentlichkeit, die, da es keine vermittelnden Massenparteien gab, unter<br />
Umständen auch gegen das Parlament zu mobilisieren war (vgl. Manin 1997: 202-206).<br />
Bis zum Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hatten jedoch Parteien die Parlamente als Machtzentren in<br />
den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt. Ausgehend von der Verallgemeinerung des Wahlrechts veränderten<br />
sich die Parteiensysteme <strong>und</strong> begannen die Klassenspaltung der Gesellschaft zu reflektieren.<br />
Die Kandidatenaufstellung wird nun von den Parteiorganisationen kontrolliert. Die<br />
Kandidaten einer Partei vertreten ein gemeinsames Programm <strong>und</strong> als Parlamentarier werden<br />
sie der Fraktionsdisziplin unterworfen. Die Parlamente verlieren ihren deliberativen Charakter<br />
<strong>und</strong> auch die Medienöffentlichkeit wird durch den Parteienkonflikt geprägt. (vgl. Manin 1997:<br />
206-218). Obwohl Manin die Entwicklung zur zweiten Phase, der Parteiendemokratie, aus<br />
<strong>politische</strong>n Veränderungen erklärt, lassen sie sich auch plausibel auf das Akkumulationsregime<br />
<strong>und</strong> die <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen des fordistischen Kapitalismus beziehen. Manin<br />
selbst stellt fest, der Pluralismus auf der <strong>politische</strong>n Ebene spiegele in der Parteiendemokratie<br />
7 Vgl. Crouch 2008 <strong>und</strong> in Hinsicht auf die zerstörte Demokratiefähigkeit der Individuen noch zugespitzter<br />
Blühdorn 2011.<br />
12
die Teilung der Gesellschaft in wenige Lager mit fest umrissenen sozio-ökonomischen<br />
Interessen, Werten <strong>und</strong> Teilkulturen. Jedes dieser Lager bilde eine eigene Gemeinschaft mit<br />
starken Identifikationsbeziehungen. Die Wähler entschieden sich für die Kandidaten einer<br />
Partei, „because they saw them as members of the community to which they belonged themselves”<br />
(Manin 1997: 209). Umgekehrt blieben die Repräsentanten an eine der Politik vorausgehende<br />
Vergemeinschaftung durch sozio-kulturelle Gemeinsamkeiten geb<strong>und</strong>en. Manin<br />
sieht darin eine Grenze der Verselbständigung der Repräsentanten gegenüber ihrer Basis <strong>und</strong><br />
somit eine Annäherung an das demokratische Ideal der Identität von Regierenden <strong>und</strong><br />
Regierten (Manin 1997: 233).<br />
Auch wenn Manin das Maß der gesellschaftlichen Determination der <strong>politische</strong>n Konfliktlinien<br />
gegenüber dem aktiven, diese Konflikte mit konstruierenden Beitrag der <strong>politische</strong>n<br />
Repräsentation überschätzen dürfte 8 , so trifft das von ihm skizzierte Bild doch wichtige<br />
Besonderheiten der repräsentativen Demokratie im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Dazu<br />
gehören die Dominanz der Konfliktlinie Arbeit-Kapital <strong>und</strong> die enge Bindung der Parteien an<br />
sozio-kulturelle Großgruppen, die sich - was Manin nicht thematisiert - auch durch ihre Haltung<br />
zu Armut <strong>und</strong> gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> unterscheiden <strong>und</strong> voneinander abgrenzen.<br />
In allen europäischen Demokratien existierten (<strong>und</strong> existieren noch) im sozialen Umfeld der<br />
großen Parteien starke gesellschaftliche Organisationen <strong>und</strong> spezifische, jeweils zu Traditionen<br />
verfestigte Werte im Umgang mit sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Armut. Wichtig in unserem<br />
Zusammenhang scheint darauf bezogen nicht nur, dass durch die enge Bindung von Organisationen<br />
wie der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt an die entsprechenden Parteien Kanäle<br />
existierten, über die schwache Interessen <strong>politische</strong> Berücksichtigung finden konnten (dazu<br />
etwa Bode 2009). Bedeutsam scheint auch, dass die Bindung der Parteien an sozio-kulturelle<br />
Großgruppen <strong>und</strong> deren Werte es aussichtsreich erscheinen ließ, den <strong>politische</strong>n Wettbewerb<br />
auch über unterschiedliche Integrationsperspektiven für die von <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Benachteiligungen<br />
betroffenen Gruppen zu führen. Hier lagen starke weltanschauliche Mobilisierungspotentiale.<br />
Dies ließe sich etwa am Einfluss der katholischen Soziallehre auf die Programmatik<br />
konservativer Parteien oder dem von Solidaritätsnormen der Arbeiterkultur auf die<br />
Programmatik sozialdemokratischer Parteien konkretisieren. Sowohl in Bezug auf die Sozialstruktur<br />
als auch in Bezug auf den sozio-kulturell geprägten Umgang mit den daraus resultierenden<br />
Konflikten begünstigt die <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur der sozialstaatlichen Industriegesellschaft<br />
also klare Konfliktlinien, über die der Wähler nachvollziehbar auf <strong>politische</strong> Kräfteverhältnisse<br />
<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>satzentscheidungen einwirken kann.<br />
8 Kritisch zu der entsprechenden Tendenz in der Parteienforschung vgl. Thaa 2011.<br />
13
Manins dritte, im Verlauf der 1970er Jahre einsetzende Phase zeichnet sich durch die Schwächung<br />
der gesellschaftlichen Lager <strong>und</strong> eine Lockerung der Beziehung zwischen den <strong>politische</strong>n<br />
Repräsentanten <strong>und</strong> ihrer sozio-kulturellen Basis aus. Parteiorganisationen <strong>und</strong> -<br />
programme verlieren an Bedeutung, wichtiger wird dagegen das Medienimage <strong>politische</strong>r<br />
Führer. Statt im Wahlakt eine mit seiner unmittelbaren sozialen Umgebung geteilte Identität<br />
auszudrücken, entscheidet der Wähler stärker situativ <strong>und</strong> reagiert auf medienvermittelte,<br />
durch Politiker <strong>und</strong> ihre Kommunikationsstrategen aktivierte cleavages. Die Politiker sind<br />
demnach nicht mehr an einige wenige, vorgegebene Konfliktlinien geb<strong>und</strong>en, sondern<br />
dramatisieren aus einer Vielzahl verschiedener <strong>und</strong> sich rasch ändernder Konflikte diejenigen,<br />
von denen sie sich Vorteile versprechen. An die Stelle von sozial verankerten Parteiaktivisten<br />
treten Marketingexperten, die Kampagnen gestalten <strong>und</strong> images der Kandidaten kreieren. Die<br />
stark von der Eigenlogik der Medien bestimmte Öffentlichkeit erhält ein neues Gewicht. Statt<br />
im Wahlakt ihre gesellschaftliche oder kulturelle Identität auszudrücken, reagieren die Wähler<br />
auf die Angebote der Parteien. Dieses neue Verhältnis zwischen Politik <strong>und</strong> Bürger beschreibt<br />
Manin mit der Metapher von Bühne <strong>und</strong> Zuschauer (Manin 1997: 218-235).<br />
2.4 Doppelte Abkoppelung <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Konfliktunfähigkeit der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />
Unterstellen wir, dass diese Entwicklung in Gr<strong>und</strong>zügen zutrifft, so scheinen Entsprechungen<br />
zum oben skizzierten Wandel der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen auf der Hand zu liegen. Zum einen<br />
leuchtet unmittelbar ein, dass eine aus industriellen Kooperationsverhältnissen hervorgehende<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sstruktur die Bindung der Repräsentanten an gesellschaftliche Großgruppen<br />
erleichtert <strong>und</strong> diese <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur in der Parteiendemokratie Manins eine „passende“<br />
Form <strong>politische</strong>r Repräsentation fand. Die kooperative <strong>Ungleichheit</strong> der Industriegesellschaft<br />
bildet so gesehen die gesellschaftliche Gr<strong>und</strong>lage einer insbesondere durch die Konfliktlinie<br />
zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital geprägten Parteiendemokratie. Verliert dieser Typus der<br />
<strong>Ungleichheit</strong> seine prägende Kraft, muss sich das Parteiensystem neu gruppieren. Die strategischen<br />
Umorientierungen der großen Parteien während der letzten zwei Jahrzehnte, insbesondere<br />
die sozialdemokratische Wende zu „New Labour“, illustrieren diese „Freisetzung“<br />
der <strong>politische</strong>n Repräsentanten <strong>und</strong> ihre Suche nach einer neuen, Wahlerfolge versprechenden<br />
Strategie.<br />
Zum zweiten, von den <strong>politische</strong>n Veränderungen aus gedacht, hat der Übergang von der<br />
Parteien- zur Publikumsdemokratie auch erhebliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten der<br />
Thematisierung von Armut <strong>und</strong> sozialer <strong>Ungleichheit</strong>. Die Aktualisierung milieuspezifischer<br />
Werte im Rahmen programmatischer Konflikte um die „richtige“ Politik zu Armut <strong>und</strong> sozi-<br />
14
aler <strong>Ungleichheit</strong> kann sich nun im Wettbewerb um Stimmungen <strong>und</strong> Stimmen als Nachteil<br />
erweisen. Dies ist besonders dann zu erwarten, wenn mit derartigen Werten vermeintlich<br />
angestaubte Vorstellungen (wie etwa die als „Herz-Jesu-Sozialismus“ diffamierte Orientierung<br />
an der katholischen Soziallehre) oder gar eine imageschädigende Nähe zu den Verlierergruppen<br />
der Gesellschaft verb<strong>und</strong>en sind.<br />
Für die von den skizzierten neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen Betroffenen erwächst daraus die<br />
Drohung einer doppelten Abkoppelung: erstens verlieren sie aufgr<strong>und</strong> ihrer marginalisierten<br />
Stellung in den gesellschaftlichen Kooperationsverhältnissen, der Entkollektivierung <strong>und</strong><br />
„negativen Individualisierung“ (Castel 2000a: 403) der <strong>Ungleichheit</strong> den Anschluss an die<br />
Konfliktlinie Kapital-Arbeit <strong>und</strong> können nicht mehr damit rechnen, dass ihre Interessen von<br />
den klassischen Organisationen <strong>und</strong> Parteien der Arbeiterbewegung vertreten werden. Und<br />
zweitens geht ihnen auf der symbolischen Ebene der <strong>politische</strong>n Repräsentation mit den von<br />
den traditionellen Milieus der großen Volksparteien vertretenen Werten eines solidarischen<br />
oder karitativ unterstützenden Umgangs mit <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Armut auch der Resonanzboden<br />
für die Formulierung ihrer Interessen verloren.<br />
Insbesondere der zweite Punkt verweist auf einen Zusammenhang, der über die mangelhafte<br />
Berücksichtigung schwacher Interessen hinaus das Funktionieren demokratischer <strong>politische</strong>r<br />
Repräsentation selbst zu gefährden droht. Denn <strong>politische</strong> Repräsentation lässt sich als einfacher<br />
Transport partikularer gesellschaftlicher Interessen in die Sphäre der Politik nicht<br />
adäquat verstehen. Politische Repräsentation bezieht Interessen auf <strong>und</strong> begründet sie mit<br />
widerstreitenden Interpretationen abstrakter, als allgemeingültig unterstellter Werte <strong>und</strong><br />
Prinzipien einer <strong>politische</strong>n Gemeinschaft. 9 Erst dadurch wird es möglich, Programme zu<br />
formulieren, die den Anspruch erheben können, gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektiven<br />
zu bieten <strong>und</strong> diese dem Bürger zur Wahl zu stellen. In dem Maße, wie die diagnostizierte<br />
Schwächung gesellschaftlicher Großgruppen <strong>und</strong> ihrer Milieus zutrifft <strong>und</strong> vergleichsweise<br />
stabile Konfliktlinien erodieren, kann auch diese, auf der Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation zu<br />
erbringende Leistung in Gefahr geraten. Claude Lefort <strong>und</strong> Marcel Gauchet verstehen die<br />
repräsentative Demokratie aus dem spezifischen historischen Kontext der europäischen<br />
Geschichte als das Ergebnis der Übersetzung des Klassenkonflikts zwischen Arbeit <strong>und</strong><br />
Kapital in einen <strong>politische</strong>n Kampf um Macht (Lefort/Gauchet 1990). 10 Damit fragt sich dann,<br />
9 Dieser Aspekt <strong>politische</strong>r Repräsentation wird vor allen in der französischen Diskussion von Claude Lefort,<br />
Marcel Gauchet <strong>und</strong> Pierre Rosanvallon betont. Für einen Überblick dazu vgl. Weymans 2006.<br />
10 „Die demokratische Herrschaftsform begründet sich in dem anfänglichen Gestus, die Legitimität des Konflikts<br />
in der Gesellschaft anzuerkennen … Oder anders gesagt, die Demokratie kommt notwendigerweise in jenem<br />
Zeitalter auf, in dem der Klassenkampf für sich selbst identifizierbar wird. Doch indem sie dem Konflikt auf der<br />
15
über die Überlegungen Manins hinausgehend, ob die Lösung der <strong>politische</strong>n Repräsentanten<br />
von gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>konflikten bzw. die bislang kaum beobachtbare Umsetzung der<br />
neuen Phänomene sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in <strong>politische</strong> Alternativen, über einen Formwandel<br />
zur Publikumsdemokratie hinaus, eine Krise der repräsentativen Demokratie anzeigt.<br />
Jedenfalls liegt die Kehrseite einer größeren Unabhängigkeit der <strong>politische</strong>n Eliten von soziokulturellen<br />
Milieus in der Aufwertung einer marktförmigen, inhaltlich beliebigeren Konkurrenz<br />
um attraktive Themen, Kompetenzzuschreibungen <strong>und</strong> Images sowie nicht zuletzt um<br />
die Nähe zum herrschenden Zeitgeist, der in der Regel <strong>politische</strong>n Konfliktlinien nur mehr<br />
schwer zuordenbar scheint. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist die öffentliche Thematisierung <strong>und</strong><br />
<strong>politische</strong> Dramatisierung der Perspektiven <strong>und</strong> Interessen gesellschaftlicher Verlierergruppen<br />
durch <strong>politische</strong> Parteien eher unwahrscheinlich. Franz Walter formuliert zugespitzt: „Es gab<br />
Zeiten, da wurden die Outcasts <strong>und</strong> Unterdrückten dieser Welt politisch umschwärmt <strong>und</strong><br />
literarisch mythologisiert. Das Prekariat des Postindustrialismus hingegen wurde <strong>und</strong> wird<br />
eher verachtet“ (Walter 2011: 18). Speziell für Deutschland sieht Serge Paugam darüber<br />
hinaus einen „starken kollektiven Widerstand gegen die offizielle Anerkennung der Armut“,<br />
den er mit dem durch Wirtschaftsw<strong>und</strong>er <strong>und</strong> ökonomischen Erfolg geprägten Selbstbild der<br />
b<strong>und</strong>esdeutschen Gesellschaft erklärt (Paugam 2008: 282).<br />
Aus der Sicht einer professionalisierten, auf den <strong>politische</strong>n Wettbewerb orientierten<br />
Kommunikationsstrategie bildet die Nähe zu gesellschaftlichen Verlierergruppen ein hohes<br />
Risiko. Mit dem Wandel der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen <strong>und</strong> der Repräsentationsbeziehungen<br />
scheint sich die Politisierbarkeit sozialer Fragen im Rahmen der Parteiendemokratie gr<strong>und</strong>legend<br />
verschlechtert zu haben. Die Interessen der neuen, von Ausgrenzung <strong>und</strong> Prekarisierung<br />
betroffenen Armen verlieren ihre Konfliktfähigkeit deshalb womöglich nicht nur im Sinn<br />
ihrer kaum mehr vorhandenen Organisations- <strong>und</strong> Sanktionspotentiale, sondern darüber<br />
hinaus auch in dem Sinn, dass sie kaum mehr „issuetauglich“ sind: Von ihnen ausgehend lässt<br />
sich - u. U. trotz der Zunahme von Ausgrenzungs- <strong>und</strong> Armutserfahrungen - keine parteipolitisch<br />
erfolgversprechende Konfliktlinie mehr aufbauen. 11 Der Begriff der „schwachen Interessen“<br />
gewinnt damit eine neue Dimension. Er bezieht sich neben der Organisations- <strong>und</strong><br />
Konfliktfähigkeit im Sinne der klassischen Disparitätentheorie Offes (Offe 1972) auf die<br />
Issuetauglichkeit im <strong>politische</strong>n Wettbewerb.<br />
Ebene des offenen Wettbewerbs um die Macht Ausdruck verleiht, verschafft sie ihm einen symbolischen<br />
Ausgang, der die Drohung des Auseinanderbrechens abzuwenden vermag …“ (Lefort/Gauchet 1990: 91).<br />
11 In diesem Sinn fragt auch Paul Nolte, warum die Politik heute „überhaupt in der Öffentlichkeit ein so<br />
unappetitliches Thema wie soziale <strong>Ungleichheit</strong>“ ansprechen sollte (Nolte 2004: 39).<br />
16
Die soweit lediglich als plausible Vermutung begründeten Phänomene der doppelten<br />
Abkoppelung <strong>und</strong> der fehlenden <strong>politische</strong>n Konfliktfähigkeit sollen im Folgenden präziser<br />
bestimmt werden. Dazu wird es erforderlich sein, die Situation der von prekarisierender<br />
<strong>und</strong> tendenziell exkludierender <strong>Ungleichheit</strong> Betroffenen etwas genauer zu erfassen.<br />
3. Die sozialwissenschaftliche Debatte zur neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />
Bereits ein erster oberflächlicher Blick in die einschlägige Literatur macht deutlich, dass die<br />
oben von Kronauers Exklusionsbegriff ausgehende Charakterisierung der Neuartigkeit sozialer<br />
<strong>Ungleichheit</strong> keinesfalls unumstritten ist. Ich werde deshalb zunächst zur Gewinnung eines<br />
groben Überblicks eine Systematisierung der Debatte durch Thomas Meyer wiedergeben, um<br />
dann auf die für meine These der doppelten Abspaltung <strong>und</strong> der fehlenden Issuetauglichkeit<br />
wichtige Kontroverse zum Verhältnis von Exklusions- <strong>und</strong> Prekarisierungstendenzen einzugehen.<br />
Dabei werde ich etwas ausführlicher sowohl auf die begriffliche Debatte als auch auf<br />
die Auseinandersetzungen um die empirischen Bef<strong>und</strong>e eingehen.<br />
3.1 Ein schematischer Überblick<br />
Die vielfach empirisch belegbare Zunahme von Armut <strong>und</strong> sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, der Rückgang<br />
sicherer Normalarbeitsplätze <strong>und</strong> die Ausweitung des Niedriglohnbereichs 12 haben in<br />
den Sozialwissenschaften zu einer Renaissance der Sozialstruktur- <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
geführt. Während die 1980er <strong>und</strong> frühen 1990er Jahre noch die Überwindung einer<br />
in Oben <strong>und</strong> Unten geteilten Gesellschaftsstruktur verkündeten, das Denken in „Ständen,<br />
Klassen oder Schichten für fragwürdig“ erklärten (Beck 1986: 139) <strong>und</strong> stattdessen von der<br />
Befreiung aus dem „Erfahrungs- <strong>und</strong> Kontrollband eines klassenkulturell geprägten Sozialmilieus“<br />
(Beck 1986: 129) oder gleich von einer durch die individuelle Wahl des Lebensstils<br />
geprägten „Erlebnis-Gesellschaft“ (Schulze 1992) sprachen, rückten im Laufe der 1990er<br />
Jahre die trotz Wirtschaftswachstum zunehmende <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> die Verfestigung benachteiligter<br />
sozialer Lagen wieder ins Blickfeld. Das Lebensstil- <strong>und</strong> Individualisierungsparadigma<br />
wurde von der Thematisierung neuer, aber in mancher Hinsicht an die alte<br />
Klassengesellschaft erinnernder <strong>Ungleichheit</strong>en an den Rand gedrängt. Dabei fällt es schwer,<br />
sich zu den verschiedenen, von marxistischen Klassenanalysen bis zu kulturkritischen Klagen<br />
über die Lebensweise der Unterschicht reichenden Ansätzen einen Überblick zu verschaffen.<br />
Thomas Meyer unterscheidet in diesem Feld vier verschiedene Debatten: den Unterschichten-<br />
12 Zu den Quellen vgl. Anm. 1<br />
17
<strong>und</strong> Prekarisierungsdiskurs, den Exklusionsdiskurs, den Diskurs über die Bedrohung der<br />
Mittelschichten <strong>und</strong> den Gerechtigkeitsdiskurs (Meyer 2010).<br />
Als Unterschichten- <strong>und</strong> Prekarisierungsdiskurs bezeichnet er zum einen die kulturalistisch<br />
argumentierenden oder durch die Milieuforschung geprägten Arbeiten zu einer sich in<br />
Lebensstilen verfestigenden Unterschicht. Dazu rechnet er die konservativ argumentierenden<br />
Veröffentlichungen Paul Noltes, der die Abkoppelung der unteren Schichten von bürgerlichen<br />
Leitbildern beklagt (Nolte 2004), aber auch die von der Milieuforschung ausgehende Studie<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung, die neun verschiedene, durch Einstellungen <strong>und</strong> Werte konstituierte<br />
<strong>politische</strong> Milieus unterscheidet <strong>und</strong> 8% der Bevölkerung einem „abgehängten Prekariat“<br />
zuordnet (Neugebauer 2008: 32).<br />
Davon zwar abgegrenzt, aber ebenfalls unter den Prekarisierungsdiskurs subsumiert, nennt<br />
Meyer Arbeiten, die an Veränderungen in der Arbeitswelt anknüpfen, die durch die Ausweitung<br />
des Niedriglohnbereichs <strong>und</strong> atypischer Beschäftigungsverhältnisse oder auch durch die<br />
Benachteiligung bildungs- <strong>und</strong> qualifikationsschwacher Jugendlicher zu prekären Lebenslagen<br />
der Betroffenen führen.<br />
Den Exklusionsdiskurs definiert Meyer insbesondere durch seine Betonung der Erwerbsarbeit<br />
als entscheidenden Mechanismus gesellschaftlicher Inklusion. Der Exklusionsdiskurs<br />
ersetze die Oben-Unten-Unterscheidung der traditionellen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung durch die<br />
Differenz zwischen Drinnen <strong>und</strong> Draußen. Obwohl auch die Ausgeschlossenen ein Teil der<br />
Gesellschaft bleiben, akzentuiert dieser Diskurs weniger graduelle Benachteiligungen als die<br />
systematische Versagung von Anerkennung <strong>und</strong> Teilnahme für ganze Bevölkerungsgruppen.<br />
Der Mittelschichten- <strong>und</strong> Prekaritätsdiskurs konzentriert sich im Gegensatz zum erstgenannten<br />
Diskurs nicht auf die bereits von Ausgrenzung <strong>und</strong> Abstieg Betroffenen, sondern auf<br />
die Bedrohung der Mittelschichten durch die Veränderungen der Arbeitswelt <strong>und</strong> die marktorientierten<br />
Reformen des Sozialstaats. Den Hintergr<strong>und</strong> weit verbreiteter Gefühle der Unsicherheit<br />
<strong>und</strong> Bedrohung bilden Umbrüche in der Erwerbsarbeit, die Flexibilitätszwänge schaffen<br />
<strong>und</strong> die Kalkulierbarkeit von beruflichen Karrieren erschweren oder ganz unmöglich<br />
machen. Als Folge davon greifen auch in höheren Rängen der Statushierarchie Prekarisierungsängste<br />
um sich. Als Teil dieses Diskurses sieht Meyer zudem Reaktionen auf die jüngeren<br />
Reformen des Sozialstaates, die das bisherige Prinzip des Statuserhalts <strong>und</strong> der Lebensstandardsicherung<br />
durch die Gewährleistung einer Gr<strong>und</strong>versorgung ersetzen.<br />
Schließlich führt Meyer als vierten Diskurs die Auseinandersetzung um Gerechtigkeitsprinzipien<br />
an. Dies begründet er zum einen damit, dass die Zweifel an den herkömmlichen wohlfahrtsstaatlichen<br />
Versprechen wie Aufstieg, Sicherheit <strong>und</strong> Fairness zugenommen hätten, zum<br />
18
anderen aber mit der Erosion des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit. Letzteres rücke nicht<br />
nur in den Fokus durch ein Bildungssystem, das sich als unfähig erwiesen habe, Kindern <strong>und</strong><br />
Jugendlichen verschiedener Herkunft Chancengleichheit zu bieten. Eine wichtige Rolle spiele<br />
zudem die gr<strong>und</strong>sätzlichere These, wonach sich im Zeitalter des globalen Marktkapitalismus<br />
soziale <strong>Ungleichheit</strong> nicht mehr im Horizont des Leistungsprinzips rechtfertigen lasse.<br />
Für unsere These einer Abkoppelung der von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen Betroffenen<br />
von den politisch repräsentierten Konfliktlinien <strong>und</strong> „Issues“ scheint es angebracht, sich<br />
zunächst einmal den zweiten <strong>und</strong> dritten Diskurs Meyers genauer anzuschauen. Denn auf den<br />
ersten Blick widersprechen sie sich: Entweder das Hauptkennzeichen der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />
liegt im Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von Anerkennung <strong>und</strong> Teilnahme - dann<br />
scheint ihre defizitäre <strong>politische</strong> Repräsentation nur eine logische Konsequenz ihrer gesellschaftlichen<br />
Exklusion zu sein. Oder aber das Hauptmerkmal der neuen <strong>Ungleichheit</strong> liegt in<br />
weit in die Mittelschichten hineinreichenden Flexibilitätszwängen, Statusgefährdungen <strong>und</strong><br />
Abstiegsängsten - dann wäre zu fragen, ob in dieser Gemeinsamkeit nicht die Gr<strong>und</strong>lage einer<br />
breiten, über einzelne Statusgruppen hinausreichenden Politisierung läge.<br />
Diese Differenz hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die zur Verfügung stehenden<br />
symbolischen Ressourcen <strong>politische</strong>r Repräsentation, die aber in der Unterscheidung Meyers<br />
noch deutlicher in den beiden anderen Diskursen angesprochen werden: dem Unterschichts<strong>und</strong><br />
dem Gerechtigkeitsdiskurs.<br />
a) Der Bezug zur Systemtheorie<br />
3.2 Exklusion oder Prekarisierung<br />
3.2.1 Die begriffliche Debatte<br />
In einer durch die Schwächung manifester vertikaler Klassen- <strong>und</strong> Schichtstrukturen gekennzeichneten<br />
Gesellschaft scheint der Exklusionsbegriff auf den ersten Blick geeignet, die<br />
Weiterexistenz sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu erfassen. Pointiert formuliert Heinz Bude:<br />
„Die Frage ist nicht, wer oben <strong>und</strong> wer unten, sondern wer drinnen <strong>und</strong> wer draußen<br />
ist“ (Bude 2008: 13).<br />
In dieser binären Zuspitzung auf den Gegensatz von Inklusion <strong>und</strong> Exklusion erinnert die<br />
Begrifflichkeit an die funktionalistische Systemtheorie von Niklas Luhmann. Deren Gr<strong>und</strong>aussage<br />
zu modernen Gesellschaften lautet, dass an die Stelle vertikaler Stratifizierung die<br />
Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme getreten sei. Eine in Funktionssysteme wie<br />
Wirtschaft, Wissenschaft, Recht <strong>und</strong> Politik ausdifferenzierte Gesellschaft kennt demnach<br />
19
keine Instanz, die Individuen eine bestimmte hierarchische Position zuweisen könnte. Daraus<br />
ergibt sich, dass <strong>Ungleichheit</strong>en „nur gerechtfertigt werden können, wenn sie von dem jeweiligen<br />
Funktionssystem selbst ausgehen“ (Luhmann 1995: 233). Inklusion regeln demnach die<br />
als Kommunikationszusammenhänge beschriebenen Teilsysteme, welche die Individuen mit<br />
ihrem jeweiligen binären Code (wahr/unwahr; recht/unrecht, etc.) adressieren (vgl. Nassehi<br />
2006: 50). Inklusion bedeutet also „Berücksichtigung oder Bezeichnung von Personen in<br />
Sozialsystemen“ (Stichweh 2000: 159).<br />
Mit dieser Sicht auf moderne Gesellschaften verband Luhmann ursprünglich den evolutionären<br />
Anspruch, es läge „in der Logik funktionaler Differenzierung, jedem Teilnehmer am<br />
gesellschaftlichen Leben Zugang zu allen Funktionen zu erschließen“ (Luhmann 1980: 168).<br />
Im Prinzip sollte in einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft jeder rechtsfähig<br />
sein, an der Wirtschaft teilnehmen können, die Schule besuchen usw..<br />
„Und wenn jemand seine Chancen, an Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm<br />
das individuell zugerechnet“ (Luhmann 1997: 625).<br />
Rudolf Stichweh betont noch im Jahr 2000, dass in einer entlang von Funktionen differenzierten<br />
Gesellschaft, jedenfalls theoretisch, „die Vollinklusion aller Gesellschaftsmitglieder in<br />
jedes der Funktionssysteme“ zu erwarten sei (Stichweh 2000: 162). 13<br />
Allerdings sind Individuen immer nur partiell, so weit sie eben vom spezifischen Code eines<br />
Teilsystems adressiert werden, in dieses inkludiert. Exklusion bezeichnet dann erst einmal nur<br />
die notwendige Kehrseite der Inklusion, nicht aber ein soziales Problem. Denn wo es um<br />
Rechtsfragen geht, zählt der religiöse Glaube nichts, die Teilnahme an Wahlen hängt nicht<br />
vom Einkommen ab, die Fälligkeit einer Zahlung nicht vom Bildungsstand. Exklusionen<br />
ermöglichen demnach überhaupt erst, dass ein Individuum - als Konsument, als Bürger oder<br />
qua welcher Adressierung auch immer - in verschiedene Teilsysteme inkludiert werden kann.<br />
Die Funktionssysteme können zwar nach eigenen Kriterien differenzieren <strong>und</strong> darüber<br />
entscheiden, wie weit es jemand bringt (ob er Recht bekommt, sein Wissen als wahr anerkannt<br />
wird etc.), sie können jedoch niemand gesellschaftlich exkludieren. Somit, meint<br />
Luhmann, „ist die Barbarei verschw<strong>und</strong>en“ (Luhmann 1999: 143). Damit scheint zugleich<br />
aber auch die systemtheoretische Unterscheidung von Inklusion <strong>und</strong> Exklusion untauglich für<br />
die <strong>Ungleichheit</strong>sforschung. Denn wenn ihr zufolge der überschuldete Kleinbauer in Indien<br />
ebenso ins Teilsystem Wirtschaft inkludiert ist wie der Investmentbanker in Frankfurt (beide<br />
13 So heißt es auch bei Luhmann über Individuen in funktional differenzierten Gesellschaften: „Sie müssen an<br />
allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich <strong>und</strong> in unter welchem<br />
Code ihre Kommunikation eingebracht wird“ (Luhmann 1997: 625).<br />
20
aber als Hindu, Ehemann oder Bürger vom Wirtschaftssystem exkludiert), kann sie das<br />
Phänomen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> offensichtlich nicht erfassen.<br />
Dieses Defizit blieb schließlich auch den Systemtheoretikern <strong>und</strong> ihrem Meister, Niklas<br />
Luhmann, nicht verborgen. Besondere Prominenz erlangten dabei die Überlegungen<br />
Luhmanns, die er nach einem Besuch Lateinamerikas <strong>und</strong> der dort von ihm zur Kenntnis<br />
genommenen Favelas anstellte (vgl. Kronauer 2002: 124-126). Luhmann konstatiert, „… dass<br />
es doch Exklusionen gibt, <strong>und</strong> zwar massenhaft <strong>und</strong> in einer Art Elend, das sich jeder<br />
Beschreibung entzieht“ (Luhmann 1999: 147). In seinem Versuch, das unbestreitbare Phänomen<br />
begrifflich zu fassen, wendet er sich zunächst gegen übliche Ausbeutungs- <strong>und</strong> Marginalisierungstheorien,<br />
die vor allem „Adressaten für Vorwürfe“ suchten <strong>und</strong> dabei nach wie vor<br />
eine stratifizierte Gesellschaft unterstellten (Luhmann 1999: 147). Statt die Phänomene auf<br />
Aktivitäten irgendwelcher herrschenden Kreise zurückzuführen, will er sie weiter aus seiner<br />
Theorie der Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme erklären. Dazu revidiert er nicht<br />
etwa die oben skizzierte Logik funktionaler Differenzierung, die auf Vollinklusion der Gesellschaftsmitglieder<br />
hinausläuft, sondern er ändert ihren Status: Aus der Logik wird ein unrealisierbares<br />
Postulat. Entscheidend ist dabei, dass Luhmann die Unrealisierbarkeit keineswegs<br />
als temporäres empirisches Phänomen begreift, sondern aus der Funktionsweise der Teilsysteme<br />
selbst ableitet:<br />
„Denn funktionale Differenzierung kann, anders als die Selbstbeschreibung der<br />
Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme<br />
schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark,<br />
dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen“<br />
(Luhmann 1999: 148).<br />
Exklusion wäre damit ein kumulativer Effekt des normalen Funktionierens von Funktionssystemen.<br />
Wer etwa durch die Operationen des Bildungssystems keine brauchbare Ausbildung<br />
bekommt, findet keine Arbeit, wer keine Arbeit hat, verfügt über kein Einkommen usw.<br />
Die differenzierte Adressierung durch ein Funktionssystem führt zum Ausschluss von anderen.<br />
Das leuchtet zwar empirisch ein, passt aber nicht zur behaupteten Inklusionslogik funktional<br />
ausdifferenzierter Gesellschaften. Eine Logik, die zwingend ihr eigenes Gegenteil<br />
hervorbringt, ist keine mehr. Kronauer weist deshalb zu recht darauf hin, dass Luhmann mit<br />
dieser Begründung von Exklusion aus dem Funktionieren von Teilsystemen die Gr<strong>und</strong>annahmen<br />
seiner Systemtheorie dementiert (Kronauer 2002: 127).<br />
Das sehen Systemtheoretiker ähnlich. Armin Nassehi wirft Luhmann zum einen vor, die<br />
Logik der Vollinklusion noch zu sehr an eine von Parsons stammende evolutionäre Perspektive<br />
zu binden, andererseits mit seiner Wende zu einem als Kumulationseffekt mangelhafter<br />
21
Inklusion zu verstehenden Exklusionsbegriff in den neunziger Jahren zu übersehen, dass auch<br />
die aus „normalen“ Lebensformen Verdrängten immer noch auf dem Bildschirm der Funktionssysteme<br />
auftauchten, sei es auch nur als säumige Zahler oder als Hilfsbedürftige (Nassehi<br />
2004: 330). In beiden Fällen unterstelle Luhmann, die Inklusion durch Funktionssysteme sei<br />
bereits die Lösung, „doch durch das bloße Faktum der Inklusion … ist das strukturelle<br />
Problem individueller Lebenslagen noch keineswegs angemessen beschrieben“ (Nassehi<br />
2006: 52).<br />
Um dem Phänomen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> näher zu kommen, schlägt Nassehi deshalb eine<br />
theoretische Umstellung von der Systemreferenz Gesellschaft auf die Systemreferenz Organisation<br />
vor. Da Organisationen auf Mitgliedschaft basieren <strong>und</strong> sich über Entscheidungen<br />
reproduzieren, bildet Exklusion für sie den Normalfall. Organisationen exkludieren qua definitionem,<br />
sie sind „Exklusionsmaschinen“ (Nassehi 2004: 338). Nicht nur, dass auch Funktionssysteme<br />
Organisationen ausbilden (die Wirtschaft kennt Unternehmen, das Bildungssystem<br />
Schulen, die Wissenschaft Universitäten usw.). Die moderne Gesellschaft insgesamt<br />
zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Universalismus der Vollinklusion von Beginn an am<br />
prinzipiellen Partikularismus von Organisationen brach, Menschenrechte <strong>und</strong> Gleichheitspostulate<br />
etwa an der Mitgliedschaft im Nationalstaat (Nassehi 2006: 61). Bezogen auf Organisationen<br />
stellt Exklusion dann kein theoretisches Problem mehr dar. Die neuen Formen<br />
sozialer <strong>Ungleichheit</strong> lassen sich aus dieser Perspektive als Lebenslagen beschreiben, „denen<br />
das Andocken an das Organisationsarrangement der auf Arbeit gestützten Kumulation von<br />
Organisationsmitgliedschaften nicht mehr gelingt“ (Nassehi 2006: 64).<br />
Indem Nassehi Exklusionseffekte den Organisationen zuschreibt, scheint er die Funktionssysteme<br />
davon freizusprechen. Seine Argumentation ist jedoch komplizierter. Ihr zufolge<br />
gelang es der industriellen Moderne nämlich nur durch ungleiche Inklusion in Organisationen<br />
(der Arbeit, der Fürsorge, der <strong>politische</strong>n Teilhabe, der rechtlichen Anspruchsregulierung u.a.)<br />
das von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgehende Versprechen der<br />
Vollinklusion wenigstens partiell einzuhalten. Möglich wurde dies durch eine „primär politisch<br />
induzierte Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ (Nassehi 2006: 63), sprich: durch den<br />
Nationalstaat <strong>und</strong> die in seinem Rahmen existierenden „Organisationsarrangements“. Die<br />
klassische Moderne lasse „die Inklusion von Individuen in die Gesellschaft über den Umweg<br />
der Organisationsmitgliedschaft laufen“ (Nassehi 2006: 61).<br />
Mit der Entfesselung der Funktionssysteme <strong>und</strong> der primär ökonomischen Selbstbeschreibung<br />
der Gesellschaft in der jüngeren Vergangenheit sollen sich jedoch die „Steuerungsfiktion der<br />
Organisierbarkeit der Funktionssysteme“ <strong>und</strong> die „Gruppensimulation stabiler Organi-<br />
22
sationsmitgliedschaften“ auflösen <strong>und</strong> Exklusionen zum Normalfall für Organisationsmitgliedschaften<br />
werden (Nassehi 2006: 63f.). Damit ist wohl gemeint, dass durch die Verschiebungen<br />
im Verhältnis zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Politik im deregulierten Finanzmarktkapitalismus<br />
die typisch industriegesellschaftlichen Organisationen ihre Inklusionsfähigkeit einbüßen<br />
<strong>und</strong> individuelle Erfahrungen der Exklusion (aus Betrieb, Gewerkschaft, Rentenversicherung,<br />
Vereinen etc.) in unterprivilegierten Lebenslagen kumulieren können. Da die Individuen<br />
dennoch in „vollinklusiven Verhältnissen einer modernen Gesellschaft leben“, können sie sich<br />
nicht mehr dadurch entlasten, dass sie ihre Exklusionserfahrungen der Lage einer bestimmten<br />
Gruppe zuordnen, sondern müssen sie in ihre individuelle Biographie einordnen. Mit der<br />
Zurechnung von Exklusionserfahrungen ist ein interessanter Aspekt der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />
angesprochen, auf den noch zurückzukommen sein wird. Dennoch stellt sich an diesem Punkt<br />
die Frage, ob es zur Erkenntnis von Exklusionen aus Organisationsarrangements einer bis zur<br />
Selbstwidersprüchlichkeit modifizierten Systemtheorie bedarf. 14 Darüber hinaus ist Martin<br />
Kronauer recht zu geben, wenn er feststellt, dass auch die modifizierten Theorien funktionaler<br />
Differenzierung nicht in der Lage sind, die Zentralität des Lohnarbeitsverhältnisses für<br />
<strong>Ungleichheit</strong>s- <strong>und</strong> Exklusionsphänomene zu begründen (Kronauer 2010: 243).<br />
b) Der Exklusionsbegriff der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />
Eine Abgrenzung gegenüber dem systemtheoretischen Bezugsrahmen fällt der soziologischen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sforschung insofern nicht schwer, als der Ursprung ihres Exklusionsbegriffs in<br />
der bereits in den 80er Jahren einsetzenden französischen Debatte über die Gruppen der sogenannten<br />
„exclus“ liegt. Diese Debatte setzt ohne Bezug zur funktionalistischen Systemtheorie<br />
an den sich für bestimmte Gruppen wie Jugendliche, Ungelernte <strong>und</strong> Migranten zuspitzenden<br />
<strong>und</strong> verfestigenden Arbeitsmarktproblemen an (Kronauer 2002: 38-51). Nach Kronauer<br />
zeichnet sich die französische Debatte dabei von Beginn an durch die Berücksichtigung von<br />
zwei Dimensionen des Exklusionsbegriffes aus: den Ausschluss am Arbeitsmarkt <strong>und</strong> die<br />
Schwächung sozialer Einbindung. Dabei soll Exklusion in ihrer ersten Bedeutung nicht nur<br />
Arbeitslosigkeit im engen Sinn erfassen, sondern auch die Formen ungesicherter, befristeter<br />
oder zeitweise unterbrochener Beschäftigung. In der zweiten, auf Sozialbeziehungen gerichteten<br />
Bedeutung, bezieht sich der Begriff auf die Auflösung sozialer Nahbeziehungen, die<br />
Gefährdung der durch sie vermittelten personalen Identität sowie den fehlenden Zugang zu<br />
gesellschaftlichen Institutionen (Kronauer 2002: 43f.).<br />
14<br />
Ausführlicher zu Nasssehis Versuch, das „Problem der Kollektivität“ in die Theorie funktionaler<br />
Differenzierung zu integrieren vgl. Brodocz 2007.<br />
23
Während diese Konzeption von Exklusion im wesentlichen den Ausschluss von sozialer<br />
Wechselseitigkeit in Kooperationsverhältnissen <strong>und</strong> sozialen Netzen meint, identifiziert<br />
Kronauer in der französischen Debatte einen weiteren Exklusionsbegriff, der sich auf die<br />
Teilhabe in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens bezieht. Dabei geht es um den<br />
Ausschluss von wesentlichen Aspekten dessen, was nach gesellschaftlich geteilten Vorstellungen<br />
angemessene Lebenschancen ausmacht: im Bereich des Konsums, der Interessenvertretung,<br />
der materiellen Sicherheit, des Status <strong>und</strong> der Selbstbestimmung (Kronauer 2002:<br />
45). Kronauer sieht in dieser auf Teilhabe bezogenen Bedeutung des Exklusionsbegriffes<br />
einen eigenen Modus der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, der sich nicht auf die Einbindung<br />
in vergesellschaftende Arbeitsteilung <strong>und</strong> in soziale Netze reduzieren lasse. 15 Interdependenz<br />
<strong>und</strong> Partizipation nennt er deshalb unterscheidbare Modi der gesellschaftlichen Zugehörigkeit,<br />
die aufeinander bezogen sind, aber auch in Spannung zueinander treten können (Kronauer<br />
2002: 46).<br />
Dass ein solcher, gewissermaßen drei Dimensionen umfassender Exklusionsbegriff geeignet<br />
sei, die neuen Züge sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu erfassen, ist allerdings umstritten. Robert Castel,<br />
einer der prominentesten Vertreter der französischen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung, hält den Begriff<br />
der Exklusion für zu pauschal <strong>und</strong> zu statisch, um die von einer Dynamik der Entkollektivierung<br />
der Arbeitsbeziehungen ausgehende Wiederkehr sozialer Unsicherheit zu erfassen. Er sei<br />
zu pauschal, weil er die heterogenen Verhältnisse sehr unterschiedlicher Gruppen in eins<br />
setze. Jugendliche, Langzeitarbeitslose <strong>und</strong> Menschen ohne festen Wohnsitz teilten zwar den<br />
Mangel, hätten positiv aber wenig gemein. Und der Begriff sei statisch, weil er für die Betroffenen<br />
einen quasi stabilen Zustand unterstelle <strong>und</strong> nicht erfasse, dass sich Menschen, bevor<br />
sie zu „Ausgeschlossenen“ werden, häufig in einer Situation der Verw<strong>und</strong>barkeit oder Prekarität<br />
befinden. Dieser Prozess der Prekarisierung kumuliere zwar am Sockel der Gesellschaftspyramide,<br />
betreffe jedoch auch Teile des Mittelstands, der seine Qualifikationen<br />
entwertet sehe oder auch von Arbeitslosigkeit betroffen sein könne (Castel 2009: 28-31).<br />
Neben diesen eher phänomenologischen Schwächen ist der Exklusionsbegriff für Castel aber<br />
auch gesellschaftsanalytisch irreführend, weil er eine atomisierte Sichtweise der Gesellschaft<br />
befördere <strong>und</strong> die kollektive Dimension der Auflösungsphänomene ausblende (Castel 2009:<br />
29f.). Mit diesem letzten Aspekt verbindet Castel schließlich eine normativ-<strong>politische</strong> Ablehnung<br />
des Exklusionsbegriffes. Aus seiner Sicht entspricht der Exklusionsbegriff der klassischen<br />
Zielbestimmung der Sozialarbeit. Er orientiere auf die Eingrenzung von Problemgrup-<br />
15 Kronauer sieht hier Parallelen zu T.H. Marshalls Konzept der sozialen Bürgerrechte (social citizenship), das<br />
die Teilhabedimension berücksichtige. Allerdings kritisiert er Marshalls enge Bindung des Bürgerstatus an<br />
Erwerbsarbeit, die heute so nicht mehr möglich sei (Kronauer 2002: 76-95).<br />
24
pen <strong>und</strong> ihre gezielte Betreuung, lenke damit zugleich aber von <strong>Ungleichheit</strong>en <strong>und</strong> ihrem<br />
Abbau ab. Kurz, der Exklusionsbegriff stoße auf breiten Konsens, weil es einfacher sei, das<br />
Problem auf die Ränder der Gesellschaft zu verschieben, als den Prozess der Prekarisierung<br />
<strong>und</strong> seine wirtschaftlichen Ursachen politisch unter Kontrolle zu bringen (Castel 2000: 17f.).<br />
Castel wirft der „Rede vom Ausschluss“ sogar vor, das „Supplement an Seele“ darzustellen,<br />
„das eine Politik benötigt, die die Hegemonie der ökonomischen Gesetze <strong>und</strong> die Diktate des<br />
Finanzkapitals akzeptierte“ (Castel 2000: 15). 16<br />
Martin Kronauer, neben Heinz Bude (Bude 2008) der prominenteste Vertreter des Exklusionsbegriffs<br />
in der deutschsprachigen Debatte, gibt der Kritik Castels partiell recht. Er übernimmt<br />
dessen Warnung vor einem statischen <strong>und</strong> dichotomen Exklusionsbegriff, weil dieser<br />
sowohl die die bereits im Innern der Gesellschaft einsetzende Dynamik, als auch die ökonomischen<br />
Ursachen von Ausgrenzungsprozessen verdecke (Kronauer 2002: 139f.). Ausdrücklich<br />
übernimmt er im 2010 geschriebenen Nachwort zur zweiten Auflage seines Buches<br />
Castels Bild von den drei, durch fließende Übergänge verb<strong>und</strong>enen Zonen: der „Zone der<br />
Integration“, der „Zone der sozialen Verw<strong>und</strong>barkeit“ <strong>und</strong> der „Zone der Entkoppelung“, um<br />
so den Prozesscharakter <strong>und</strong> die transversale Qualität von Exklusionen zu unterstreichen<br />
(Kronauer 2010: 257).<br />
Zudem räumt er ein, der Exklusionsbegriff blende, solange ihm der Maßstab für einen angemessenen<br />
Lebensstandard fehle, Verteilungsfragen aus <strong>und</strong> ziele lediglich auf die Wiedereingliederung<br />
in die gesellschaftliche Hierarchie (Kronauer 2002: 144). Gegen diese Gefahr<br />
glaubt sich Kronauer allerdings durch die dritte, auf angemessene Partizipation am gesellschaftlichen<br />
Leben zielende Dimension seines Ausgrenzungsbegriffs gewappnet <strong>und</strong> verweist<br />
im übrigen darauf, dass auch Castel <strong>und</strong> Paugam den Fluchtpunkt der Prekarisierung in Kategorien<br />
der Nutzlosigkeit <strong>und</strong> des Machtverlustes beschreiben (Kronauer 2002: 140).<br />
Theoretisch will Kronauer die dichotomischen Aporien des Exklusionsbegriffs durch Georg<br />
Simmels Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von „Drinnen“ <strong>und</strong> „Draußen“ in sozialen Konfigurationen<br />
der Ausgrenzung überwinden. Das „Draußen“ der Armen sei so gesehen immer<br />
nur Folge <strong>und</strong> Bestätigung einer <strong>Ungleichheit</strong> im „Drinnen“. Als Prozess betrachtet bedeute<br />
Ausgrenzung deshalb eine Machtverschiebung von wechselseitiger zu einseitiger Abhängig-<br />
16<br />
Zudem vergleicht er die aktuelle Konzentration auf die Ausgeschlossenen mit dem Umgang der<br />
vorindustriellen Gesellschaft mit Bettlern <strong>und</strong> Vagab<strong>und</strong>en. In beiden Fällen vermeide man es, sich dem breiten,<br />
große Volksschichten erfassenden Prozess der Prekarisierung zu stellen <strong>und</strong> befasse sich nur mit dessen<br />
äußersten Spitzen (Castel 2000: 18f.).<br />
25
keit, deren Fluchtpunkt in der Nutz- <strong>und</strong> Machtlosigkeit eines einseitigen Objektstatus liege<br />
(Kronauer 2002: 149). 17<br />
Die Kontroverse um den Exklusionsbegriff verweist auf die offensichtliche Schwierigkeit,<br />
zwei für die neue soziale <strong>Ungleichheit</strong> charakteristische Phänomene unter einen begrifflichen<br />
Hut zu bekommen: nämlich zum einen die weit in die arbeitnehmerische Mitte hineinreichende<br />
Prekarisierung der Arbeitswelt mit zunehmender Beschäftigungsunsicherheit, der<br />
Entwertung erworbener Qualifikationen, sozialen Abstiegserfahrungen <strong>und</strong> materiellen<br />
Einbußen, zum anderen die quantitative Zunahme <strong>und</strong> Verfestigung von Lebenslagen, in<br />
denen die Betroffenen aufgr<strong>und</strong> dauerhafter Arbeitslosigkeit oder Marginalisierung am<br />
Arbeitsmarkt, der Auflösung sozialer Bindungen <strong>und</strong> des Verlusts gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten<br />
als exkludiert bezeichnet werden können. 18 Bemerkenswert ist, dass die<br />
Debatte um die Angemessenheit des Exklusionsbegriffes weniger mit empirischen als mit<br />
gesellschaftsanalytischen <strong>und</strong> politisch-strategischen Argumenten geführt wird. Eine wichtige<br />
Rolle scheint dabei die Frage zu spielen, wie weit die Phänomene der neuen sozialen<br />
<strong>Ungleichheit</strong> noch an Distributionskonflikte zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit zu binden sind. Die<br />
Skeptiker befürchten, die Konzentration auf den Ausgrenzungsaspekt vernachlässige Fragen<br />
der Verteilungsgerechtigkeit <strong>und</strong> orientiere auf die Inklusion in eine individualisierte Konkurrenzgesellschaft.<br />
Darauf bezogen versucht Kronauer mit seiner prozeduralen Bestimmung des<br />
Exklusionsbegriffes einen Balanceakt, der es ermöglichen soll, der neuartigen Situation der in<br />
mehrfacher Hinsicht exkludierten Gruppen gerecht zu werden, ohne die verursachenden <strong>und</strong><br />
weitere Kreise betreffenden Veränderungen im Arbeitsbereich auszublenden <strong>und</strong> nur noch die<br />
sozialintegrative Perspektive der Sozialarbeit einzunehmen.<br />
Gewiss haben die Begriffe, mit denen die Sozialwissenschaft Abstiegserfahrungen <strong>und</strong> Spaltungen<br />
der Gesellschaft beschreibt, Implikationen auf die öffentliche Debatte über <strong>und</strong> den<br />
<strong>politische</strong>n Umgang mit den bezeichneten Phänomenen. Allerdings wird sich die <strong>politische</strong><br />
Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit der von Prekarisierung <strong>und</strong> Ausgrenzung betroffenen<br />
Gruppen nicht durch eine korrekte Begrifflichkeit der Sozialwissenschaft herstellen lassen.<br />
Die hier diskutierte Literatur thematisiert den Zusammenhang zwischen neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen<br />
<strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Demokratie jedoch wenig <strong>und</strong> wenn ja, dann sehr pauschal. Kronauer<br />
17 Darin folgt ihm Hildegard Mogge-Grotjahn in ihrem Handbuch-Artikel zum Thema Armut <strong>und</strong> Ausgrenzung.<br />
Auch sie betont, dass sozialer Ausschluss nie mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichzusetzen seien<br />
(Mogge-Grotjahn 2008: 51).<br />
18 Diese Formulierung entspricht dem Exklusionsbegriff Kronauers. Heinz Bude definiert leicht abweichend die<br />
Exkludierten als diejenigen, die „aufgr<strong>und</strong> sozialökonomischer Marginalisierung, lebenskultureller Entfremdung<br />
<strong>und</strong> sozialräumlicher Isolierung den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verloren haben“ (Bude<br />
2004: 4) <strong>und</strong> betont in seinen Veröffentlichungen als Exklusionskriterium stärker die subjektive Auffassung der<br />
eigenen Chancenlage (Bude/Lautermann 2006).<br />
26
ildet dabei insofern eine Ausnahme, als er die Exklusionstendenzen der jüngeren Vergangenheit<br />
als Erosion des Gleichheitspostulats der Demokratie versteht <strong>und</strong>, ähnlich wie später<br />
Colin Crouch (Crouch 2008), vor einer nur mehr formal demokratischen Elitenherrschaft<br />
warnt (Kronauer 2002: 227-238).<br />
Die unter politikwissenschaftlicher Perspektive naheliegende Frage, warum, wenn Prekarisierung<br />
einen bis weit in die Mittelschichten hineinreichenden <strong>und</strong> von Exklusion nur graduell<br />
abzugrenzenden Prozess darstellt, die Betroffenen dennoch politisch kaum repräsentiert sind,<br />
ist damit noch nicht einmal gestellt. Dazu finden sich in der Literatur zwar immer wieder<br />
einzelne indirekte Hinweise auf das Problem der Repräsentierbarkeit - sei es auf die Naturalisierung<br />
von <strong>Ungleichheit</strong> durch eine radikalisierte „Wettbewerbslogik“ (Lessenich/Nullmeier<br />
2006), auf den „disqualifizierenden Charakter“ der neuen Armut (Paugam 2008) oder auf den<br />
„negativen Individualismus (Castel 2000a). Bevor ich darauf zurückkomme <strong>und</strong> diese<br />
Hinweise zu systematisieren versuche, soll jedoch die empirische Basis der Debatte zu Prekarisierung<br />
<strong>und</strong> Ausgrenzung dargestellt werden.<br />
3.2.2 Empirische Bef<strong>und</strong>e<br />
Noch im Jahr 2005, lange nach Einsetzen der sozialwissenschaftlichen Diskussion zu Ausgrenzung<br />
<strong>und</strong> Prekarisierung stellt Petra Böhnke fest, diese verlaufe „weitgehend losgelöst<br />
von empirischer Forschung, die über Verteilungsungleichheiten in Bezug auf ökonomische<br />
Ressourcen hinausgeht“ (Böhnke 2005: 32). Die Dimensionen der sozialen Integration <strong>und</strong><br />
der Partizipation am gesellschaftlichen <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n Leben würden in der Regel nur indirekt<br />
erschlossen. Auch wenn in der Zwischenzeit die empirische Seite der Armuts- <strong>und</strong> Prekarisierungsproblematik<br />
mehr Aufmerksamkeit gef<strong>und</strong>en hat, nicht zuletzt durch die bereits im<br />
Titel auf Lebenslagen verweisenden Armuts- <strong>und</strong> Reichtumsberichte der B<strong>und</strong>esregierung<br />
(vgl. etwa B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Soziales 2008), <strong>und</strong> mehrere größere empirische<br />
Arbeiten zum Thema erschienen sind (etwa Böhnke 2006, Neugebauer 2007, Groh-Samberg<br />
2009), so konnten die empirischen Bef<strong>und</strong>e die gr<strong>und</strong>sätzlichen Kontroversen zur Reichweite<br />
<strong>und</strong> zum Charakter der neuen Armut nicht beenden. Ohne diese Debatte insgesamt<br />
aufarbeiten zu können, soll im Folgenden versucht werden, zwei Fragen zu klären, die für<br />
unser Interesse an der Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit der von Armut <strong>und</strong> Exklusion<br />
betroffenen Gruppen besonders bedeutsam scheinen. Dies sind:<br />
a) Lässt sich das Phänomen einer zunehmenden <strong>und</strong> zu kumulierenden Benachteiligungen<br />
führenden Armut empirisch bestätigen?<br />
27
) Trifft soziale Ausgrenzung vermehrt die ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit<br />
der Konsequenz einer Spaltung der deutschen Gesellschaft, oder kann jeder, ungeachtet seiner<br />
Qualifikation <strong>und</strong> Vorgeschichte, zumindest zeitweise von Prekarisierungsprozessen betroffen<br />
sein, so dass die Konturen zwischen gesicherten gesellschaftlichen Positionen <strong>und</strong> unsicheren<br />
Lebenslagen verschwimmen? 19<br />
Zu a)<br />
In Bezug auf die erste Frage herrscht in der Literatur weitgehend Konsens über eine quantitative<br />
Zunahme der von Armut betroffenen Menschen. Nach dem offiziellen, am Einkommen<br />
orientierten Armutsbegriff der Europäischen Union gilt als armutsgefährdet, wer über weniger<br />
als 60% des Nettoäquivalenzeinkommens verfügt. 20 Legt man diesen Armutsbegriff zugr<strong>und</strong>e,<br />
so zeigt sich seit Anfang der 90er Jahre ein Trend der zunehmenden relativen Armut in<br />
Deutschland (vgl. Böhnke 2009: 19). Nach Berechnungen des Statistischen B<strong>und</strong>esamtes<br />
lagen im Jahr 2006 13,9% der deutschen Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle von 60%<br />
des Medianeinkommens <strong>und</strong> 36,4% im Niedriglohnbereich (75%-Grenze) (Datenreport 2008:<br />
165f.). Nach dem neuen Datenreport von 2011 ist die relative Einkommensarmut im Jahr<br />
2009 weiter auf 15, 5% gestiegen (Datenreport 2011: 155). Der Niedriglohnbereich dagegen<br />
ging leicht zurück auf 34,8 Prozent (Datenreport 2011: 165). Noch im Jahr 1997 waren diese<br />
Anteile mit 11% bzw. 31,8% deutlich geringer (Datenreport 2008: 165f.) Auch andere<br />
Berechnungsarten kommen zum Ergebnis, dass die relative Armut in den 70er Jahren einen<br />
Tiefstand erreicht hatte <strong>und</strong> vor allem seit den 90ern deutlich ansteigt. Groh-Samberg stellt<br />
deshalb fest, dass bei Berücksichtigung des Gesamtbildes „kein Zweifel an einem deutlichen<br />
Anstieg von Armut seit den späten 70er Jahren bestehen (kann)“ (Groh-Samberg 2009: 48).<br />
<strong>Neue</strong>re Daten bestätigen den insgesamt ungebrochenen Trend zur Zunahme relativer Armut. 21<br />
Fragt man nach den Gruppen, die am stärksten von relativer Armut bedroht sind, so ist das<br />
Ergebnis nicht überraschend. Die höchsten Armutsraten finden sich unter Migranten,<br />
Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Geschiedenen, Niederqualifizierten <strong>und</strong> Ostdeutschen. Ein<br />
in unserem Zusammenhang bemerkenswerter Bef<strong>und</strong> ist darin zu sehen, dass relative Armut<br />
zunehmend auch erwerbstätige Personen erfasst. So hat sich zwischen 1999 <strong>und</strong> 2005, in<br />
19 Die Kontroverse zwischen diesen beiden Positionen formulieren in ähnlicher Weise Böhnke (2005: 31 <strong>und</strong><br />
2010: 186), Vogel (2006: 73), Bude/Lautermann (2006: 233) <strong>und</strong> Groh-Samberg (2009: 173).<br />
20 Die Bezugsgröße bildet dabei nicht der Durchschnitt, sondern der Median, also der mittlere Wert. Zur<br />
Erläuterung des Berechnungsverfahrens für das Nettoäquivalenzeinkommen vgl. Datenreport 2011: 151 sowie<br />
Wingerter 2009: 1094.<br />
21 So kam es zwar im Jahr 2007 zu einem Rückgang der relativen Armut in Gesamtdeutschland, dem jedoch<br />
schon 2008 wieder ein deutlicher Anstieg auf 14% folgte. Dabei sind die Unterschiede zwischen Ost- <strong>und</strong><br />
Westdeutschland erheblich. In Ostdeutschland stieg die relative Einkommensarmut von 13% Ende der 90er Jahre<br />
auf 19,5% im Jahr 2008 <strong>und</strong> erreichte damit wieder das Niveau von 1992 (Grabka/Frick 2010: 5).<br />
28
gerade einmal sechs Jahren, die Armutsrate unter Vollzeitbeschäftigten von 3 auf 6 Prozent<br />
verdoppelt (Böhnke 2010: 195f.).<br />
Steigende relative Armut allein kann allerdings eine Tendenz zur zunehmenden Ausgrenzung<br />
der von Armut Betroffenen nicht belegen. Dazu wäre es erforderlich, neben dem Einkommen<br />
auch die anderen Dimensionen eines erweiterten Armutsbegriffs empirisch zu untersuchen.<br />
Insbesondere die Integrations- <strong>und</strong> Partizipationsdimension, die Kronauer seiner Exklusionstheorie<br />
zugr<strong>und</strong>elegt, wäre so zu operationalisieren, dass sie empirisch überprüft werden<br />
kann. Die oben genannten Arbeiten von Böhnke <strong>und</strong> Groh-Samberg sind zwar nicht im strengen<br />
Sinn als Operationalisierungen der Exklusionsthese Kronauers zu verstehen, kommen<br />
aber seiner analytischen Differenzierung recht nah. Dies gilt besonders für die Arbeiten Petra<br />
Böhnkes, die soziale Ausgrenzung explizit „im Kontext einer um Aspekte der Integration <strong>und</strong><br />
Partizipation erweiterten Armutsforschung definiert“ (Böhnke 2006: 91). In ihren auf repräsentativen<br />
Umfragen basierenden Studien fragt sie differenziert nach den Effekten von Armut<br />
auf soziale Integration, Teilhabe <strong>und</strong> Wohlbefinden (Böhnke 2006 <strong>und</strong> 2009). Die Ergebnis<br />
sind eindeutig: Obwohl relative Armut keineswegs identisch ist mit multipler Deprivation <strong>und</strong><br />
Exklusionserfahrungen, sieht Böhnke die Kumulationsthese bestätigt. Armut hat eine<br />
verschlechternde Wirkung auf alle von ihr untersuchten Lebensbereiche (Böhnke 2009: 24). 22<br />
“Poverty contributes to declining participation and well-being, which in the long run<br />
endangers social integration“ (Böhnke 2010: 202).<br />
Groh-Samberg teilt zwar nicht den um die Dimensionen der Integration <strong>und</strong> Partizipation<br />
erweiterten Armutsbegriff, sondern will ihn auf die unmittelbaren Wechselwirkungen<br />
zwischen ökonomischen Ressourcen <strong>und</strong> Lebenslagen, also auf eine primär materielle Deprivation<br />
einschränken (Groh-Samberg 2009: 118). Er entwickelt dazu einen multiplen Armutsbegriff,<br />
der neben den Einkommens- auch Lebenslagenindikatoren wie Wohnsituation <strong>und</strong><br />
Güterausstattung sowie Arbeitslosigkeit als eine eigene, nicht-monetäre Dimension sozialer<br />
Ausgrenzung umfasst (Groh-Samberg 2009: 127-130). Seine Ergebnisse aufgr<strong>und</strong> der Daten<br />
des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) belegen zum einen, dass es zwischen 1980 <strong>und</strong> der<br />
Mitte der 2000er Jahre zu einem Anstieg der Einkommensarmut von zehn auf 18 Prozent kam<br />
(Groh-Samberg 2009: 178). Zum anderen bestätigen seine Analysen der einzelnen Indikatoren<br />
im Zeitverlauf einen Trend zur zunehmenden Verfestigung multipler Armut (Groh-Samberg<br />
2009: 186). Er unterscheidet aufgr<strong>und</strong> einer Kombination der verschiedenen Armutsindikatoren<br />
sechs Zonen des Wohlstands, der Prekarität <strong>und</strong> der Armut. Dabei kommt er zum Ergeb-<br />
22<br />
Die Ergebnisse sind insofern zu differenzieren, als etwa kulturelles Engagement erst nach längerer<br />
Verweildauer in Armut abnimmt (Böhnke 2009: 25).<br />
29
nis, dass „die Zone der extremen Armut seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich zunimmt“<br />
(Groh-Samberg 2009: 181).<br />
zu b)<br />
Weder der Bef<strong>und</strong> einer quantitativen Zunahme der Einkommensarmut noch die Bestätigung<br />
eines Trends zur sozialen Ausgrenzung durch die Kumulation von Deprivationen in verschiedenen<br />
Lebenslagen kann die oben genannte Kontroverse zwischen den Thesen einer Polarisierung<br />
<strong>und</strong> Spaltung der Gesellschaft einerseits, <strong>und</strong> denen einer Entgrenzung sozialer Risiken<br />
andererseits, entscheiden. Spitzt man diese Kontroverse allerdings auf einen am Lebenslagenansatz<br />
orientierten Armutsbegriff zu, so scheint die Datenlage klar: Die Studien von Böhnke<br />
<strong>und</strong> Groh-Samberg widerlegen die These von der sozialen Ausgrenzung als allgemeines<br />
Lebensrisiko ebenso wie die von der Entstrukturierung <strong>und</strong> Verzeitlichung von Armut. Sie<br />
kommen zum Ergebnis, dass Armut in Deutschland in Form einer Polarisierung zunimmt,<br />
nicht jedoch durch Abstiegsprozesse der Mittelschichten (Böhnke 2009: 18; Groh-Samberg<br />
2009: 182).<br />
Petra Böhnke weist in ihren Arbeiten nicht nur nach, dass mehrfache <strong>und</strong> dauerhafte Benachteiligungen<br />
nahezu ausschließlich gering Qualifizierte <strong>und</strong> Angehörige der un- oder angelernten<br />
Arbeiterschaft trifft (Böhnke 2005 <strong>und</strong> 2006). In einer neueren Auswertung von<br />
Daten des SOEP kann sie zudem zeigen, dass die Mehrheit der in Armut absteigenden Personen<br />
aus armutsnahen Einkommensgruppen 23 stammt <strong>und</strong> der Anteil derjenigen, die aus der<br />
Mittelschicht in Armut absteigen, nicht nur gering ist, sondern über die Jahre hinweg konstant<br />
blieb. 24<br />
Auch die an Individualisierungstheorien anschließende Verzeitlichungsthese der Armut, derzufolge<br />
Armut immer häufiger einen zeitlich befristeten Lebensabschnitt bildet, wird durch<br />
die Ergebnisse Böhnkes weitgehend entkräftet. So stieg die durchschnittliche Dauer der<br />
Armutserfahrung zwischen 2000 <strong>und</strong> 2006 von 2,2 auf 3,2 Jahre. Langzeitarmut nimmt also<br />
erheblich zu (Böhnke 2010: 192).<br />
Die Prüfung der zuletzt genannten These einer vielfältigen Bewegung in <strong>und</strong> aus der Armut,<br />
wie sie die sog. dynamische Armutsforschung vertritt (Leibfried/Leisering/Buhr 1995), bildet<br />
einen der Schwerpunkte der Arbeit von Groh-Samberg. Obwohl er aufgr<strong>und</strong> seiner Konzentration<br />
auf materielle Lebenslagen einen im Vergleich zu Böhnke engeren Armutsbegriff<br />
23 Böhnke definiert diese Gruppe des prekären Wohlstands durch ein Einkommen, das zwischen 60-80% des<br />
Medians liegt (Böhnke 2009: 20)<br />
24 Er liegt seit Mitte der 90er Jahre einigermaßen konstant bei circa 2% (bezogen auf die Gesamtbevölkerung).<br />
Überdurchschnittlich betroffen ist innerhalb des Mittelstands auch wiederum die Untere Mitte mit 80-100% des<br />
Medianeinkommens (Böhnke 2009: 20).<br />
30
zugr<strong>und</strong>elegt <strong>und</strong> Absteiger damit schneller als bei der Berücksichtigung von sozialintegrativer,<br />
kultureller <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Deprivationsindikatoren darunter fallen dürften, kommt er zum<br />
Ergebnis, dass<br />
„sich weder eine zunehmende Verzeitlichung von Armut noch die Zunahme von<br />
inkonsistenten Armutslagen feststellen (lässt). In einem Wort: Es gibt keine Tendenzen<br />
der Entstrukturierung. Im Gegenteil, die vorliegenden Daten bestätigen die These einer<br />
zunehmenden sozialen Ausgrenzung <strong>und</strong> Polarisierung, wenn auch nicht im Ausmaß<br />
eines dramatischen Szenarios“ (Groh-Samberg 2009: 189). 25<br />
<strong>Neue</strong>re Daten bestätigen dieses Bild. Betrachtet man die Mobilität zwischen verschiedenen<br />
Einkommensquintilen, so zeigt sich, dass das Risiko im untersten Einkommensquintil zu<br />
verbleiben, in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat. Betrug es in den 80er noch 57<br />
Prozent, so ist es bis 2009 auf 65 Prozent angestiegen Datenreport 2011: 171).<br />
Die Vertreter eines dynamisierten Armutsbegriffes haben auf die Ergebnisse der empirischen<br />
Forschung zwischenzeitlich reagiert. Zwar betonen sie weiterhin die geringe quantitative Zahl<br />
der in verfestigter kumulierter Armut lebenden Menschen, relativieren jedoch die<br />
ursprüngliche Dynamisierungs- <strong>und</strong> Verzeitlichungsthese <strong>und</strong> gestehen zu, dass die<br />
Übergänge aus <strong>und</strong> in Armut im wesentlichen auf einen „kleinen Grenzverkehr“ zwischen<br />
Armut <strong>und</strong> benachbarten Einkommensgruppen beschränkt bleiben (Buhr/Leibfried 2009:<br />
114). Ob man darin wie Böhnke <strong>und</strong> Groh-Samberg eher einen Indikator für die Polarisierung<br />
<strong>und</strong> Spaltung der Gesellschaft sieht oder einen solchen „kleinen Grenzverkehr“ als<br />
Widerlegung der Ausgrenzungsthese <strong>und</strong> als Beleg für Perspektiven <strong>und</strong><br />
Handlungsmöglichkeiten der von Armut Betroffenen interpretiert (Buhr/Leibfried 2009),<br />
scheint eine Frage der eingenommenen Perspektiven <strong>und</strong> der angelegten normativen<br />
Maßstäbe zu sein 26 .<br />
Widerlegt wird durch die Ergebnisse der empirischen Forschung allerdings die populäre<br />
These, wonach Armut <strong>und</strong> Exklusion heute typischerweise kein Problem von Oben <strong>und</strong> Unten<br />
mehr darstellten <strong>und</strong> auf einer „glitschiger gewordenen sozialen Stufenleiter“der „Absturz<br />
von überall“ möglich sei (Bude 2008: 33). Christoph Butterwegge ist deshalb recht zu geben,<br />
wenn er demgegenüber vor der durch das Begriffspaar Inklusion-Exklusion transportierten<br />
Unterstellung „einer illusionären Risikogleichheit aller Gesellschaftsmitglieder“ warnt<br />
(Butterwegge 2009: 52f.).<br />
25 Im Einzelnen weist er sowohl für die Einkommens- als auch die Lebenslagenarmut eine erheblich ansteigende<br />
Persistenz nach (Groh-Samberg 2009: 188).<br />
26 Die Entscheidung für eine der beiden Positionen hängt insbesondere davon ab, ob man mit Blick auf die<br />
Gesellschaftsstruktur den „kleinen Grenzverkehr“, also den zeitweiligen Aufstieg aus der Armut in armutsnahe<br />
Einkommensregionen <strong>und</strong> die entgegengesetzte Bewegung, den Abstieg in Armut aus armutsnahen Regionen,<br />
als weiteren Beleg für eine sich verfestigende Polarisierung der Gesellschaft werten will, oder aber auf die in<br />
solchen Bewegungen erkennbaren Handlungsspielräume der Individuen abhebt.<br />
31
Komplizierter ist die Lage mit Blick auf die Prekarisierungsthese. Auf den ersten Blick<br />
scheint sie durch die empirischen Bef<strong>und</strong>e widerlegt. Multiple Deprivationen <strong>und</strong> damit soziale<br />
Ausgrenzung sind nicht zum allgemeinen Lebensrisiko breiter Bevölkerungsschichten<br />
geworden. Aber trifft dieser Bef<strong>und</strong> tatsächlich die Prekarisierungsthese? Das wäre nur dann<br />
der Fall, wenn die Betroffenheit von Prekarisierung mit dem Absturz in Armut <strong>und</strong> multiple<br />
Deprivation gleichgesetzt würde. Ungeachtet der sprachlich gern dramatisierenden <strong>und</strong><br />
begrifflich wie empirisch häufig ungenauen Diskussion, lassen sich die beiden Phänomene<br />
jedoch analytisch klar unterscheiden. Die empirischen Studien zur Einkommens- <strong>und</strong><br />
Lebenslagenarmut erfassen weder allgemeine Abstiegserfahrungen noch Abstiegsängste.<br />
Abstiegserfahrungen nicht, weil gesellschaftlicher Abstieg nicht unbedingt in Armut, schon<br />
gar nicht in eine multipel bestimmte Lebenslagenarmut führen muss, <strong>und</strong> Abstiegsängste<br />
deshalb nicht, weil diese unabhängig vom Status <strong>und</strong> der aktuellen Einkommenssituation<br />
gedeihen können.<br />
Bezeichnenderweise thematisiert auch Petra Böhnke, die in ihren Veröffentlichungen die<br />
These von einer Verallgemeinerung des Risikos sozialer Ausgrenzung mehrfach zurückweist<br />
(Böhnke 2005: 34, 2006: 211, 2009: 18), eine starke Verunsicherung der Mittelschichten.<br />
Dabei bezieht sie sich auf Umfragedaten des Wohlfahrtssurveys <strong>und</strong> von Allbus, die belegen,<br />
dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit in der Arbeiterschicht zwischen 1988 <strong>und</strong> 2004 von<br />
ungefähr 10 auf 22 Prozent mehr als verdoppelt, in der Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht, wenn auch<br />
auf einem niedereren absoluten Niveau, mehr als verdreifacht hat (Böhnke 2005: 35). Auch<br />
die Zustimmung zur Aussage, das Leben sei kompliziert geworden, <strong>und</strong> man finde sich kaum<br />
noch zurecht, kann als Indikator für Desintegration <strong>und</strong> Verunsicherung interpretiert werden.<br />
Interessanterweise hat sich die Zustimmung zu dieser Äußerung in der mittleren Einkommensquintile<br />
zwischen 1988 <strong>und</strong> dem Beginn des neuen Jahrtausend verdreifacht, während<br />
sie in der vierten Quintile kaum stieg <strong>und</strong> in der höchsten Einkommensgruppe sogar zurückging<br />
(Böhnke 2005: 35). Böhnke interpretiert diesen Bef<strong>und</strong> als Bestätigung ihrer These,<br />
Ausgrenzungsrisiken lösten sich nicht von schichtspezifischen Faktoren wie Ausbildungsdefiziten<br />
<strong>und</strong> geringer sozialer Integration, konzediert jedoch<br />
„Abstiegsängste, antizipierte Sicherheitsverluste <strong>und</strong> ein hohes Maß an Verunsicherung<br />
betreffen aber mittlerweile auch Bevölkerungsgruppen, deren soziale Lage nach<br />
objektiven Maßstäben, die sich an der Verteilung von Ressourcen orientieren, keineswegs<br />
überaus prekär sein muss“ (Böhnke 2005: 36). 27<br />
27 Entsprechend lautet auch das Fazit ihrer Studie von 2006, in dem sie „auf der subjektiven Ebene“ deutliche,<br />
bis in mittlere Gesellschaftsschichten reichende Verschlechterungen ausmacht (Böhnke 2006: 214). Ähnlich<br />
sieht dies auch Nicole Burzan, die auf der Einkommensebene keine dramatische Zunahme von Abwärtsmobilität<br />
ausmachen kann (Burzan 2008: 8).<br />
32
Das Problem mit dieser Argumentation liegt offensichtlich darin, dass sie objektive, durch<br />
kumulierte Armut charakterisierte soziale Lagen auf der einen, subjektiven Wahrnehmungen<br />
wie Ängsten, antizipierten Verlusten <strong>und</strong> Verunsicherungen auf der anderen Seite gegenüberstellt<br />
<strong>und</strong> damit die realen, nicht nur antizipierten Erfahrungen, welche diesen Wahrnehmungen<br />
auch lange vor Erreichen der Armutsschwelle zugr<strong>und</strong>eliegen, ausblendet. Beschränkt<br />
man Prekarisierungsprozesse auf den Abstieg in Einkommens- <strong>und</strong> Lebenslagenarmut, muss<br />
der Eindruck entstehen, die Mittelschichten hätten vor allem ein Problem mit ihrer subjektiven<br />
Wahrnehmung, ihren pessimistischen Zukunftsszenarien <strong>und</strong> ihren übertriebenen Statusängsten.<br />
28<br />
Demgegenüber deuten jedoch zahlreiche Indikatoren auf erhebliche Veränderungen in der<br />
objektiven sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten hin, die plausibel als Prekarisierung<br />
zu bezeichnen sind. Tatsächlich grenzen Robert Castel <strong>und</strong> die Jenaer Forschergruppe um<br />
Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre u.a. den Prekarisierungsbegriff auch explizit von vollständiger<br />
Deprivation, Ausgrenzung <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Apathie ab (Castel/Dörre 2009: 17). Zudem ist<br />
ihr Prekaritätsbegriff stärker als der Armutsbegriff auf die Erwerbsarbeit fokussiert. Damit<br />
verbindet sich einerseits die Gefahr, neuere Veränderungen im Erwerbsleben, die wir oben<br />
bereits unter den Stichwort der Vermarktlichung, Flexibilisierung <strong>und</strong> Entkollektivierung<br />
angesprochen haben, umstandslos unter den Begriff der Prekarisierung zu subsumieren, die<br />
Arbeitswelt insgesamt als prekär zu qualifizieren <strong>und</strong> dem Begriff dadurch jede analytische<br />
Schärfe zu nehmen. 29 Andererseits scheint der Begriff aber geeignet, die Absenkung des an<br />
Erwerbsarbeit geknüpften Schutz- <strong>und</strong> Integrationsniveaus zu erfassen, das die wirtschaft-<br />
28 Von einer ähnlichen Gegenüberstellung ausgehend, unternehmen Bude/Lauterbach einen Versuch der<br />
Vermittlung zwischen objektiver Lebenslage <strong>und</strong> subjektivem Exklusionsempfinden. Dabei machen sie das<br />
subjektive Exklusionsempfinden zum entscheidenden Exklusionskriterium <strong>und</strong> sprechen dort, wo trotz<br />
offensichtlicher Benachteiligungen noch das Gefühl vorherrscht, das eigene Leben meistern zu können, von<br />
Marginalisierung (Bude/Lauterbach 2006: 234). Die beiden Autoren entwerfen ein komplexes „Prekaritäten-<br />
Ressourcen-Modell, das objektive <strong>und</strong> subjektive Exkludiertheit, prekäre Lebensverhältnisse <strong>und</strong><br />
Exklusionsempfinden“ aufeinander beziehen soll (Bude/Lauterbach 2006: 244). Aufgr<strong>und</strong> einer<br />
Telephonumfrage unter mehr als 1500 Frauen <strong>und</strong> Männern kommen sie im Ergebnis zu einer noch über das<br />
Modell hinausgehenden Subjektivierung des Exklusionsbegriffes, die Exklusion sehr stark von den „inneren<br />
Ressourcen“ der betroffenen Personen abhängig macht. „Auch der wegen seiner externen Ressourcen<br />
Privilegierte kann objektiv <strong>und</strong> vor allem subjektiv exkludiert sein, wie auch der objektiv `Minderprivilegierte´<br />
nicht zwangläufig auch zugleich objektiv oder subjektiv exkludiert sein <strong>und</strong> sich so fühlen muss“<br />
(Bude/Lauterbach 2006: 244). Ob damit sehr viel mehr gesagt ist, als dass es psychisch stabile <strong>und</strong> instabile,<br />
optimistische <strong>und</strong> pessimistische Menschen gibt, sei dahingestellt. In jedem Fall rückt damit aber die Frage in<br />
den Vordergr<strong>und</strong>, wie subjektives Exklusionsempfinden zu vermeiden wäre, weniger diejenige nach der<br />
Möglichkeit einer <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Marginalisierungs- <strong>und</strong> Exklusionsprozessen Betroffenen<br />
(so auch bei Bude 2008: 51f.).<br />
29 Diese Gefahr sehe ich, wenn man wie Berthold Vogel unter Rückgriff auf Gerry Rodgers die Prekarität eines<br />
Arbeitsverhältnisses anhand von vier Merkmalen bestimmt: „Grad der Arbeitsplatzsicherheit, Einfluss auf die<br />
Arbeitsplatzsituation, Vorhandensein von Arbeitsschutzbestimmungen <strong>und</strong> Chancen der Existenzsicherung<br />
durch Arbeit“ (Vogel 2006: 79 <strong>und</strong> ähnlich Vogel 2009a: 189-191). Damit wäre ein stark fremdbestimmter<br />
Arbeitsplatz bereits prekär zu nennen.<br />
33
lichen <strong>und</strong> sozialen Entwicklungen der letzen Jahrzehnte charakterisierte, ohne in den Mittelschichten<br />
zu drastischen Einkommensverlusten oder gar zu massenhafter Verarmung zu<br />
führen.<br />
Für eine derart verstandene Prekarisierung lassen sich, wenn auch hier nur beispielhaft,<br />
aussagekräftige Indikatoren anführen:<br />
1) Polarisierung der Einkommensverteilung<br />
Blickt man über das Armutsphänomen hinaus auf die Einkommensverteilung, so zeigt sich<br />
eine deutliche Tendenz zur Polarisierung der Einkommen (Goebel/Gornig/Häußermann<br />
2010). Definiert man den mittleren Einkommensbereich durch ein Haushaltseinkommen von<br />
mindestens 70, aber nicht mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens, so schrumpft diese<br />
mittlere Gruppe seit 1993 nahezu kontinuierlich. Da nicht nur das obere, sondern auch das<br />
untere Drittel quantitativ zunimmt, verweisen die Zahlen auf reale gesellschaftliche Abstiegserfahrungen,<br />
auch wenn diese in vielen Fällen (noch) nicht zu Einkommens- oder gar<br />
Lebenslagenarmut führen müssen. Die Autoren des DIW-Berichtes stellen jedenfalls fest,<br />
„dass die mittlere Einkommensgruppe, deren Gewicht in der langen Periode seit dem<br />
Zweiten Weltkrieg enorm gestiegen ist, Verlierer der Umschichtungen in der Einkommensverteilung<br />
im letzten Jahrzehnt ist. Aus dieser Gruppe sind einige in die obere<br />
Einkommensgruppe auf- <strong>und</strong> viele in die untere Einkommensgruppe abgestiegen“<br />
(Goebel/Gornig/Häußermann 2010: 7f.).<br />
Hinzu kommt, dass die Reallöhne in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre kaum gestiegen<br />
sind <strong>und</strong> zwischen 2004 <strong>und</strong> 2008 trotz eines Konjunkturaufschwungs sogar rückläufig waren<br />
(Brenke 2009; Logeay/Zwiener 2008). Dabei sind keineswegs nur die Löhne der gering<br />
Qualifizierten unter Druck geraten (Brenke 2009: 559). Allerdings ist in Deutschland während<br />
des ersten Jahrzehnts nach 2000 der Niedriglohnbereich im Vergleich zu andern Ländern<br />
besonders stark angestiegen. 30 Der Anteil der Beschäftigten, die sich mit Löhnen begnügen<br />
müssen, die unter der Grenze von zwei Drittel des Medianlohnes liegen, stieg zwischen 2000<br />
<strong>und</strong> 2007 von 12,9 auf 17,5 Prozent. Dabei stieg unter Frauen zwischen 2000 <strong>und</strong> 2006 der<br />
Anteil von 24,8 auf 31 Prozent, bei Männern von 6,3 auf 9,2 (2005) (Eichhorst/Marx/Thode<br />
2010: 32f.).<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> w<strong>und</strong>ert es nicht, wenn im Jahr 2008 immerhin 18% der befragten<br />
Westdeutschen (23,4% der Ostdeutschen) ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht bzw.<br />
sehr schlecht beurteilten (ALLBUS 2008: 5). Vor allem in der ehemaligen Wohlstandsgesell-<br />
30 Niedriglohn wird definiert als ein Lohn der unter zwei Drittel des Medianlohns liegt. Die Zahl lässt keine<br />
unmittelbaren Schlüsse auf relative Einkommensarmut zu, da für letztere das bedarfsgewichtete Pro-Kopf-<br />
Einkommen pro Haushaltsmitglied maßgeblich ist (vgl. Wingerter 2009: 1094).<br />
34
schaft der alten B<strong>und</strong>esländer, wo diese Zahl 1992 wie auch noch im Jahr 2000 bei r<strong>und</strong> 8%<br />
lag, stellt dies eine erhebliche Verschlechterung dar (ALLBUS 2005: 30).<br />
2) Risikoausweitung im Erwerbsleben<br />
Bezieht man den Prekaritätsbegriff auf Arbeitsverhältnisse <strong>und</strong> nicht auf Einkommens- oder<br />
Lebenslagenarmut, so lässt sich eine Ausweitung der „Zone der Verw<strong>und</strong>barkeit “ (Castel<br />
2000a: 13) in die Mittelschichten hinein unschwer nachweisen. Aussagekräftige Indikatoren<br />
hierfür bilden der Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen zugunsten sog. atypischer<br />
Arbeitsverhältnisse, das Anwachsen des Niedriglohnbereichs sowie eine allgemeine Arbeitsplatz-<br />
<strong>und</strong> Statusunsicherheit:<br />
Der Rückgang von sogenannten Normalarbeitsverhältnissen - also von sozialversicherten,<br />
tariflich abgesicherten <strong>und</strong> unbefristeten Vollzeitstellen - zugunsten von zeitlich befristeter<br />
Beschäftigung, Leih- bzw. Zeitarbeit sowie Teilzeitarbeit <strong>und</strong> Minijobs gehört zu den<br />
einschneidendsten Veränderungen während der vergangenen 10 bis fünfzehn Jahre am deutschen<br />
Arbeitsmarkt. Nach Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung waren im Jahr 2007 nur<br />
noch 38% der Erwerbsfähigen unbefristet vollzeitbeschäftigt. Demgegenüber hatten diesen<br />
Status im Jahr 1995 noch 44% der Beschäftigten (Eichhorst/Marx/Thode 2009: 8). Diese<br />
Entwicklung gewinnt eine besondere Dramatik nicht nur dadurch, dass in Deutschland<br />
zumindest für männliche Arbeitnehmer über Jahrzehnte hinweg unbefristete Vollzeitstellen<br />
das typische Beschäftigungsverhältnis bildeten, sondern auch, weil die sozialen Sicherungssysteme,<br />
insbesondere die Rente, vom Beschäftigungsstatus abhängen.<br />
Zwei für die jüngsten Risikoausweitungen im Erwerbsleben besonders aussagekräftige Indikatoren<br />
bilden dabei die Zunahme von befristeten Arbeitsverträgen <strong>und</strong> der sog. Zeit- oder<br />
Leiharbeit. Insgesamt nahm in Deutschland die Zahl der befristet Beschäftigten zwischen<br />
2001 <strong>und</strong> 2008 um 2,3 auf 14,7 Prozent zu (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 15). Betrachtet man<br />
den Anteil befristeter Verträge an den <strong>Neue</strong>instellungen <strong>und</strong> differenziert man nach Sektoren,<br />
so ergibt sich ein deutlich dramatischeres Bild. So werden im öffentlichen Dienst mittlerweile<br />
zwei Drittel aller <strong>Neue</strong>instellungen über befristete Verträge geregelt. Dass dies in der Regel<br />
nicht als Einstieg in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu bewerten ist, zeigen die Zahlen zu<br />
Übernahmen aus befristeten Verträgen <strong>und</strong> zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch<br />
das Auslaufen der Befristung. In der öffentlichen Verwaltung liegen diese Zahlen bei 24, resp.<br />
35
36 Prozent, im produzierenden Gewerbe vergleichsweise günstiger bei 59, resp. 17 Prozent<br />
(Eichhorst/Marx/Thode 2010: 19). 31<br />
Zeit- oder Leiharbeit hat in Deutschland nach den 1995 einsetzenden Deregulierungen des<br />
Arbeitsmarktes zwar stark zugenommen, bleibt aber in Bezug auf den Arbeitsmarkt insgesamt<br />
quantitativ begrenzt. Zwischen 2000 <strong>und</strong> 2008 stieg der Anteil der Zeitarbeit an der aktiven<br />
Erwerbsbevölkerung von 0,8 auf 1,6 Prozent (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 21). 32 Allerdings<br />
betonen die Autoren der Studie, dass in Deutschland im produzierenden Gewerbe während<br />
der letzten Jahre ein international ungewöhnlich hoher Anteil von Leiharbeit aufgebaut<br />
wurde, der „nicht als eine selbstverständliche Brücke in stabilere Beschäftigungsverhältnisse<br />
anzusehen ist“. Vielmehr sei hier ein eigenes Beschäftigungssegment mit typischerweise sehr<br />
langen Verleihzeiten <strong>und</strong> damit eine polarisierte Beschäftigungsstruktur entstanden, in der die<br />
Zeitarbeitnehmer ähnliche oder gleichartige Tätigkeiten wie die Stammbelegschaft zu erheblich<br />
geringeren Löhnen ausführten (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 22f.). Es zeige sich bei der<br />
Leiharbeit „eine deutliche Tendenz zur Spaltung zwischen Rand- <strong>und</strong> Kernbelegschaften ohne<br />
belastbare Hinweise auf eine Brückenfunktion“ (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 7).<br />
Die genannten Veränderungen des Arbeitsmarktes dürften nicht unerheblich zur Zunahme der<br />
Ängste vor einem beruflichen Abstieg beigetragen haben. Nach Umfragedaten des Sozioökonomischen<br />
Panels gehen im Jahr 2006 in Westdeutschland 61 Prozent der berufstätigen<br />
Männer mit Berufsabschluss davon aus, dass es bei Verlust ihrer Stelle schwierig wäre, eine<br />
mindestens gleichwertige Stelle zu finden, 22 Prozent halten dies sogar für praktisch unmöglich.<br />
Bei Berufstätigen mit einem Hochschulabschluss liegen die Zahlen nur geringfügig<br />
darunter (Datenreport 2008: 126).<br />
Nimmt man zu der durch diese Indikatoren belegten Destabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen<br />
noch die Abschaffung des Prinzips der Statussicherung in den arbeitsmarkt<strong>politische</strong>n<br />
Reformen, so sind die oben bereits diskutierten Verunsicherungen der Mittelschicht als<br />
bloßer Ausdruck von Ängsten <strong>und</strong> antizipierten Gefahren nicht adäquat konzipiert. Die<br />
Wiederkehr sozialer Unsicherheit ist ein reales Phänomen, das über die von Armut <strong>und</strong> soziale<br />
Ausgrenzung betroffenen Gruppen hinausreicht.<br />
31 Nach den Verfassern der Studie ist die vergleichsweise hohe Zahl der Übernahmen im produzierenden<br />
Gewerbe mit dem hohen Anteil von Ausbildungsverträgen zu erklären (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 17).<br />
32 Nimmt man den Zeitraum zwischen 1994 <strong>und</strong> 2010 hat sich Zeit- oder Leiharbeit immerhin verfünffacht <strong>und</strong><br />
dürfte demnächst eine Million Menschen beschäftigen (Öchsner 2011: 20).<br />
36
3.3 Zwischenfazit<br />
Nicht exkludierende Armut, aber Prekarisierungsprozesse im Sinne des Brüchigwerdens von<br />
Status, Beschäftigungssicherheit <strong>und</strong> Zukunftsperspektiven haben demnach eine transversale,<br />
verschiedene Bereiche <strong>und</strong> Schichten der Gesellschaft erfassende Qualität. Fügt man mit<br />
Castel hinzu, dass Prekarität insbesondere die besonders benachteiligten Schichten betrifft<br />
<strong>und</strong> dort zu einer permanenten Bedingung des Lebens zu werden droht (Castel 2009: 31),<br />
dann scheint der Prekaritätsbegriff das zu leisten, was sich Kronauer von seinem Exklusionsbegriff<br />
erhofft, nämlich:<br />
„…dass er, als Prozesskategorie, darüber aufklärt, wie die ausgrenzenden Zuspitzungen<br />
von <strong>Ungleichheit</strong>en am gesellschaftlichen ´Rand` mit den zunehmenden Unsicherheiten<br />
<strong>und</strong> Verunsicherungen in der gesellschaftlichen ´Mitte` in Verbindung stehen“<br />
(Kronauer 2010: 229).<br />
Gesellschaftsanalytisch ist eine solche übergreifende Bedeutung des Prekaritätsbegriffes mit<br />
Veränderungen im Erwerbsleben zu begründen, auf die sowohl die Verfestigung von mehrfacher<br />
Lebenslagenarmut am Rand der Gesellschaft als auch die Entwertungs- <strong>und</strong> Abstiegsprozesse<br />
in ihrer Mitte zurückgeführt werden können. Während Robert Castel sich dabei auf eine<br />
soziologische Beschreibung dieser Veränderungen konzentriert, geht Klaus Dörre analytisch<br />
einen Schritt weiter <strong>und</strong> bezieht die Prekarisierungsprozesse auf die sozioökonomische Kernstruktur<br />
des Finanzmarkt-Kapitalismus. Für ihn ist die neue Prekarisierung dann auch „kein<br />
zwangsläufiges Resultat ökonomischer Effizienzsteigerung, sondern im Wesentlichen<br />
Ausdruck einer sozialen Macht finanzkapitalistischer Akteure“ (Dörre 2009a: 60).<br />
Auch wenn wir von dieser kapitalismuskritischen Identifikation eines gemeinsamen Gegners<br />
der unterschiedlich betroffenen Gruppen absehen, bietet der Prekarisierungsbegriff eine Reihe<br />
analytischer Vorteile:<br />
• er integriert die disqualifizierenden <strong>und</strong> exkludierenden Züge der neuen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen ohne ein dichotomisches Drinnen - Draußen unterstellen zu<br />
müssen <strong>und</strong> ist deshalb auch besser als der Exklusionsbegriff geeignet, die empirischen<br />
Bef<strong>und</strong>e einer zwar zunehmenden, aber quantitativ in (noch) engen Grenzen<br />
bleibenden, exkludierenden Armut mit den weit in die gesellschaftliche Mitte reichenden<br />
Prozessen der Entwertung, des Abstiegs <strong>und</strong> des Sicherheitsverlustes zu erfassen;<br />
• er enthält eine historische zeitdiagnostische Dimension, die den Bruch gegenüber dem<br />
wohlfahrtsstaatlichen, durch kollektive Absicherungen gekennzeichneten Kapitalismus<br />
unterstreicht,<br />
37
• er ermöglicht, insbesondere mit dem Zonenkonzept Castels, Gradualisierungen <strong>und</strong><br />
Differenzierungen der Betroffenheit von <strong>und</strong> des Umgangs mit den zunehmend prekären<br />
Arbeits- <strong>und</strong> Lebensverhältnissen.<br />
4. Schwierigkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation prekarisierter <strong>und</strong> exkludierter<br />
gesellschaftlicher Gruppen<br />
4.1 Die symbolische Dimension der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />
Ein gemeinsames begriffliches Dach für die von exkludierender Armut <strong>und</strong> die von Disqualifikation,<br />
Unsicherheit <strong>und</strong> Abstieg betroffenen Gruppen sagt jedoch immer noch wenig über<br />
deren <strong>politische</strong> Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit aus. Nur auf den ersten Blick mag es<br />
nahe liegen, die von denselben wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Veränderungen negativ<br />
betroffenen Gruppen auf derselben Seite einer <strong>politische</strong>n Konfliktlinie oder einer zentralen<br />
Streitfrage zu verorten. Wie oben bereits ausgeführt, kommt <strong>politische</strong> Repräsentation in<br />
pluralistischen Demokratien nicht umhin, öffentlich vertretene Interessen mit Bezug auf<br />
Werte <strong>und</strong> Prinzipien zu begründen, die zwar kontrovers interpretierbar sind, prinzipiell<br />
jedoch als allgemeingültig unterstellt werden können. Ob die Interessen der von exkludierender<br />
Armut <strong>und</strong> diejenigen der von Prekarisierung im weiteren Sinn betroffenen Gruppen im<br />
<strong>politische</strong>n Prozess erfolgreich repräsentiert <strong>und</strong> ev. sogar auf derselben Seite einer <strong>politische</strong>n<br />
Konfliktlinie zusammengeführt werden können, hängt wesentlich von dieser symbolischen<br />
Ebene ab. Eine gesellschafts- <strong>und</strong> kapitalismuskritische Bestimmung der sowohl Armut<br />
als auch soziale Unsicherheit verursachenden Entwicklungen kann darüber jedenfalls keine<br />
Aussagen machen.<br />
Im Folgenden sollen deshalb die symbolischen Voraussetzungen, die einer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
der von exkludierender Armut im engeren <strong>und</strong> von Prekarisierung <strong>und</strong> Sicherheitsverlusten<br />
im weiteren Sinn betroffenen Gruppen diskutiert werden. Neben einzelnen<br />
Forschungsergebnissen zur Selbst- <strong>und</strong> Fremdeinschätzung der betroffenen Gruppen <strong>und</strong> zu<br />
ihrem Gesellschaftsbild interessieren dabei auch kultursoziologische <strong>und</strong> milieutheoretische<br />
Arbeiten, die Aussagen über veränderte gesellschaftliche Wertorientierungen ermöglichen.<br />
4.1.1 Der Unterschichtsdiskurs <strong>und</strong> die verlorene Respektabilität<br />
Das Problem, um das es in diesem Zusammenhang geht, lässt sich durch einen historischen<br />
Vergleich veranschaulichen: In seinem oben bereits erwähnten Essay „Entbehrliche der<br />
38
Bürgergesellschaft“ erinnert Franz Walter an den traditionellen Gegensatz zwischen gelernten<br />
<strong>und</strong> ungelernten Arbeitern in der deutschen Arbeiterbewegung. Während die Mentalität der<br />
gelernten Arbeiter in einem vorkapitalistischen Handwerkerethos wurzele <strong>und</strong> durch<br />
Bildungsorientierung, Strebsamkeit <strong>und</strong> Kompetenzbewusstsein sowie politisch durch Organisationsfähigkeit<br />
<strong>und</strong> Reformorientierung geprägt gewesen sei, habe sich die Kultur der<br />
ungelernten Arbeiterschaft schon zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts durch Bildungsferne, eine<br />
Orientierung auf Freizeit <strong>und</strong> kommerzielle Massenkultur sowie politisch durch eine Affinität<br />
zu gewaltsamen Protestformen ausgezeichnet. Allerdings sei dieser Gegensatz von einer auch<br />
subjektiv wahrgenommenen Klassenidentität überbrückt worden (Walter 2011: 7-9).<br />
In der Wohlstands- <strong>und</strong> Aufstiegsgesellschaft der jungen B<strong>und</strong>esrepublik sieht Walter dann<br />
den Gegensatz zwischen den beiden Gruppen schwinden. Der Anteil der Ungelernten nahm<br />
ab, <strong>und</strong> die sozialstaatlichen Errungenschaften verringerten die Gegensätze zwischen<br />
verschiedenen Schichten der Arbeitnehmerschaft. Bereits im Laufe der 70er Jahre lebt der alte<br />
Gegensatz mit der entstehenden neuen Unterschicht wieder auf. Während den einen der<br />
gesellschaftliche Aufstieg durch Bildung gelingt, verlieren die anderen mit dem Bedeutungsverlust<br />
körperlicher Arbeit nicht nur ihre Jobchancen, sondern auch die Quelle ihres Selbstbewusstseins.<br />
Aus dem Gegensatz innerhalb der Arbeiterbewegung wird eine Spaltung in<br />
Verlierer <strong>und</strong> Gewinner:<br />
„Die Arbeiterklasse von ehedem spaltete sich: auf der einen Seite in die Verlierer, die<br />
zunehmend atomisierten, resignierten <strong>und</strong> zur Apathie neigten. Sie blieben in ihrem<br />
angestammten Wohnviertel, das aber Jahr für Jahr mehr von einem wertgeb<strong>und</strong>enen<br />
Arbeiter- zum desintegrierten Arbeitslosenquartier herabsank. Auf der anderen Seite<br />
standen die Gewinner, welche die Bildungsreformen genutzt, die Aufstiegschancen im<br />
öffentlichen Dienst <strong>und</strong> in den neuen ökonomischen Sektoren ergriffen hatten“ (Walter<br />
2011: 11).<br />
Die Strichführung in Walters Bild mag etwas grob sein, sie trifft jedoch die Gr<strong>und</strong>züge einer<br />
Entwicklung, die von anderen Autoren ganz ähnlich gesehen wird. Für unseren Zusammenhang<br />
ist dabei entscheidend, dass die festgestellte Spaltung nicht nur die organisatorische<br />
Einheit der Arbeiterbewegung zerbricht, sondern den Verlust der gemeinsamen symbolischen<br />
Ressourcen einer <strong>politische</strong>n Repräsentation von Arbeiterinteressen markiert. Walter spricht<br />
diese Dimension an, wenn er feststellt, dass die Aufsteiger „die Ausgestoßenen des<br />
Deindustrialisierungsprozesses“ hinter sich ließen <strong>und</strong> mit paternalistischem Unterton formuliert,<br />
sie „organisierten sie nicht mehr, formten sie nicht mehr kulturell, gaben ihnen keine<br />
<strong>politische</strong>n Impulse <strong>und</strong> Interpretationen mehr vor, stifteten weder Sinn noch Halt“ (Walter<br />
2011: 12).<br />
39
Diese Veränderungen lassen sich durch Sighard Neckels Studie zur „Erfolgskultur der Marktgesellschaft“<br />
weiter erhellen (Neckel 2008). Neckel bezieht sich auf eine aus den 50er Jahren<br />
stammende Untersuchung von Heinrich Popitz <strong>und</strong> Hans Paul Bahrdt zum „Gesellschaftsbild<br />
des Arbeiters“ (Popitz/Bahrdt u.a. 1957), die ein dichotomisches, klar zwischen oben <strong>und</strong><br />
unten trennendes Gesellschaftsbild der Arbeiterschaft insgesamt feststellt, dies jedoch durch<br />
zwei weitere Gr<strong>und</strong>züge charakterisiert: durch ein starkes Kollektivgefühl sowie durch ein<br />
ausgeprägtes Leistungsbewusstsein, d.h. die Selbstwahrnehmung als die eigentlich produktive,<br />
gesellschaftlich nützliche Klasse. Da in der Körperlichkeit der Arbeit der sinnfälligste<br />
Ausdruck gesellschaftlicher Nützlichkeit gesehen wurde, hatten auch Geringqualifizierte die<br />
Möglichkeit, „sich selbst als Teil der großen <strong>und</strong> bedeutsamen Arbeiterklasse zu verstehen“<br />
(Neckel 2008: 188). Nach Neckel löst sich dieses Gesellschafts- <strong>und</strong> Selbstbild seit den späten<br />
60er Jahren zunächst zugunsten einer „symbolischen Zentrierung auf die mittleren Schichten“<br />
auf (Neckel 2008: 190), um in jüngerer Vergangenheit wiederum von einem dichotomischen,<br />
nun aber zwischen „Verlierern“ <strong>und</strong> „Gewinnern“ unterscheidenden Gesellschaftsbild abgelöst<br />
zu werden (Neckel 2008: 191).<br />
Von einem ganz anderen theoretischen Ausgangspunkt, nämlich Durkheims „organischer<br />
Solidarität“ <strong>und</strong> einem von Simmel inspirierten, auf wechselseitige soziale Beziehungen<br />
gerichteten Armutsbegriff, kommt Serge Paugam zu einer Periodisierung der Geschichte der<br />
Armut, die Ähnlichkeiten mit derjenigen Neckels aufweist. Paugam unterscheidet die Idealtypen<br />
integrierter, marginalisierter <strong>und</strong> disqualifizierender Armut. Im ersten, in Gesellschaften<br />
mit schwacher ökonomischer Entwicklung dominierenden Fall, sei Armut ein Massenphänomen,<br />
die Armen nicht allzu stigmatisiert <strong>und</strong> der Umgang mit ihnen durch stark ausgeprägte<br />
Formen familialer <strong>und</strong> gesellschaftlicher Solidarität geprägt. Marginalisierte Armut sei<br />
typisch für entwickelte wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaften. Die Armen sind zu einer<br />
Randgruppe geworden, um die sich eine ausgebaute Sozialbürokratie kümmert. Die gesellschafts<strong>politische</strong><br />
Debatte kreist weniger um das Randphänomen Armut, das angesichts des<br />
wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Fortschritts für gr<strong>und</strong>sätzlich überwindbar gehalten wird, als um<br />
allgemeine Verteilungsfragen. Die diskriminierende Armut schließlich ist typisch für postindustrielle<br />
Gesellschaften mit hoher Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> prekären Beschäftigungsverhältnissen.<br />
Sie sei eher ein Problem der Ausgrenzung als der materiellen Armut. Sie führe bei<br />
Betroffenen zu einem Gefühl sozialer Entwertung <strong>und</strong> bedrohe den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />
als ganze (Paugam 2008: 112-118).<br />
Die Ablösung der Klassenspaltung durch eine zwischen „Gewinnern“ <strong>und</strong> „Verlierern“ findet<br />
Ausdruck in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zur neuen Unterschicht. Paul Nolte<br />
40
konstatiert aus eher kulturkonservativer Perspektive eine bereits früh einsetzende, bis in die<br />
60er Jahre hinein anhaltende „Verbürgerlichung“ der Arbeiterschaft. Erst danach sei dieses<br />
Leitbild der Verbürgerlichung als normative Utopie <strong>und</strong> als kulturelle Praxis zerbröckelt<br />
(Nolte 2004: 67). Befördert durch die finanziellen Transfers des Sozialstaats soll sich ein<br />
eigener Lebensstil der Unterschichten verfestigt haben, der durch Bedeutungsverlust der<br />
Arbeit, eine hedonistische Massenkultur <strong>und</strong> insbesondere durch individuelle Verantwortungslosigkeit<br />
gekennzeichnet sei. Benachteiligung äußere sich heute „weniger als Mangel an<br />
Geldressourcen, eher als Mangel an kulturellen Ressourcen, als Sozialisation in spezifische<br />
Lebensweisen, Verhaltensformen <strong>und</strong> Konsummuster hinein“ (Nolte 2004: 65).<br />
Ähnlich klingt es bei Franz Walter, wenn er formuliert, die modernen Unterschichten seien<br />
„keine praktizierenden Fre<strong>und</strong>e von Disziplin, Langfristigkeit, Triebaufschub. Freizeit,<br />
Spaß, Unterhaltung, Ablenkung, Traumwelten, <strong>und</strong> Body-Kult - in diesen Chiffren<br />
drücken sich die Alltagsphilosophien <strong>und</strong> die Lebensbewältigung der modernen<br />
Underclass aus“ (Walter 2011: 20).<br />
Bedrohlichere Züge als die hedonistischen Medienkonsumenten <strong>und</strong> Tagträumer Walters<br />
gewinnen die Vertreter der Unterschicht in den Schilderungen Heinz Budes. Er macht in der<br />
Unterklassenkultur eine „schief laufende Maskulinität“ oder sogar einen „Habitus der<br />
Gemeinheit“ aus, den er als „verzweifelte Suche nach Respekt in dem Syndrom radikalen<br />
Verlierertums“ erklärt (Bude 2009: 31).<br />
Dass derartige Beschreibungen ebenso viel über die deutsche Mehrheitsgesellschaft wie über<br />
die porträtierte Unterschicht aussagen, liegt auf der Hand. Wir haben es hier nicht nur mit<br />
nüchterner soziologischer Beschreibung, sondern eben auch mit der gesellschaftlichen<br />
Konstruktion eines „inneren Auslands“ der deutschen Gesellschaft (Neckel 2008: 178) zu tun.<br />
Aber auch das ist ein wichtiger Bef<strong>und</strong>: Die von ausgrenzender Armut betroffene Unterschicht<br />
dient der Mehrheitsgesellschaft als „konstitutives Außerhalb“ 33 , über das sie ihre eigenen,<br />
positiv besetzten Selbstbilder generiert.<br />
Damit ist allerdings keineswegs behauptet, die festgestellte kulturelle Kluft zwischen der<br />
neuen Unterschicht <strong>und</strong> der Mehrheitsgesellschaft sei eine Fiktion. Unterschiede in der<br />
Lebensweise, in Interessen, Freizeitverhalten <strong>und</strong> Erziehungsstilen zwischen Ober- <strong>und</strong><br />
Mittelschicht auf der einen <strong>und</strong> der Unterschicht auf der anderen Seite scheinen während der<br />
letzten zwei Jahrzehnte drastisch zugenommen zu haben. 34 Im Einzelnen wäre hier allerdings<br />
33 Zu diesem Begriff vgl. Mouffe 2007: 23.<br />
34 In der FAZ vom 17.8.2011 nennt Renate Köcher eine ganze Reihe von Indikatoren, die für eine solche<br />
Auseinanderentwicklung der Lebensweisen <strong>und</strong> Kulturen sprechen. Unter anderem hat das Institut für<br />
Demoskopie Allensbach für die Mitte der neunziger Jahre noch bei 45 Prozent der unter 25-Jährigen aus den<br />
unteren Schichten ein zumindest eingeschränktes Interesse für Politik ermittelt. Diese Zahl sei heute auf 32<br />
Prozent abgesunken, während die ohnehin höheren Zahlen in Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht nur geringfügig<br />
41
stärker zwischen den verschiedenen, von multipler Armut <strong>und</strong> Exklusion betroffenen Gruppen<br />
zu unterscheiden. Die alleinerziehende, im Niedriglohnbereich arbeitende Mutter, der<br />
arbeitslose, noch nie einer geregelten Tätigkeit nachgegangene Jugendliche <strong>und</strong> der 45-jährige<br />
Arbeiter, der durch den Abbau gering qualifizierter Tätigkeiten Stelle <strong>und</strong> Zukunftschancen<br />
verlor, lassen sich weder von ihrer objektiven Lage noch kulturell über einen Kamm scheren.<br />
Festhalten lässt sich jedoch, dass sich nach einer mehrere Jahrzehnte dauernden Angleichung<br />
der Lebensverhältnisse zwischen Unter- <strong>und</strong> Mittelschichten, in der jüngeren Vergangenheit<br />
die erneute Verfestigung einer Unterschicht beobachten lässt, die nun jedoch nicht mehr Teil<br />
einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung mit eigenen Organisationen, kollektivem Selbstbewusstsein,<br />
kulturellen Werten <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n Perspektiven bildet. Vielmehr herrscht ihr<br />
gegenüber eine Haltung der Abgrenzung, die nicht mehr durch eine gemeinsame Klassenidentität<br />
relativiert wird. Zwischen den unterprivilegierten Schichten <strong>und</strong> dem Rest der<br />
Gesellschaft verläuft eine „Trennlinie der Respektabilität“ (Vester 2009: 36).<br />
Dieser abgrenzenden Haltung durch die Mehrheitsgesellschaft steht auf Seiten der von<br />
multipler Armut betroffenen Gruppen eine eher resignative Lebenshaltung gegenüber. Renate<br />
Köcher spricht von einem „Statusfatalismus“ der unteren sozialen Schichten. 35 Politisch<br />
führen Lebenslagen mit mehrfacher Benachteiligung selten zur Unterstützung extremistischer<br />
Parteien, sondern eher dazu, „auf <strong>politische</strong> Partizipation zu verzichten <strong>und</strong> sich von der<br />
Möglichkeit der Mitbestimmung resigniert zu verabschieden“ (Böhnke 2006: 158). Ähnlich<br />
sieht Neugebauer in dem von ihm nicht nach objektiven sozialen Lagen, sondern schon<br />
aufgr<strong>und</strong> von Werthaltungen konstruierten „abgehängten Prekariat“ wenig Interesse an Politik<br />
<strong>und</strong> einen hohen Anteil von Nichtwählern. Allerdings stellt er auch einen überdurchschnittlichen<br />
Anteil an Wählern von linken <strong>und</strong> rechten Randparteien fest. 36<br />
zurückgingen. Eine andere Zahl deutet ebenfalls auf erhebliche Unterschiede in Lebensweise <strong>und</strong> Kultur hin:<br />
Während in den achtziger Jahren die Zahl der Raucher in der Oberschicht noch über der in der Unterschicht lag,<br />
habe sich in der Zwischenzeit die Zahl der Raucher in der Oberschicht halbiert, in der Unterschicht sei sie<br />
lediglich von 37 auf 34 Prozent zurückgegangen. Ähnliche Auseinanderentwicklungen lassen sich bei<br />
Leseverhalten, Mediennutzung <strong>und</strong> Erziehungsstilen beobachten (Köcher 2011: 5)<br />
35 Ihr zufolge erwarten nur 14 Prozent der unteren Schichten (wozu sie die nach Einkommen, Bildung <strong>und</strong> Beruf<br />
unteren zwanzig Prozent der Bevölkerung rechnet) dass es ihnen in zehn Jahren besser gehen wird. Nur dreißig<br />
Prozent sind zuversichtlich, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird als ihnen selbst (Köcher 2009: 5).<br />
36 Da nach seiner Konstruktion das „abgehängte Prekariat einen Anteil von 25 Prozent an der ostdeutschen, aber<br />
nur von 8 Prozent an der westdeutschen Bevölkerung ausmacht, kann allerdings auch nicht verw<strong>und</strong>ern, wenn in<br />
diesem Milieu ein überdurchschnittlich hoher Anteil angibt, Anhänger der Linken zu sein. Der Anteil der<br />
Anhänger rechtsextremer Parteien ist in diesem Milieu zwar auch überdurchschnittlich, mit 8 Prozent aber auch<br />
nicht dramatisch hoch (Neugebauer 2008: 34f.).<br />
42
4.1.2 Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen in der Wettbewerbsgesellschaft<br />
Wie vorne schon für die soziale Lage, so ist auch für die subjektiven Orientierungen der von<br />
Einkommens-, Sicherheits- <strong>und</strong> Statusverlusten betroffenen gesellschaftlichen Mitte kein auch<br />
nur einigermaßen einheitliches Bild zu gewinnen. Dies gilt zum einen, weil diese Gruppe sehr<br />
heterogen ist, zum anderen aber auch, weil, wie wir sehen werden, die Literatur für diese<br />
Gruppe gegensätzliche kulturelle <strong>und</strong> gesellschafts<strong>politische</strong> Orientierungen ausmacht. Dass<br />
es sich dabei nicht nur um verschiedene Interpretationen, sondern um einen in der Situation<br />
dieser Gruppen angelegten Gegensatz handelt, lässt sich durch die Ergebnisse einer von Klaus<br />
Dörre, Klaus Kraemer <strong>und</strong> Frederic Speidel durchgeführten qualitativen Erhebung zu den<br />
subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarität veranschaulichen (Dörre 2009a). Orientiert<br />
am Zonenmodell Castels unterscheiden die Autoren zwei zentrale Integrationsmodi der<br />
Erwerbsarbeit: „die reproduktiv-arbeitskraftbezogene <strong>und</strong> die subjektiv-sinnhafte, tätigkeitsbezogene<br />
Integration“ (Dörre 2009a: 47). Obwohl soziale Unsicherheit bis weit in die sog.<br />
Zone der Integration reiche <strong>und</strong> hochqualifizierte Arbeitskräfte erfasse, könne bei entsprechender<br />
Ausstattung mit kulturellen <strong>und</strong> finanziellen Ressourcen die Identifikation mit der<br />
Tätigkeit die strukturell angelegte Beschäftigungsunsicherheit zumindest zeitweilig kompensieren.<br />
„Gerade für Hochqualifizierte gilt, dass das Interesse an der Tätigkeit <strong>und</strong> der Freiheitsgewinn,<br />
der mit flexiblen Arbeitsformen einhergeht, das Empfinden sozialer<br />
Unsicherheit überlagert“ (Dörre 2009a: 48).<br />
Begünstigt durch diese Identifikation mit den Arbeitsinhalten tendierten nicht nur Führungskräfte,<br />
sondern auch Spezialisten <strong>und</strong> qualifizierte Angestellte zu einer Verinnerlichung des<br />
Marktzwangs. Dörre sieht unter diesen, sich durch ein professionelles Ethos auszeichnenden<br />
Gruppen ein Bemühen um Bestätigung in der Arbeit, das „mitunter geradezu pathologische<br />
Formen annehmen (kann)“ (Dörre 2009a: 49).<br />
Dieser Bef<strong>und</strong> erinnert an die These von Boltanski/Chiapello, wonach die historische<br />
Entwicklung des Kapitalismus dadurch gekennzeichnet sei, dass er jene Werte in sich<br />
aufnehme, „die zuvor dazu dienten, ihn zu kritisieren“ (Boltanski/Chiapello 2005: 295). Der<br />
Kapitalismus sei gr<strong>und</strong>sätzlich in der Lage, Unterstützung zu generieren, indem er einen<br />
Kompromiss zwischen seiner Akkumulationsabsicht <strong>und</strong> dem Wertesystem seiner Gegner<br />
eingehe. Während so gesehen der organisierte, wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus eine Reaktion<br />
auf die Sozialkritik der Arbeiterbewegung bildet, ist der flexible Kapitalismus der jüngeren<br />
Vergangenheit das Ergebnis der aus der 1968er Bewegung hervorgegangenen, Selbstentfaltungsmöglichkeiten<br />
in der Arbeit einklagenden „Künstlerkritik“. Sie habe dazu beigetragen,<br />
starre hierarchische Arbeitsformen durch flexiblere, stärker selbstbestimmte <strong>und</strong><br />
43
horizontal vernetzte Formen der Arbeitsorganisation zu ersetzen. Deren Kehrseite bildeten<br />
allerdings „zunehmende <strong>Ungleichheit</strong>, prekäre Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> die Verarmung vieler<br />
Lohnempfänger“ (Boltanski/Chiapello 2005: 308). Aber nicht nur das. Es scheint als hätten<br />
die erweiterten Möglichkeiten der individuellen Identifikation mit den Arbeitsinhalten eine<br />
neue Trennungslinie eröffnet. Serge Paugam jedenfalls sieht als Konsequenz des Strebens<br />
nach Anerkennung über die Qualität der Tätigkeit nicht nur ein Verblassen kollektiver Orientierungen,<br />
sondern die Disqualifikation anderer, weniger qualifizierter Arbeitnehmer (Paugam<br />
2009: 180).<br />
Sighard Neckel knüpft in seiner Theorie von der Marktgesellschaft als kulturellem Kapitalismus<br />
an den Arbeiten von Boltanski/Chiapello an <strong>und</strong> bezieht sie auf die ältere These Polanyis<br />
von der kulturellen Einbettung des Kapitalismus. Allerdings kommt er zu einem ganz anderen<br />
Ergebnis hinsichtlich des Verhältnisses von Kultur <strong>und</strong> Kapitalismus. Polanyi habe in der<br />
Einbettung von Märkten noch eine Begrenzung ihrer destruktiven Logik durch soziale Institutionen<br />
<strong>und</strong> kulturelle Werte gesehen. Heute dagegen zeichne sich statt einer solchen kulturellen<br />
„Einbettung“ eher eine Vermarktlichung der Kultur <strong>und</strong> der maßgeblichen Sozialnormen<br />
ab. Die moderne Marktgesellschaft habe die Tendenz, „das Soziale bis hin zu den<br />
inneren Antrieben von Personen zu ökonomisieren“ (Neckel 2008: 28).<br />
Neckel konkretisiert diese These an der Ablösung des Leistungsprinzips durch eine<br />
Gewinner/Verlierer Kultur. Während das Leistungsprinzip mit seinem Regelwerk von<br />
Aufwand <strong>und</strong> Entschädigung noch Reziprozitätsnormen folge, sei Markterfolg allenfalls<br />
teilweise von Arbeitsleistungen abhängig <strong>und</strong> beruhe zum großen Teil auf Gelegenheitsstrukturen,<br />
positiven Zuschreibungen oder schlicht dem Zufall (Neckel 2008: 25). Anders als<br />
das Leistungsprinzip, das graduelle Statusunterschiede zuschreiben <strong>und</strong> normativ legitimieren<br />
könne, setze die Orientierung auf Markterfolg an die Stelle einer solchen „graduell-quantitativen<br />
<strong>Ungleichheit</strong>ssemantik“ die Dichotomie von Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern. (Neckel 2008:<br />
183-195). Neckel sieht seine Analyse sowohl durch die weite Verbreitung der Gewinner-<br />
Verlierer Semantik (Neckel 2008: 165) als auch durch die Zunahme fatalistischer Deutungsmuster<br />
bestätigt, die gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> auf Zufall, auf bereits bestehende Privilegien<br />
oder einfach auf Willkür zurückführen (Neckel 2008: 192). Nicht nur die durch keinen<br />
Arbeitsaufwand mehr zu legitimierenden Einkommen an der Börse oder im Showgeschäft,<br />
auch die Popularität von Castingshows veranschaulichen ihm zufolge die kulturelle Leitfunktion<br />
des „winner-take-all“ Prinzips (Neckel 2008: 85).<br />
Ähnliche Diagnosen einer destruktiven Dominanz des Wettbewerbsprinzips finden sich in den<br />
Gesellschaftsanalysen von Hartmut Rosa (2006) <strong>und</strong> Lessenich/Nullmeier (2006). Rosa<br />
44
spricht von einer Transformation des Wettbewerbs vom Mittel „zum strukturell verfestigten<br />
Selbstzweck“ (Rosa 2006: 94) <strong>und</strong> meint damit, dass er immer weniger auf soziale Ziele oder<br />
definierte Leistungen ausgerichtet sei, sondern stattdessen nur noch am Erfolg gemessen<br />
werde. Dies führe zu einer beispiellosen Dynamisierung des Kampfes um Anerkennung <strong>und</strong><br />
zum Permanentwerden der Angst vor dem individuell zugerechneten Misserfolg (Rosa 2006:<br />
98). Lessenich/Nullmeier gehen davon aus, dass die gesellschaftlichen Wettbewerbssituationen<br />
derart bestimmend <strong>und</strong> die „Konkurrenzen <strong>und</strong> Marktlagen“ so fragmentiert sind, dass es<br />
zu keinerlei Einheitsbildung mehr kommen kann (Lessenich/Nullmeier 2006: 19).<br />
Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist nicht zu erwarten, dass die von Unsicherheit <strong>und</strong> drohendem<br />
Abstieg betroffenen Gruppen der gesellschaftlichen Mitte untereinander solidarisieren oder<br />
gar eine gemeinsame Perspektive mit den bereits von Armut <strong>und</strong> Exklusion Betroffenen<br />
entwickelten. Die dichotomische Unterscheidung zwischen Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern setzt<br />
für die Individuen vielmehr starke Distanzierungsanreize.<br />
Noch gr<strong>und</strong>sätzlicher aber gilt: sollten die hier knapp skizzierten kultursoziologischen Diagnosen<br />
zutreffen - <strong>und</strong> nicht nur bestehende Tendenzen dramatisieren - so käme dies einer<br />
Auflösung des Selbstbildes der Gesellschaft als Kooperationszusammenhang gleich, wie es<br />
etwa noch der gerechtigkeitstheoretischen Begründung des Sozialstaates bei Rawls zugr<strong>und</strong>e<br />
liegt. Die „intuitive Vorstellung“, von der dieser bei der Begründung seiner Gerechtigkeitsgr<strong>und</strong>sätze<br />
ausgeht ist die,<br />
„dass jedermanns Wohlergehen von der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand<br />
ein befriedigendes Leben hätte, <strong>und</strong> dass daher die Verteilung der Güter jeden, auch<br />
den weniger Begünstigten, geneigt machen sollte, bereitwillig mitzuarbeiten“ (Rawls<br />
1975: 32).<br />
Diese „Intuition“ gehört offenk<strong>und</strong>ig zu einer durch Reziprozität <strong>und</strong> gemeinsame Ziele<br />
charakterisierten Kooperationsgesellschaft, nicht aber zu einer Konkurrenzgesellschaft, in der<br />
Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg dem Markt überlassen bleiben <strong>und</strong> in der die entscheidende Trennung<br />
zwischen „Gewinnern“ <strong>und</strong> „Verlierern“ verläuft.<br />
Betrachtet man den gerechtigkeitstheoretischen Diskurs der vergangenen Jahre, so sind deutliche<br />
Veränderungen zu beobachten, die das kooperative Moment in der Begründung von<br />
Gerechtigkeitsnormen zurückdrängen. Als Anzeichen dafür lässt sich der Bedeutungsverlust<br />
der Orientierung auf Bedarfs- <strong>und</strong> Leistungsgerechtigkeit zugunsten einer marktkompatibleren<br />
„Teilhabegerechtigkeit“ werten. Der Begriff der Teilhabegerechtigkeit stammt ursprünglich<br />
aus dem Kontext sozialer Bewegungen <strong>und</strong> Initiativen. Er zielt darauf, der zunehmenden<br />
Heterogenität sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en <strong>und</strong> Benachteiligungen durch die Formulierung eines<br />
Inklusionsanspruchs gerecht zu werden. Jedes Individuum soll in die Lage versetzt werden,<br />
45
gleichberechtigt <strong>und</strong> umfassend am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Leisering 2004).<br />
In den Diskussionen zur Reform des Sozialstaates erfuhr der Begriff der Teilhabegerechtigkeit<br />
jedoch eine ökonomische Verkürzung auf die Fähigkeit zur Teilnahme am Arbeitsmarkt.<br />
Ein anerkennungstheoretisch begründeter Teilhabeanspruch wandelt sich damit zur Forderung<br />
nach Inklusion in das ökonomische Funktionssystem. Zur entscheidenden Gerechtigkeitsnorm<br />
wird es dann, möglichst jedes Individuum in die Lage zu versetzen, am „Spiel“ der Marktökonomie<br />
teilzunehmen. Mit welchen Ergebnissen, ob als Bezieher eines Niedriglohns oder<br />
eines Spitzeneinkommens, tritt demgegenüber in den Hintergr<strong>und</strong>. Für die Sozialpolitik<br />
bedeutet dies, dass nicht mehr „Dekommodifizierung“, sondern umgekehrt “Kommodifizierung“<br />
(der Arbeitskraft) als wichtigste Funktion einzelner sozialstaatlicher Regelungen gilt. 37<br />
Ginge die Wirklichkeit in den skizzierten Szenarien einer marktförmigen Wettbewerbsgesellschaft<br />
auf, wäre dies für die uns interessierenden Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />
von Armen <strong>und</strong> Prekarisierten in mehrfacher Hinsicht fatal:<br />
• Erstens würde die Verinnerlichung von Marktzwängen <strong>und</strong> die individualisierende<br />
Zuschreibung von Erfolg oder Misserfolg bereits die Artikulation <strong>politische</strong>r Forderungen<br />
erschweren, die sich auf eine <strong>politische</strong> Regulierung <strong>und</strong> erneute „Einbettung“<br />
der Marktkonkurrenz richten.<br />
• Zweitens ließe die selbstvergewissernde <strong>und</strong> statusverteidigende Abgrenzung gegenüber<br />
der Unterschicht, die in diesen Szenarien ein herausragendes Merkmal der prekarisierten<br />
oder zumindest verunsicherten Mitte bildet, jede gemeinsame <strong>politische</strong><br />
Perspektive illusionär erscheinen.<br />
• Drittens <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich jedoch entzöge das oben skizzierte Szenarium von einer<br />
Vermarktlichung der Kultur <strong>und</strong> der Sozialnormen jeder verteilungsrelevanten solidarischen<br />
Politik die symbolischen Ressourcen.<br />
4.1.3 Resilienz gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen?<br />
Das eindimensionale Szenario einer Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen wird<br />
allerdings komplizierter, wenn wir nicht bei kultursoziologischen Betrachtungen bleiben,<br />
sondern die Ergebnisse der empirischen Forschung zu gesellschaftlichen Werten <strong>und</strong> soziokulturellen<br />
Milieus hinzunehmen.<br />
Betrachtet man die Ergebnisse der empirischen Forschungen zu Gerechtigkeitsvorstellungen<br />
<strong>und</strong> Gerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung, so ergibt sich keineswegs ein eindeutiges<br />
37 Dazu kritisch Nullmeier 2008: 451. Die Abkehr von Leistungs- <strong>und</strong> Bedarfsgerechtigkeit zugunsten der<br />
marktkonformeren Teilhabegerechtigkeit befürworten dagegen Liebig/May 2009.<br />
46
Bild. Zwar kommt Stefan Liebig in seinen Arbeiten zum Ergebnis, individualistische, am<br />
marktliberalen Modell orientierte Gerechtigkeitsvorstellungen fänden in der deutschen Bevölkerung<br />
zunehmende Akzeptanz. Andererseits sind auch nach seinen Ergebnissen egalitäre<br />
Vorstellungen zwar rückläufig, dennoch aber weiterhin stärker vertreten als Einstellungen, die<br />
eine Verteilung des Wohlstandes nach Marktmechanismen <strong>und</strong> individueller Leistung für<br />
gerecht halten. 38 Zudem stellt er eine Zunahme fatalistischer Haltungen fest (Liebig 2008; vgl<br />
auch Liebig/Lippl 2005).<br />
Nimmt man dagegen die Bef<strong>und</strong>e der Repräsentativbefragung in der Studie der Friedrich-<br />
Ebert-Stiftung, so zeigt sich ein starkes Übergewicht sozialer gegenüber neoliberalen, auf<br />
Marktfreiheiten gerichteten Werten. Während etwa 78 Prozent der Befragten auf einer siebenstufigen<br />
Skala dem Wert „Freiheit von sozialer Not“ eine der zwei höchsten Einstufungen<br />
gab, die „Solidarität“ 77 Prozent Zustimmung erreichte <strong>und</strong> selbst der egalitäre Wert „Gleichheit<br />
der Lebensverhältnisse“ immer noch von 51 Prozent der Befragten die zwei höchsten<br />
Einstufungen bekam, sahen nur 26 Prozent der Befragten im „freien Spiel der Marktkräfte“<br />
einen sehr wichtigen oder wichtigen Wert (Neugebauer 2007: 49). Diese Wertorientierungen<br />
finden im Übrigen auch eine Bestätigung in den starken sozial<strong>politische</strong>n Erwartungen der<br />
Bürger an den Staat. 39 <strong>Neue</strong>re Daten bestätigen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung<br />
vom Staat mehr Umverteilung fordert (Lippl 2008) 40 <strong>und</strong> die über eine Bedarfssicherung<br />
hinausgehenden Erwartungen an staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, insbesondere zur<br />
Schaffung von Arbeitsplätzen, seit 2005 wieder zunehmen (Nüchter u.a. 2008: 40).<br />
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Michael Vester. In der Auswertung einer bereits im<br />
November 2000 durchgeführten repräsentativen Befragung zu den Vorstellungen von einer<br />
gerechten sozialen Ordnung unterscheidet er sechs gesellschafts<strong>politische</strong> Lager. Ohne diese<br />
hier im Einzelnen darzustellen, liegt der für uns interessante Bef<strong>und</strong> Vesters in einem Übergewicht<br />
derjenigen Lager, die verschiedene Varianten eines „arbeitnehmerischen Solidaritätsmodelles“<br />
vertreten, also für materielle Verteilungsgerechtigkeit <strong>und</strong> die Verteidigung des<br />
Sozialstaates eintreten. Von dieser Gr<strong>und</strong>lage aus will er das „enttäuscht-autoritäre Lager“ der<br />
Modernisierungsverlierer mit ins <strong>politische</strong> Boot holen <strong>und</strong> so Mehrheiten gewinnen. Obwohl<br />
38 Der oben angesprochene Widerspruch zwischen Marktmechanismen <strong>und</strong> individueller Leistung wird von<br />
Liebig nicht thematisiert (Liebig 2008).<br />
39<br />
Neugebauer stellt in diesem Zusammenhang fest: „Soziale Gerechtigkeit wird primär als<br />
Verteilungsgerechtigkeit interpretiert“ <strong>und</strong> beklagt als Befürworter weiterer Reformen des Sozialstaates, die<br />
„fordernden Haltungen gegenüber dem Staat, die in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden“ seien<br />
(Neugebauer 2007: 137).<br />
40 Lippl interpretiert die zeitweilig rückläufige Zustimmung zur Äußerung „Der Staat sollte die Einkommen von<br />
den wohlhabenden zu den weniger wohlhabenden Menschen umverteilen“ in Westdeutschland als Reaktion auf<br />
die finanziellen Transferleistungen nach der deutschen Einheit <strong>und</strong> erklärt die seit 2006 wieder über 50 Prozent<br />
liegende Zustimmung in Westdeutschland (bei über 80 Prozent in Ostdeutschland) mit dem Bedeutungsverlustes<br />
des Ost-West-Gegensatzes (Lippl 2008: 19).<br />
47
Vester anspricht, dass es dazu erforderlich sei, „ein zusammenhängendes Bild der<br />
wünschenswerten sozialen Ordnung“ zu entwerfen (Vester 2009: 49), bleibt letztlich doch<br />
offen, wie aus den Solidaritätswerten, die er im „gemässigt-konservativen“, dem „sozialintegrativen“<br />
<strong>und</strong> einem „skeptisch-distanzierten Lager“ ausmacht, eine integrationsfähige, bestehende<br />
Gegensätze <strong>und</strong> Abgrenzungsbedürfnisse überbückende <strong>politische</strong> Orientierung werden<br />
könnte (Vester 2009: 54f.). 41<br />
5. Ausblick: Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Exklusion <strong>und</strong><br />
Prekarisierung betroffenen Gruppen<br />
Die referierten Ergebnisse der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung führen zu keinem klaren Ergebnis<br />
hinsichtlich der Repräsentationsfähigkeit der von Exklusion <strong>und</strong> Unsicherheit betroffenen<br />
Gruppen. Auf der einen Seite stehen Bef<strong>und</strong>e, die auf der Interessenebene eine bis weit in die<br />
Mitte der Gesellschaft reichende Betroffenheit durch die negativen Effekte eines neuen kapitalistischen<br />
Produktionsregimes nahelegen, sowie auf eine hohe Stabilität gesellschaftlicher<br />
Solidaritätswerte <strong>und</strong> mehrheitliche Unterstützung für einen umverteilenden Sozialstaat<br />
verweisen. Demgegenüber stehen Diagnosen von einem Ende der „organischen Solidarität“<br />
<strong>und</strong> der auf ihr basierenden Gerechtigkeitsvorstellungen, der Auflösung der großen soziokulturellen<br />
Milieus zugunsten der Individualisierung in einer naturalisierten Wettbewerbsgesellschaft<br />
sowie der kulturellen Dominanz eines zwischen Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern<br />
dichotomisierenden Gesellschaftsbildes.<br />
Was bedeutet dies für die oben entwickelte These einer „doppelten“, die Entkollektivierung<br />
gesellschaftlicher Kooperationsverhältnisse sowie die symbolische Ebene verallgemeinerbarer<br />
Werte betreffenden Abkoppelung? Wie wirkt sich das skizzierte widersprüchliche Bild auf die<br />
<strong>politische</strong> Konfliktfähigkeit der von Exklusion oder Abstieg <strong>und</strong> Unsicherheit Betroffenen<br />
aus?<br />
Wie oben bereits dargestellt, ist <strong>politische</strong> Repräsentation als Ausdruck oder bloßer Reflex<br />
gesellschaftlicher Interessen nicht adäquat verstanden. Auch die arbeitsgesellschaftliche Solidarität,<br />
die Robert Castel <strong>und</strong> andere Autoren 42 durch ein neues kapitalistisches Produktionsregime<br />
untergraben sehen, war nie ein unmittelbarer Reflex industriegesellschaftlicher Beziehungen,<br />
sondern bedurfte verallgemeinerbarer Begründungen auf der Ebene gesellschaftlicher<br />
Werte, Selbstbilder <strong>und</strong> Zukunftserwartungen.<br />
41 Vgl. dazu Thaa 2011.<br />
42 So etwa Castel 2000, Hofmann 2009.<br />
48
Politische Programme <strong>und</strong> Forderungen begründen Interessen mit Werten, die als allgemeingültig<br />
gelten, sie stellen eine Verbindung her zwischen der Gegenwart <strong>und</strong> einer für<br />
wünschenswert gehaltenen Zukunft , weshalb sie stets auch normative Selbstbilder des<br />
<strong>politische</strong>n Gemeinwesens entwerfen, für das sie artikuliert werden.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> greifen Appelle an die Politik zu kurz, die Kommunikation mit den<br />
Gruppen der Modernisierungsverlierer zu verbessern <strong>und</strong> gegenüber ihren Interessen mehr<br />
Responsivität zu zeigen. 43 Politische Repräsentation umfasst ein breites Spektrum von<br />
Funktionen, unter denen in unserem Kontext ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende<br />
besonders hervorzuheben sind:<br />
• <strong>politische</strong> Repräsentation bildet eine Bühne der Artikulation gesellschaftlicher Interessen;<br />
• sie impliziert die symbolische Aufwertung der repräsentierten Interessen durch ihre<br />
Artikulation in verallgemeinerbaren Werten <strong>und</strong> ihre Integration in ein normativ wünschenswertes<br />
Zukunftsbild;<br />
• darüber vermittelt befördert <strong>politische</strong> Repräsentation die Identitätsbildung <strong>und</strong><br />
normative Aufwertung der mit diesen Interessen verb<strong>und</strong>enen Gruppen;<br />
• <strong>politische</strong> Repräsentation bündelt verschiedene Interessen <strong>und</strong> Perspektiven zu<br />
identifizierbaren, jeweils auf einer Seite einer Konfliktlinie oder eines Issues lokalisierbaren<br />
Handlungsalternativen <strong>und</strong> schafft damit erst unterscheidbare <strong>politische</strong><br />
Lager;<br />
• zugleich führt <strong>politische</strong> Repräsentation durch diese Einbettung von Interessen in<br />
gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektiven zu ihrer Relativierung <strong>und</strong> ihrer<br />
Mäßigung.<br />
Diese allgemeinen Funktionen demokratischer <strong>politische</strong>r Repräsentation werden von unterschiedlichen<br />
Repräsentationsformen nicht in gleichem Ausmaß erfüllt. Es wäre deshalb<br />
genauer zu untersuchen, wie verschiedene Formen <strong>politische</strong>r Repräsentation diese Funktionen<br />
speziell für die zwei Gruppen der von Exklusion Betroffenen <strong>und</strong> der von Verunsicherung<br />
<strong>und</strong> Prekarisierung Bedrohten wahrnehmen bzw. welche Effekte von ihnen für die mögliche<br />
Herausbildung von neuen, beide Gruppen zusammenführenden Konfliktlinien ausgehen.<br />
Konkret wären folgende Formen <strong>politische</strong>r Repräsentation genauer anzuschauen:<br />
• Mitgliederparteien, Programme, Wahlen<br />
• Parlamentarische Prozesse<br />
• Expertenkommissionen<br />
43 Beispielhaft in diesem Sinn etwa Neugebauer 2007.<br />
49
• Deskriptive Repräsentationsformen benachteiligter Gruppen<br />
• Soziale Bewegungen, bürgergesellschaftliche Mobilisierung <strong>und</strong> Selbstorganisation<br />
von Betroffenen<br />
• Stark personalisierte, populistische Repräsentationsformen<br />
Zu diskutieren wäre beispielsweise genauer:<br />
• wie der medienvermittelte Wettbewerb von Parteien um Wählerstimmen die Artikulation<br />
der Interessen von Modernisierungsverlierern beeinflusst, welche Unterschiede da<br />
zwischen stärker wahlkampfbezogenen <strong>und</strong> anderen öffentlichen Äußerungen der<br />
Parteien bestehen;<br />
• ob, <strong>und</strong> wenn ja, wie Parteien die oben genannten Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber<br />
gesellschaftlichen Verlierern aufgreifen;<br />
• ob, <strong>und</strong> wenn ja, welche symbolischen Ressourcen die verschiedenen Repräsentationsformen<br />
nutzen können, um die angeführten Widersprüche zwischen verschiedenen,<br />
von Veränderungen des Produktionsregimes negativ betroffenen Gruppen zu einer<br />
gemeinsamen Perspektive zusammenzuführen;<br />
• wie weit sich in Bezug auf diese Fragen parlamentarische Prozesse von programmatischen<br />
<strong>und</strong> wahlkampfbezogenen Aktivitäten unterscheiden;<br />
• ob Formen deskriptiver Repräsentation zwar zur Identitätsbildung der entsprechenden<br />
Gruppen beitragen, zugleich aber ambivalente Auswirkungen hinsichtlich ihrer<br />
symbolischen Aufwertung haben;<br />
• worin, vor dem skizzierten Hintergr<strong>und</strong>, die Stärken personalisierter, populistischer<br />
Repräsentationsformen liegen;<br />
• wie selbstautorisierte Formen der Repräsentation durch Initiativen <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Mobilisierung auf partei<strong>politische</strong> Repräsentationsformen einwirken.<br />
Eine Gr<strong>und</strong>lage für die Bearbeitung dieser <strong>und</strong> ähnlicher weiterer Fragen können die<br />
Forschungsergebnisse der Teilprojekte C7 <strong>und</strong> C 9 des SFB bilden.<br />
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