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Neue Ungleichheit und politische Repräsentation - Universität Trier

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Arbeitspapier 1/2011, <strong>Trier</strong> 2011<br />

<strong>Neue</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Repräsentation<br />

Winfried Thaa<br />

Kontakt: Prof. Dr. Winfried Thaa, Universität <strong>Trier</strong>, Universitätsring 15, Zi. A 127, 54286 <strong>Trier</strong><br />

Telefon: 0049 – (0)651 201-2135<br />

E-Mail: thaa@uni-trier.de<br />

Web: www.sfb600.uni-trier.de<br />

http://www.uni-trier.de/index.php?id=8000&L=0


Inhalt<br />

Vorbemerkung............................................................................................................................ 1<br />

1. Einleitung: Gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> nimmt zu, ihre <strong>politische</strong> Repräsentation<br />

dagegen ab.................................................................................................................................. 1<br />

2. Von der sozialstaatlichen Parteien- zur marktorientierten Publikumsdemokratie ................. 4<br />

2.1 Produktionsregime <strong>und</strong> Sozialstruktur................................................................................. 4<br />

2.2 <strong>Neue</strong> Muster sozialer <strong>Ungleichheit</strong> ...................................................................................... 7<br />

2.3 Die Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation: Von der Parteien- zur Publikumsdemokratie ....... 11<br />

2.4 Doppelte Abkoppelung <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Konfliktunfähigkeit der neuen <strong>Ungleichheit</strong>........ 14<br />

3. Die sozialwissenschaftliche Debatte zur neuen <strong>Ungleichheit</strong>.............................................. 17<br />

3.1 Ein schematischer Überblick.............................................................................................. 17<br />

3.2 Exklusion oder Prekarisierung ........................................................................................... 19<br />

3.2.1 Die begriffliche Debatte .................................................................................................. 19<br />

3.2.2 Empirische Bef<strong>und</strong>e ........................................................................................................ 27<br />

3.3 Zwischenfazit ..................................................................................................................... 37<br />

4. Schwierigkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation prekarisierter <strong>und</strong> exkludierter<br />

gesellschaftlicher Gruppen....................................................................................................... 38<br />

4.1 Die symbolische Dimension der neuen <strong>Ungleichheit</strong> ........................................................ 38<br />

4.1.1 Der Unterschichtsdiskurs <strong>und</strong> die verlorene Respektabilität .......................................... 38<br />

4.1.2 Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen in der Wettbewerbsgesellschaft.......... 43<br />

4.1.3 Resilienz gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen? ............................................. 46<br />

5. Ausblick: Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Exklusion <strong>und</strong><br />

Prekarisierung betroffenen Gruppen ........................................................................................ 48<br />

Literatur.................................................................................................................................... 51


<strong>Neue</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Repräsentation<br />

von Winfried Thaa<br />

Vorbemerkung<br />

Das folgende Papier ist in der vorliegenden Form nicht zur Veröffentlichung gedacht. Es will<br />

zunächst lediglich Anstöße für eine Diskussion über die Konsequenzen des neuen Charakters<br />

von <strong>Ungleichheit</strong>strukturen für die Möglichkeit ihrer <strong>politische</strong>n Repräsentation in zeitgenössischen<br />

Demokratien bieten. Dazu war es unumgänglich, zumindest in Gr<strong>und</strong>zügen die<br />

Debatten der soziologischen Armutsforschung zu rekapitulieren.<br />

Hauptziel ist dabei allerdings nicht, einen möglichst breiten Überblick über diese Debatte zu<br />

gewinnen, sondern die Schwierigkeiten genauer zu bestimmen, die einer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

der von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen Betroffenen entgegenstehen, ein Aspekt,<br />

der in der soziologischen Forschung kaum thematisiert wird. Aufgr<strong>und</strong> eines solchen ersten,<br />

gewiss unvollständigen Bildes vom Repräsentationsaspekt der neuen Formen von Armut <strong>und</strong><br />

Prekarisierung sollten dann im weiteren Vorgehen die Forschungsergebnisse der einzelnen<br />

Teilprojekte daraufhin befragt werden, welches Potential verschiedene Repräsentationsformen<br />

besitzen, diese spezifischen Schwierigkeiten zu überwinden.<br />

1. Einleitung: Gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> nimmt zu, ihre <strong>politische</strong> Repräsentation<br />

dagegen ab<br />

Die sozialwissenschaftlichen Bef<strong>und</strong>e sind eindeutig: Seit Beginn der achtziger Jahre steht die<br />

Entwicklung aller westlichen Industriestaaten unter dem Zeichen einer zwar unterschiedlich<br />

stark ausgeprägten <strong>und</strong> nicht synchron verlaufenden, insgesamt aber deutlichen Tendenz zu<br />

steigender gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong>. Die Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich erhöht sich,<br />

die Spreizung der Gehälter <strong>und</strong> der Anteil der Niedriglohnbezieher nimmt zu, die Armutsraten<br />

steigen. 1 Die Dramatik dieser Entwicklung erschließt sich allerdings nicht allein aus der<br />

deutlichen Zunahme quantitativer <strong>Ungleichheit</strong>sindikatoren. Sie liegt vielmehr in der Umkehr<br />

eines zuvor jahrzehntelang anhaltenden <strong>und</strong> lange Zeit als geradezu selbstverständlich geltenden<br />

sozialen Fortschritts, der zur graduellen Angleichung von Lebensweisen <strong>und</strong> Lebenschancen<br />

verschiedener gesellschaftlicher Klassen <strong>und</strong> Schichten sowie zum Ausbau der<br />

1 Vgl. etwa OECD 2008; B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Soziales (Armutsbericht) 2008, Wingerter 2009,<br />

Süß 2010.<br />

1


sozialen Sicherungssysteme geführt hatte. Während die ersten Nachkriegsjahrzehnte von der<br />

Erfahrung eines verallgemeinerten Massenkonsums, gesellschaftlichen Aufstiegs <strong>und</strong> sozialer<br />

Sicherheit geprägt waren, steht die internationale gesellschafts<strong>politische</strong> Diskussion heute im<br />

Zeichen von Begriffen wie „<strong>Neue</strong> Armut“ <strong>und</strong> „Prekariat“, „Exklusion“ <strong>und</strong> „Underclass“.<br />

Die modernen repräsentativen Demokratien, die auch in ihren westlichen Stammländern erst<br />

im Laufe des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts alle Bürger mit gleichen <strong>politische</strong>n <strong>und</strong> sozialen<br />

Rechten einschlossen 2 , müssen damit zum ersten Mal in ihrer Geschichte politisch mit einer<br />

länger anhaltenden Zunahme gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> umgehen.<br />

Spätestens seit Tocqueville wird jedoch die Ausbreitung der <strong>politische</strong>n Demokratie in den<br />

Kontext eines unaufhaltsamen, historisch weit zurückreichenden Siegeszugs gesellschaftlicher<br />

Gleichheit gestellt. 3 Derzeit könnte es dagegen scheinen, als wäre, zeitgleich mit dem globalen<br />

Erfolg der <strong>politische</strong>n Demokratie durch den Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus,<br />

das Voranschreiten gesellschaftlicher Gleichheit erst einmal gestoppt oder sogar<br />

umgekehrt worden. Während jedoch in den Jahrzehnten der sukzessiven Verringerung der<br />

Unterschiede in Einkommen <strong>und</strong> Lebenschancen die weiter bestehenden <strong>Ungleichheit</strong>en ihren<br />

Ausdruck in dominanten <strong>politische</strong>n Konfliktlinien fanden, insbesondere in derjenigen<br />

zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital, scheint dies unter den Bedingungen erneut zunehmender<br />

<strong>Ungleichheit</strong> immer weniger der Fall zu sein. Im Vergleich zur starken Repräsentation der<br />

materiellen Interessen <strong>und</strong> der gesellschaftlichen Perspektive der industriellen Lohnarbeit<br />

während der Hochzeiten der Parteiendemokratien in den 50er, 60er <strong>und</strong> 70er Jahren des<br />

vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts sind die von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen wie Dauerarbeitslosigkeit,<br />

prekärer Beschäftigung, <strong>Neue</strong>r Armut oder sozialräumlicher Segregation betroffenen<br />

Gruppen heute politisch wenig präsent. Obwohl gesellschaftswissenschaftlich breit<br />

diskutiert <strong>und</strong> publizistisch thematisiert, scheint es sich bei den genannten Phänomenen um<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sformen zu handeln, die, bislang jedenfalls, weder zu einer Wiederbelebung der<br />

alten, noch zur Herausbildung neuer <strong>politische</strong>r Konfliktlinien führten. Ob die im Zusammenhang<br />

der Konflikte um die mit der sog. Hartz-Kommission verb<strong>und</strong>enen Reformen des<br />

Arbeitsmarkts <strong>und</strong> des Sozialstaates erfolgreiche Gründung der „Linken“ aus der im wesentlichen<br />

ostdeutschen PDS <strong>und</strong> linken westdeutschen Gruppen zur Herausbildung einer solchen<br />

Konfliktlinie führen wird, ist derzeit noch unklar.<br />

2 Dazu Marshall 1992.<br />

3 So formuliert Tocqueville in der Einleitung zum ersten Band seines Werks „Über die Demokratie in Amerika“:<br />

„Die stufenweise Entwicklung der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen ist also ein von der Vorsehung<br />

gewolltes Ereignis, denn sie hat dessen wesentliche Merkmale: sie ist allgemein, sie ist beständig, <strong>und</strong> sie<br />

entzieht sich immer neu der menschlichen Einwirkung; alle Begebenheiten <strong>und</strong> alle Menschen dienen der<br />

Entwicklung der Gleichheit“ (Tocqueville 1835/1985: 19).<br />

2


Kaum weniger als die ausbleibende Verfestigung <strong>politische</strong>r Konflikte entlang der genannten<br />

gesellschaftlichen Spaltungen erstaunt jedoch, dass sich die Politikwissenschaft zwar mit<br />

diesem Thema beschäftigt, dabei aber kaum nach den Möglichkeiten einer angemessenen<br />

<strong>politische</strong>n Repräsentation der ausgegrenzten <strong>und</strong> marginalisierten Gruppen fragt. Politikwissenschaftlich<br />

thematisiert werden die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Armuts<strong>und</strong><br />

Exklusionsforschung vor allem unter folgenden Gesichtspunkten:<br />

• Erstens als Zurückdrängung <strong>politische</strong>r Regulierungen <strong>und</strong> staatlicher Existenzsicherung<br />

durch die naturalisierte Logik des Marktes <strong>und</strong> des Wettbewerbs (Abromeit<br />

2009, Lessenich/Nullmeier 2006, Rosa 2006);<br />

• zweitens als Legitimationsdefizit der Demokratie durch die Schwächung egalitärer<br />

Politiken <strong>und</strong> die Aushöhlung der partizipatorischen Substanz von Bürgerrechten<br />

(Crouch 2008, Kronauer 2002 <strong>und</strong> 2010, Schäfer 2010);<br />

• <strong>und</strong> drittens im Kontext der Parteienforschung als mangelhafte Responsivität der<br />

Volksparteien gegenüber den Interessen sozial Schwacher <strong>und</strong> der enttäuschten<br />

Erwartungen an eine staatliche Sicherung gesellschaftlicher Solidarität (Vester 2009,<br />

Neugebauer 2007).<br />

Die bisherige Arbeit des Teilprojekts C 7 „Formen <strong>und</strong> Funktionsweisen <strong>politische</strong>r Repräsentation<br />

von Fremden <strong>und</strong> Armen“ konzentrierte sich demgegenüber auf einen Vergleich<br />

verschiedener Formen der <strong>politische</strong>n Repräsentation, insbesondere parteipolitisch-parlamentarischer,<br />

deliberativer <strong>und</strong> deskriptiver Repräsentationsformen, <strong>und</strong> fragte dabei nach deren<br />

Leistung für die Repräsentation sog. schwacher Interessen. Hier soll nun versuchsweise<br />

einmal von der anderen, nämlich der gesellschaftlichen Seite ausgehend gefragt werden,<br />

worin die Schwierigkeiten speziell der von neuen <strong>Ungleichheit</strong>en betroffenen Gruppen liegen,<br />

eine wirkungsvolle <strong>politische</strong> Repräsentation zu finden, um dann, unter Berücksichtigung der<br />

bisherigen Forschungsergebnisse, zu diskutieren, welches Potential die verschiedenen Repräsentationsformen<br />

besitzen, diese neuen <strong>Ungleichheit</strong>en in den <strong>politische</strong>n Prozess einzubringen.<br />

Dazu werde ich zunächst knapp auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Form der repräsentativen Demokratie während der Jahrzehnte des sozialstaatlich<br />

gebändigten Kapitalismus eingehen, um so eine Vorstellung des historischen<br />

Wandels zu gewinnen, vor dem sich die neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen <strong>und</strong> ihre Repräsentationsdefizite<br />

erst abzeichnen können (2). Danach werde ich die gesellschaftsanalytische<br />

Debatte zu den neuen Formen der <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> ihrer adäquaten begrifflichen Erfassung<br />

rekapitulieren (3), um auf dieser Gr<strong>und</strong>lage dann die Schwierigkeit ihrer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

präziser zu bestimmen (4). Von da aus sollten dann unter Rekurs auf die<br />

3


Forschungsergebnisse des SFB 600 - in der weiteren Arbeit des Synthesevorhabens -<br />

verschiedene Formen der <strong>politische</strong>n Repräsentation darauf befragt werden, wie sie geeignet<br />

scheinen, die neuen Formen gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> politisch zu repräsentieren.<br />

2. Von der sozialstaatlichen Parteien- zur marktorientierten Publikumsdemokratie<br />

Die Gesellschaften der am weitesten entwickelten kapitalistischen Länder haben sich während<br />

der letzten drei Jahrzehnte erheblich gewandelt. Die sozialwissenschaftliche Literatur ist sich<br />

einig, dass es dabei nicht nur um graduelle Veränderungen geht. Quer zu sonstigen Kontroversen<br />

herrscht weitgehende Übereinstimmung darüber, dass es sich bei diesem Wandel um<br />

einen Bruch mit einer zuvor jahrzehntelang anhaltenden Entwicklung handelt, die gekennzeichnet<br />

war durch die Steigerung von Produktivität <strong>und</strong> Massenkonsum, sozialstaatliche<br />

Absicherung von Existenzrisiken, die Ausweitung gesellschaftlicher Integration sowie eine<br />

vergleichsweise breite, von gesellschaftlichen Verbänden <strong>und</strong> demokratischen Parteien getragene<br />

<strong>politische</strong> Partizipation. Etwas systematischer möchte ich diese nach übereinstimmender<br />

Meinung mittlerweile der Vergangenheit angehörende Phase der Entwicklung durch drei<br />

verschiedene Dimensionen charakterisieren, nämlich erstens durch das Akkumulationsregime<br />

<strong>und</strong> die sozio-ökonomische Gr<strong>und</strong>struktur, zweitens durch die vorherrschenden Muster<br />

sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> ihre Beziehung zum Bürgerstatus sowie drittens durch die vorherrschende<br />

Form der <strong>politische</strong>n Repräsentation.<br />

2.1 Produktionsregime <strong>und</strong> Sozialstruktur<br />

In der marxistisch geprägten Literatur findet sich für die in Frage stehende Phase vergleichsweise<br />

hohen Wirtschaftswachstums bei gleichzeitiger Vollbeschäftigung <strong>und</strong> starker<br />

Zunahme des Massenkonsums der Begriff des fordistischen Produktionsregimes. Er scheint<br />

über den Rahmen einer marxistischen Gesellschaftsanalyse hinaus geeignet, die sozio-ökonomischen<br />

Gr<strong>und</strong>züge dieser mehrere Jahrzehnte andauernden Phase der Gesellschaftsgeschichte<br />

westlicher Industrieländer zu veranschaulichen.<br />

Der in der Bezeichnung steckende Hinweis auf die von Henry Ford eingeführte Fließbandproduktion<br />

der Automobilindustrie verweist auf die durch Arbeitsorganisation <strong>und</strong> technische<br />

Innovationen erzielten Produktivitätssteigerungen, auf deren Gr<strong>und</strong>lage eine deutliche<br />

Erhöhung der Durchschnittslöhne <strong>und</strong>, als Folge davon, wiederum die Ausweitung von Nachfrage<br />

<strong>und</strong> Produktion möglich wurden. Trotz aller, im einzelnen gewichtigen Unterschiede<br />

zwischen verschiedenen Ländern war diese von der Nachkriegszeit bis zum Ende der 70er<br />

4


Jahre reichende Periode durch die Inkorporierung organisierter Arbeiterinteressen gekennzeichnet.<br />

Es war demnach eine Zeit offensichtlicher, aber in der Regel durch Kompromisse zu<br />

lösender sowie staatlich regulierter Verteilungskonflikte zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit (Dörre<br />

2009: 48). Zu ihren herausragenden Kennzeichen gehörten nicht nur eine historisch beispiellose<br />

Steigerung des Massenkonsums, sondern auch die sozialstaatliche Absicherung des an<br />

sich unsicheren Status der Lohnarbeit sowie eine deutliche Verringerung absoluter <strong>und</strong> relativer<br />

Armut (Dörre 2009: 49). Verstärkt wurde das Bild eines politisch gestaltbaren, alle Gruppen<br />

der Gesellschaft erfassenden Fortschritts durch eine keynesianische Wirtschaftspolitik,<br />

die mittels makroökonomischer Interventionen Wachstum <strong>und</strong> Vollbeschäftigung sichern <strong>und</strong><br />

damit die nationale Wohlfahrt zu erhöhen trachtete. In diesen Zusammenhang gehört auch die<br />

breite Erfahrung einer Statusverbesserung, sei es durch die Aufwertung qualifizierter Lohnarbeit<br />

in sozialpartnerschaftlichen Kooperationszusammenhängen (Lessenich 2009: 154), sei<br />

es durch die Erfahrung sozialen Aufstiegs durch Bildung <strong>und</strong> berufliche Qualifikation<br />

(Geißler 2006: 282-286).<br />

In unserem Kontext ist besonders hervorzuheben, dass in dieser Zeit, wie es John Rawls in<br />

seiner einflussreichen Gerechtigkeitstheorie formuliert, die Gesellschaft intuitiv als Kooperationszusammenhang<br />

im nationalen Rahmen erscheint, in dem „ jedermanns Wohlergehen von<br />

der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand ein befriedigendes Leben hätte“ (Rawls<br />

1975: 32). Zugleich ist die Organisation gesellschaftlicher Interessen <strong>und</strong>, daran anknüpfend,<br />

die <strong>politische</strong> Repräsentation von Großgruppen in hohem Maß durch die Struktur dieser<br />

gesellschaftlichen Kooperation geprägt.<br />

Gegen aktuelle Verklärungen des wohlfahrtsstaatlichen Industriekapitalismus sollte allerdings<br />

daran erinnert werden, dass die gesellschaftliche Integration der Lohnabhängigen nicht für<br />

alle Gruppen in gleichem Maße galt <strong>und</strong> insbesondere Frauen sowie Migranten nur teilweise<br />

von den für diese Zeit typischen korporatistischen Arrangements profitierten. Gerade die oben<br />

erwähnte kollektive Erfahrung des sozialen Aufstiegs durch Bildung <strong>und</strong> Statusverbesserung<br />

war in den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren mit der breiten Einbeziehung von Frauen in meist<br />

schlechter bezahlte Lohnarbeitsverhältnisse sowie der Übernahme einfacher manueller Tätigkeiten<br />

durch Migranten verb<strong>und</strong>en. Zudem führten sowohl die hierarchisch-bürokratische<br />

Form des Produktionsregimes als auch die rücksichtlose Modernisierungspolitik auf Kosten<br />

von Natur <strong>und</strong> gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen in den 60er <strong>und</strong> 70er Jahren zu<br />

sozialen Widerstandsbewegungen. Ob diese mit Boltanski/Chiapello als „Künstlerkritik“, also<br />

als eine nicht von Umverteilungsforderungen, sondern von Selbstverwirklichungsansprüchen<br />

5


der Individuen ausgehende Kapitalismuskritik adäquat erfasst werden können, sei dahingestellt<br />

(Boltanski/Chiapello 2005).<br />

Bereits Ende der 70er Jahre jedoch geriet der hier nur grob umrissene fordistische <strong>und</strong> wohlfahrtsstaatliche<br />

Kapitalismus in eine Krise. Auch hier brauchen uns die möglichen Ursachen<br />

<strong>und</strong> die genaueren Konzeptualisierungen, mit denen diese Veränderungen erfasst werden,<br />

nicht im Einzelnen zu interessieren. Ob durch die Verteuerung fossiler Energien erzwungen<br />

oder durch technischen Fortschritt induziert, ob als Strategie der Kapitalseite, als Reaktion auf<br />

die hohe Staatsverschuldung oder in erster Linie als Folge der Internationalisierung der<br />

Märkte - die makroökonomische Regulierung, die korporatistische Einbindung der Arbeiterorganisationen<br />

<strong>und</strong> der Ausbau des Sozialstaates galten nun als Entwicklungshindernisse <strong>und</strong><br />

wurden abgebaut zugunsten einer ökonomischen Steuerung durch die Kapitalmärkte, der<br />

Deregulierung der Arbeitsbeziehungen sowie kostensparender Reformen des Sozialstaates.<br />

Parallel dazu beschleunigte sich in entwickelten westlichen Ländern der Bedeutungsverlust<br />

der Industriearbeit gegenüber dem Dienstleistungssektor. 4<br />

Erinnert sei daran, dass die kritische Sozialwissenschaft die damit einhergehende Erosion<br />

gesellschaftlicher Großgruppen <strong>und</strong> ihrer traditionalen, gemeinschaftlich geprägten Lebensstile<br />

zunächst positiv als Individualisierungsprozesse bewertete, die gegenüber den starren<br />

Regelungen <strong>und</strong> festen Zugehörigkeiten der alten Industriegesellschaft die Selbstverwirklichungschancen<br />

der Menschen erhöhen sollten. Ulrich Beck glaubte gar die „`Wehen´ einer<br />

neuen Handlungsgesellschaft, Selbstgestaltungsgesellschaft“ beobachten zu können (Beck<br />

1993: 162).<br />

Dies hat sich gr<strong>und</strong>legend geändert. Heute dominiert die Befürchtung, der deregulierte, weitgehend<br />

den Marktkräften <strong>und</strong> ihrem Veränderungsdruck überlassene Kapitalismus führe zu<br />

einer in letzter Instanz selbstzerstörerischen Entstabilisierung <strong>und</strong> Desintegration der Gesellschaft.<br />

Autoren wie Richard Sennett, Zygmunt Bauman <strong>und</strong> Robert Castel kontrastieren den<br />

früheren, noch durch stabile Organisation, institutionelle Verlässlichkeit <strong>und</strong> Sicherung der<br />

Lebensperspektive geprägten Typ des Kapitalismus mit einem deregulierten, Flexibilität <strong>und</strong><br />

Mobilität erzwingenden <strong>und</strong> dadurch soziale Bindungen <strong>und</strong> Sicherheiten auflösenden<br />

Typus 5 . An die Stelle materiellen Forschritts, kollektiv erkämpfter sozialer Sicherheit sowie<br />

gesellschaftlicher Integration <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Partizipation tritt damit die Erfahrung materieller<br />

Unsicherheit, individueller Anpassungszwänge <strong>und</strong> einer deutlicheren Spaltung der Gesellschaft<br />

in Gewinner <strong>und</strong> Verlierer.<br />

4 Für Deutschland ist diese Entwicklung genauer belegt bei Geißler 2006: 166.<br />

5 Zusammenfassend dazu etwa Peter 2009.<br />

6


2.2 <strong>Neue</strong> Muster sozialer <strong>Ungleichheit</strong><br />

Die bereits in den achtziger Jahren einsetzende <strong>und</strong> sich in den neunziger Jahren verstärkende<br />

sozialwissenschaftliche Diskussion um die skizzierten Veränderungen dreht sich über weite<br />

Strecken um die genauere Erfassung individualisierender <strong>und</strong> die Solidarität von Großgruppen<br />

zersetzender Formen sozialer <strong>Ungleichheit</strong>. Darauf bezogen unterscheidet Martin<br />

Kronauer zwischen zwei verschiedenen <strong>Ungleichheit</strong>smustern, die unschwer der klassischen<br />

Industriegesellschaft auf der einen <strong>und</strong> ihrer Auflösung in der deregulierten Wettbewerbsgesellschaft<br />

auf der anderen Seite zuordenbar sind (Kronauer 2002: 51). Das erste der beiden<br />

<strong>Ungleichheit</strong>smuster ist gekennzeichnet durch Wechselbeziehungen ungleicher Abhängigkeiten<br />

in einem Kooperationsverhältnis, das zweite durch einen im Ausschluss aus jeder<br />

wechselseitigen Beziehung kulminierenden Marginalisierungsprozess. Kronauer charakterisiert<br />

das erste der beiden <strong>Ungleichheit</strong>smuster durch eine „Logik der internen <strong>Ungleichheit</strong><br />

<strong>und</strong> Dominanz“, das zweite durch eine „Logik der Trennung“ (Kronauer 2002: 39).<br />

Im ersten <strong>Ungleichheit</strong>smuster geht es um den Interessengegensatz zwischen sozialen Gruppen<br />

sowie den Kampf der in dieser Struktur benachteiligten Gruppen um Anerkennung. Eine<br />

solche Konstellation stärkt den Zusammenhang der Benachteiligten <strong>und</strong> ermöglicht die<br />

Entwicklung gemeinsamer Umverteilungs- <strong>und</strong> Gleichstellungsziele. Konkretisieren lässt sich<br />

dies zum einen mit gewerkschaftlichen Organisationen <strong>und</strong> den von ihnen geführten Verteilungskämpfen<br />

gegen die Kapitalseite. Zum anderen impliziert dieses <strong>Ungleichheit</strong>smuster der<br />

Industriegesellschaft jedoch eine breitere, auch politisch organisierbare Orientierung auf die<br />

Verbesserung des kollektiven Status <strong>und</strong> die Durchsetzung von Rechts- <strong>und</strong> Chancengleichheit.<br />

Benachteiligte Gruppen können deshalb, so wäre Kronauer hinzuzufügen, eine über ihre<br />

besondere Lage hinausreichende allgemeine Zukunftsperspektive der Gleichstellung <strong>und</strong><br />

Emanzipation entwickeln <strong>und</strong> damit auch gesamtgesellschaftlich als Repräsentant einer solchen<br />

Zukunft gelten.<br />

Armut im engeren Sinn ist in dieser Phase der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft der<br />

Nachkriegsjahrzehnte in den westeuropäischen Gesellschaften ein eher marginales Phänomen.<br />

Zudem wird erwartet, dass es in nächster Zukunft als Folge des allgemeinen Abbaus von<br />

<strong>Ungleichheit</strong>en gänzlich überw<strong>und</strong>en werden kann (Paugam 2008: 164-212, 278f.).<br />

In diesem Zusammenhang ist auf T. H. Marshalls Abfolge der Durchsetzung verschiedener<br />

Dimensionen des Bürgerstatus hinzuweisen. Bekanntlich sieht Marshall in der Geschichte<br />

moderner Gesellschaften, ganz ähnlich wie Alexis de Tocqueville, eine dominierende Entwicklungstendenz<br />

zu mehr Gleichheit. Dabei unterscheidet er zwischen einem bürgerrechtlichen<br />

(civic), <strong>politische</strong>n (political) <strong>und</strong> sozialen (social) Bürgerstatus (citizenship) <strong>und</strong><br />

7


eschreibt die britische Geschichte der letzten Jahrh<strong>und</strong>erte als sukzessive Durchsetzung<br />

dieser drei Dimensionen gleicher Bürgerrechte. Nach der Durchsetzung der Gleichheit vor<br />

dem Gesetz im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert (civic citizenship) kommt es nach heftigen Kämpfen im 19.<br />

<strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert zur Verallgemeinerung des Wahlrechts (political citizenship) <strong>und</strong><br />

schließlich zu einer Erweiterung des Staatsbürgerstatus um soziale Rechte (social citizenship),<br />

mit denen erst die egalitäre <strong>und</strong> partizipatorische Substanz des rechtlichen <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n<br />

Bürgerstatus zu verwirklichen ist. Insbesondere die zweite <strong>und</strong> dritte Dimension des Bürgerstatus<br />

lassen sich unschwer auf die Konfliktdynamik der oben beschriebenen ersten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur<br />

beziehen. Allgemeiner ist zu vermuten, dass Kooperationsverhältnisse ungleicher<br />

Abhängigkeiten, wie sie für Industriegesellschaften typisch sind, eine auf umfassende<br />

Gleichstellung gerichtete Konfliktdynamik entfalten.<br />

Die neuen Phänomene sozialer <strong>Ungleichheit</strong> sind nach Kronauer jedoch nicht mehr durch<br />

ungleiche Kooperation, sondern durch eine Logik des Ausschlusses gekennzeichnet. Sie<br />

„marginalisieren Menschen soweit, dass sie sie schließlich selbst noch aus den Wechselbeziehungen<br />

ungleicher Abhängigkeitsverhältnisse verstoßen“ (Kronauer 2002: 51). Eine<br />

gegenüber der traditionellen Industriegesellschaft neuartige, exkludierende <strong>Ungleichheit</strong> stellt<br />

nicht nur Kronauer fest. Armin Nassehi, ein Systemtheoretiker, resümiert:<br />

„Nicht mehr Arbeit bzw. Positionierung innerhalb des Beschäftigungssystems scheint<br />

unterprivilegierte Lebenslagen zu beschreiben, sondern inzwischen das Herausfallen<br />

aus solchen Strukturen“ (Nassehi 2004: 326).<br />

Ganz ähnlich, wenn auch in spieltheoretischen Kategorien, formulierte Claus Offe bereits<br />

einige Jahre zuvor diese Differenz. Er unterscheidet eine Gewinner-Verlierer Konstellation in<br />

der traditionellen Industriegesellschaft, in der die Verlierer im Spiel bleiben, von einer Konstellation<br />

der Exklusion-Inklusion, in der verschiedene Individuen oder Gruppen gar nicht erst<br />

ins Spiel kommen oder aufgr<strong>und</strong> bestimmter Defizite wieder herausfallen (Offe 1996).<br />

Als Fluchtpunkt seiner zweiten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur nennt Kronauer die Nutzlosigkeit, <strong>und</strong><br />

zwar sowohl in der Zuschreibung von außen als auch im Lebensgefühl der Betroffenen selbst<br />

(Kronauer 2002: 51). Die Armutsforschung spricht darauf bezogen von einem Typus der<br />

„disqualifizierenden Armut“, der sich durch ein Gefühl des Absturzes <strong>und</strong> eine weit über<br />

unmittelbar Betroffene hinausreichende Furcht vor sozialer Ausgrenzung auszeichne (Paugam<br />

2008: 114f., 281). Zugespitzt formuliert tritt damit ein Prekariat an die Stelle des Proletariats<br />

(Vogel 2009: 198).<br />

In dieser etwas schematischen Gegenüberstellung zweier <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen nehmen<br />

Migranten eine besondere Stellung ein. Obwohl in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland die sog.<br />

Gastarbeiter in den ersten Jahrzehnten der Zuwanderung in die wechselseitigen Abhängig-<br />

8


keitsstrukturen der Erwerbsarbeit einbezogen waren, da sie ohne Arbeitsplatz gar keine<br />

Aufenthaltsgenehmigung bekamen, blieben ihnen <strong>politische</strong> Rechte lange Zeit vorenthalten,<br />

so dass ihr Status <strong>und</strong> ihre sozialen Rechte auch schon zu Zeiten des wohlfahrtsstaatlichen<br />

Kapitalismus prekäre Züge trugen. Heute dürften die Exklusionstendenzen der neuen<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sverhältnisse aber auch bei denjenigen, die mittlerweile die Staatsbürgerschaft<br />

erworben haben, allein schon aufgr<strong>und</strong> ihres Status als ethnische <strong>und</strong> häufig auch religiöse<br />

Minderheit in der deutschen Gesellschaft verstärkt werden.<br />

Neben diesen exkludierenden <strong>und</strong> disqualifizierenden Zügen der neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur<br />

ist ihr oben bereits erwähnter fluider, von sozialstrukturell vorgegebenen <strong>und</strong> kollektiv<br />

geteilten Statussituationen gelöster Charakter von erheblicher Konsequenz. Gesellschaft als<br />

eine im nationalen Rahmen zusammengehaltene Vergemeinschaftungsform scheint zunehmend<br />

fiktional zu werden <strong>und</strong> von einer durch die Entgrenzung <strong>und</strong> Vervielfältigung marktwirtschaftlichen<br />

Wettbewerbs geprägte Konkurrenzgesellschaft ersetzt zu werden (Rosa 2006;<br />

Lessenich/Nullmeier 2006).<br />

Spezifischer unterscheidet sich der postfordistische vom klassischen Industriekapitalismus<br />

durch die Schwächung kollektiver Organisationen <strong>und</strong> die Stärkung individueller Verantwortung<br />

sowohl auf der Ebene der Arbeitsorganisation als auch für den beruflichen Werdegang<br />

insgesamt (Castel 2009: 25f.). Eine ganze Reihe von Soziologen macht diese neue Arbeitswelt<br />

auch für gravierende Veränderungen der Subjekte selbst verantwortlich. Vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der Auflösung stabiler Organisation, der Bindung der Arbeitskräfte an die Unternehmen<br />

<strong>und</strong> deren sozialer Verantwortung spricht Zygmunt Bauman von einer "Mentalität<br />

der kurzen Dauer" (Bauman 2003: 176), Richard Sennett gar von der Zerstörung des Charakters<br />

durch eine erzwungene Mobilität <strong>und</strong> Flexibilität, die kontinuierliche Biographien<br />

unmöglich machten (Sennett 1998).<br />

Wie mehrere Studien der Milieuforschung zeigen, bilden sich in der neuen, durch Ausgrenzung<br />

charakterisierten <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur verschiedene Subkulturen aus, die kulturell zwar<br />

nur noch wenig verbindet, zugleich jedoch das Gefühl eint, abgehängt zu werden <strong>und</strong> keine<br />

Chancen mehr auf einen Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu haben. Neben den Resten<br />

des traditionellen Arbeitermilieus finden sich hier autoritär orientierte Geringqualifizierte,<br />

Migrantenmilieus, aber auch „moderne“, hedonistisch an Freizeit, Unterhaltung <strong>und</strong> Körperkult<br />

orientierte Milieus (Ueltzhöffer/Flaig 1993; Vester u.a. 2001; Hradil 2006). Erfahrungen<br />

mit solidarischen Organisationsformen <strong>und</strong> gemeinsamem Handeln werden in diesen gesellschaftlichen<br />

Gruppen über den privaten Bereich hinaus kaum mehr gemacht. Frank Walter<br />

spricht in diesem Zusammenhang von einer „neuen Klasse“ „ … ohne Wahrnehmung eigener<br />

9


Kollektivität <strong>und</strong> verbindender Interessen, ohne Gegenideologie <strong>und</strong> subversiven Aktionsdrang“<br />

(Walter 2011: 14).<br />

Während die Benachteiligten in Kronauers erstem <strong>Ungleichheit</strong>smuster sowohl in der eigenen<br />

als auch in der Fremdwahrnehmung allgemeine Interessen repräsentieren, <strong>und</strong> ihnen die<br />

Zukunft zu gehören scheint, werden die von Marginalisierung <strong>und</strong> Ausschluss Betroffenen im<br />

zweiten <strong>Ungleichheit</strong>muster eher als selbstverantwortliche Versager oder bestenfalls als<br />

unglückliche Opfer wahrgenommen.<br />

Verflüssigung <strong>und</strong> Entkollektivierung führen zudem zu einer über klar eingrenzbare Gruppen<br />

hinausreichenden Verunsicherung hinsichtlich des eigenen sozialen Status <strong>und</strong> der beruflichen<br />

Zukunft. Robert Castel sieht das Hauptkennzeichen der neuen sozialen <strong>Ungleichheit</strong> deshalb<br />

weniger in der Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen als vielmehr in einer durch die<br />

Dynamik der Entkollektivierung beförderten Verbreitung der „Verw<strong>und</strong>barkeit“, weshalb er<br />

den Exklusionsbegriff ablehnt <strong>und</strong> stattdessen von Prozessen der Entkoppelung <strong>und</strong> Prekarisierung<br />

spricht (Castel 2009: 29f.). Aus dieser Sicht ist das Hauptmerkmal der neuen<br />

<strong>Ungleichheit</strong> weniger die Exklusion einer Randgruppe als vielmehr eine weit in die Mittelschichten<br />

hineinreichende Statusgefährdung <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Ängste <strong>und</strong> Verunsicherungen.<br />

Die Entkollektivierung der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen <strong>und</strong> die Individualisierung von Erfolg<br />

oder Misserfolg im Arbeitsleben wird zudem von Reformen des Sozialstaates <strong>und</strong> Deregulierungen<br />

des Arbeitsmarkts begleitet, die sich als Erosion des sozialen Bürgerstatus beschreiben<br />

lassen. Ralf Dahrendorf betont noch 1995, dass der Bürgerstatus ein nicht-ökonomischer<br />

Begriff sei, der die Stellung der Menschen unabhängig vom Wert ihres Beitrages zum<br />

Wirtschaftsprozess definiere <strong>und</strong> keinesfalls den Extravaganzen des Marktes überlassen<br />

werden dürfe (Dahrendorf 1995: 33). Demgegenüber zeichnet sich während der letzten Jahre<br />

in den großen westlichen Demokratien eine Entwicklung ab, in der marktorientierte Reformen<br />

die mit dem sozialen Bürgerstatus verb<strong>und</strong>enen Rechtsansprüche abbauen oder stärker als<br />

bisher an Vorleistungen der Individuen binden. Die egalisierenden Effekte des Bürgerstatus<br />

verlieren damit gegenüber marktförmigen Verteilungseffekten an Bedeutung. Die Umgestaltung<br />

der Sozial- <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik zu einem „Aktivierungsregime“ verstärkt die individualisierende<br />

Wahrnehmung des eigenen Schicksals in einem insgesamt naturwüchsig<br />

vorausgesetzten Marktgeschehen (Lessenich/Nullmeier 2006). Darüber hinaus geht mit der<br />

Zunahme sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> der Schwächung des sozialen Bürgerstatus auch eine<br />

<strong>politische</strong> Marginalisierung der betroffenen Gruppen einher (Neugebauer 2007; Schäfer 2010;<br />

Walter 2011).<br />

10


2.3 Die Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation: Von der Parteien- zur Publikumsdemokratie<br />

Die sozialwissenschaftliche Literatur diskutiert die Schwierigkeiten der von der neuen<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sstruktur benachteiligten Gruppen, ihre Interessen durchzusetzen, vor allem in<br />

zweierlei Hinsicht: Zum einen scheint fraglich, ob die von Franz Walter im obigen Zitat als<br />

neue Klasse ohne wahrgenommene Kollektivität <strong>und</strong> Gegenideologie charakterisierten<br />

Gruppen (Walter 2011: 14) aufgr<strong>und</strong> ihrer Lage noch die Fähigkeiten <strong>und</strong> Ressourcen besitzen,<br />

sich effektiv zu organisieren <strong>und</strong> vernehmbar zu artikulieren. Zum anderen wird, von<br />

Emil Durkheims Begriff der „organischen Solidarität“ ausgehend, bezweifelt, dass die Gesellschaft<br />

gegenüber Gruppen, die allenfalls noch marginal in die wechselseitige Abhängigkeit<br />

arbeitsteiliger Industriegesellschaften eingeb<strong>und</strong>en sind, bereit <strong>und</strong> fähig ist, entsprechende<br />

Solidaritätsleistungen zu erbringen (Hofmann 2009: 319). Beide Fragen sind jedoch allein aus<br />

gesellschaftlicher Perspektive, ohne Berücksichtigung der Ebene der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

nicht zu beantworten. In einer Demokratie müssen Solidaritätsleistungen im <strong>politische</strong>n<br />

Wettbewerb gefordert, in Bezug auf eine Vorstellung vom Allgemeinwohl argumentativ<br />

begründet <strong>und</strong> durch Mehrheitsentscheidungen legitimiert werden. Ob <strong>und</strong> wie das gelingen<br />

kann, hängt deshalb nicht nur von gesellschaftlichen Faktoren wie der Organisationsfähigkeit<br />

der fordernden Gruppe oder den gesellschaftlich dominierenden Wertvorstellungen ab,<br />

sondern von der Struktur <strong>und</strong> Funktionsweise des <strong>politische</strong>n Systems, insbesondere von den<br />

Repräsentationsbeziehungen zwischen den miteinander konkurrierenden Parteien <strong>und</strong> den von<br />

ihnen repräsentierten Bürgern.<br />

In diesem Zusammenhang diskutiert die politikwissenschaftliche Literatur seit geraumer Zeit<br />

über eine Krise der <strong>politische</strong>n Repräsentation. Dies geschieht überwiegend aus der Perspektive<br />

der betroffenen Parteien oder aber unter legitimatorischer <strong>und</strong> demokratietheoretischer<br />

Perspektive als Krise oder gar Ende der Demokratie. Für den ersten Zugang stehen zahlreiche<br />

Veröffentlichungen, die sich mit dem Niedergang der großen Volksparteien beschäftigen <strong>und</strong><br />

diesen entweder auf die Erosion der sie ursprünglich tragenden sozio-kulturellen Milieus<br />

zurückführen, oder aber auf die Entfernung der <strong>politische</strong>n Eliten von den im Kern weiterhin<br />

bestehenden Milieus. 6 Der zweite Diskussionsstrang, der besonders einflussreich von Colin<br />

Crouchs These der „Postdemokratie“ vertreten wird, stellt in gesellschaftskritischer Absicht<br />

den Niedergang der Parteien in einen breiteren, durch Vermarktlichung <strong>und</strong> zunehmende<br />

gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> gekennzeichneten Kontext <strong>und</strong> diagnostiziert das Ende oder<br />

zumindest den weitgehenden Verlust der ökonomischen, sozial-strukturellen, medialen oder<br />

6 Zur Kontroverse zwischen der Erosions- <strong>und</strong> der Enttäuschungsthese vgl. Thaa 2011.<br />

11


auch individuellen gesellschaftlichen Voraussetzungen demokratischer <strong>politische</strong>r Partizipation.<br />

7<br />

Demgegenüber synthetisiert Bernard Manin in seinem bereits 1997 erschienen Buch „The<br />

Principles of Representative Government“ die Veränderungen der letzten Jahrzehnte unter der<br />

Perspektive ihrer Wirkung auf die Repräsentationsbeziehungen in den liberalen Demokratien<br />

entwickelter westlicher Länder. Dabei unterscheidet er drei Phasen in der Entwicklung der<br />

repräsentativen Demokratie: Den klassischen Parlamentarismus des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die<br />

Parteiendemokratie, die das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert prägte <strong>und</strong> schließlich die zur Zeit sich krisenhaft<br />

herausbildende Phase der Publikumsdemokratie bzw. "audience democracy" (Manin 1997:<br />

193-235). Obwohl Manin in den einzelnen Dimensionen des seinen drei Phasen zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Wandels eher holzschnittartig bleibt, macht ihn für unseren Zusammenhang interessant,<br />

dass er seine Idealtypen nach der jeweils dominierenden Art der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

konstruiert.<br />

Das Zeitalter des klassischen Parlamentarismus war demnach gekennzeichnet durch die Wahl<br />

gesellschaftlich herausragender Persönlichkeiten, die in erster Linie Einzelwahlkreise vertraten.<br />

Gegenüber den erst in Entstehung begriffenen Parteien erfreuten sich die Parlamentarier<br />

großer Unabhängigkeit. Ihr Verhältnis zu den Wählern entsprach Edm<strong>und</strong> Burkes<br />

„Trusteeship“, d.h. die Abgeordneten entschieden weitgehend nach ihrem persönlichen Urteil.<br />

Im Parlament fanden dementsprechend echte, argumentativ geführte Debatten statt, in deren<br />

Verlauf sich Mehrheiten verändern konnten. Außerhalb des Parlaments existierte eine starke,<br />

unabhängige Öffentlichkeit, die, da es keine vermittelnden Massenparteien gab, unter<br />

Umständen auch gegen das Parlament zu mobilisieren war (vgl. Manin 1997: 202-206).<br />

Bis zum Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hatten jedoch Parteien die Parlamente als Machtzentren in<br />

den Hintergr<strong>und</strong> gedrängt. Ausgehend von der Verallgemeinerung des Wahlrechts veränderten<br />

sich die Parteiensysteme <strong>und</strong> begannen die Klassenspaltung der Gesellschaft zu reflektieren.<br />

Die Kandidatenaufstellung wird nun von den Parteiorganisationen kontrolliert. Die<br />

Kandidaten einer Partei vertreten ein gemeinsames Programm <strong>und</strong> als Parlamentarier werden<br />

sie der Fraktionsdisziplin unterworfen. Die Parlamente verlieren ihren deliberativen Charakter<br />

<strong>und</strong> auch die Medienöffentlichkeit wird durch den Parteienkonflikt geprägt. (vgl. Manin 1997:<br />

206-218). Obwohl Manin die Entwicklung zur zweiten Phase, der Parteiendemokratie, aus<br />

<strong>politische</strong>n Veränderungen erklärt, lassen sie sich auch plausibel auf das Akkumulationsregime<br />

<strong>und</strong> die <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen des fordistischen Kapitalismus beziehen. Manin<br />

selbst stellt fest, der Pluralismus auf der <strong>politische</strong>n Ebene spiegele in der Parteiendemokratie<br />

7 Vgl. Crouch 2008 <strong>und</strong> in Hinsicht auf die zerstörte Demokratiefähigkeit der Individuen noch zugespitzter<br />

Blühdorn 2011.<br />

12


die Teilung der Gesellschaft in wenige Lager mit fest umrissenen sozio-ökonomischen<br />

Interessen, Werten <strong>und</strong> Teilkulturen. Jedes dieser Lager bilde eine eigene Gemeinschaft mit<br />

starken Identifikationsbeziehungen. Die Wähler entschieden sich für die Kandidaten einer<br />

Partei, „because they saw them as members of the community to which they belonged themselves”<br />

(Manin 1997: 209). Umgekehrt blieben die Repräsentanten an eine der Politik vorausgehende<br />

Vergemeinschaftung durch sozio-kulturelle Gemeinsamkeiten geb<strong>und</strong>en. Manin<br />

sieht darin eine Grenze der Verselbständigung der Repräsentanten gegenüber ihrer Basis <strong>und</strong><br />

somit eine Annäherung an das demokratische Ideal der Identität von Regierenden <strong>und</strong><br />

Regierten (Manin 1997: 233).<br />

Auch wenn Manin das Maß der gesellschaftlichen Determination der <strong>politische</strong>n Konfliktlinien<br />

gegenüber dem aktiven, diese Konflikte mit konstruierenden Beitrag der <strong>politische</strong>n<br />

Repräsentation überschätzen dürfte 8 , so trifft das von ihm skizzierte Bild doch wichtige<br />

Besonderheiten der repräsentativen Demokratie im wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus. Dazu<br />

gehören die Dominanz der Konfliktlinie Arbeit-Kapital <strong>und</strong> die enge Bindung der Parteien an<br />

sozio-kulturelle Großgruppen, die sich - was Manin nicht thematisiert - auch durch ihre Haltung<br />

zu Armut <strong>und</strong> gesellschaftlicher <strong>Ungleichheit</strong> unterscheiden <strong>und</strong> voneinander abgrenzen.<br />

In allen europäischen Demokratien existierten (<strong>und</strong> existieren noch) im sozialen Umfeld der<br />

großen Parteien starke gesellschaftliche Organisationen <strong>und</strong> spezifische, jeweils zu Traditionen<br />

verfestigte Werte im Umgang mit sozialer <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Armut. Wichtig in unserem<br />

Zusammenhang scheint darauf bezogen nicht nur, dass durch die enge Bindung von Organisationen<br />

wie der Caritas oder der Arbeiterwohlfahrt an die entsprechenden Parteien Kanäle<br />

existierten, über die schwache Interessen <strong>politische</strong> Berücksichtigung finden konnten (dazu<br />

etwa Bode 2009). Bedeutsam scheint auch, dass die Bindung der Parteien an sozio-kulturelle<br />

Großgruppen <strong>und</strong> deren Werte es aussichtsreich erscheinen ließ, den <strong>politische</strong>n Wettbewerb<br />

auch über unterschiedliche Integrationsperspektiven für die von <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Benachteiligungen<br />

betroffenen Gruppen zu führen. Hier lagen starke weltanschauliche Mobilisierungspotentiale.<br />

Dies ließe sich etwa am Einfluss der katholischen Soziallehre auf die Programmatik<br />

konservativer Parteien oder dem von Solidaritätsnormen der Arbeiterkultur auf die<br />

Programmatik sozialdemokratischer Parteien konkretisieren. Sowohl in Bezug auf die Sozialstruktur<br />

als auch in Bezug auf den sozio-kulturell geprägten Umgang mit den daraus resultierenden<br />

Konflikten begünstigt die <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur der sozialstaatlichen Industriegesellschaft<br />

also klare Konfliktlinien, über die der Wähler nachvollziehbar auf <strong>politische</strong> Kräfteverhältnisse<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>satzentscheidungen einwirken kann.<br />

8 Kritisch zu der entsprechenden Tendenz in der Parteienforschung vgl. Thaa 2011.<br />

13


Manins dritte, im Verlauf der 1970er Jahre einsetzende Phase zeichnet sich durch die Schwächung<br />

der gesellschaftlichen Lager <strong>und</strong> eine Lockerung der Beziehung zwischen den <strong>politische</strong>n<br />

Repräsentanten <strong>und</strong> ihrer sozio-kulturellen Basis aus. Parteiorganisationen <strong>und</strong> -<br />

programme verlieren an Bedeutung, wichtiger wird dagegen das Medienimage <strong>politische</strong>r<br />

Führer. Statt im Wahlakt eine mit seiner unmittelbaren sozialen Umgebung geteilte Identität<br />

auszudrücken, entscheidet der Wähler stärker situativ <strong>und</strong> reagiert auf medienvermittelte,<br />

durch Politiker <strong>und</strong> ihre Kommunikationsstrategen aktivierte cleavages. Die Politiker sind<br />

demnach nicht mehr an einige wenige, vorgegebene Konfliktlinien geb<strong>und</strong>en, sondern<br />

dramatisieren aus einer Vielzahl verschiedener <strong>und</strong> sich rasch ändernder Konflikte diejenigen,<br />

von denen sie sich Vorteile versprechen. An die Stelle von sozial verankerten Parteiaktivisten<br />

treten Marketingexperten, die Kampagnen gestalten <strong>und</strong> images der Kandidaten kreieren. Die<br />

stark von der Eigenlogik der Medien bestimmte Öffentlichkeit erhält ein neues Gewicht. Statt<br />

im Wahlakt ihre gesellschaftliche oder kulturelle Identität auszudrücken, reagieren die Wähler<br />

auf die Angebote der Parteien. Dieses neue Verhältnis zwischen Politik <strong>und</strong> Bürger beschreibt<br />

Manin mit der Metapher von Bühne <strong>und</strong> Zuschauer (Manin 1997: 218-235).<br />

2.4 Doppelte Abkoppelung <strong>und</strong> <strong>politische</strong> Konfliktunfähigkeit der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />

Unterstellen wir, dass diese Entwicklung in Gr<strong>und</strong>zügen zutrifft, so scheinen Entsprechungen<br />

zum oben skizzierten Wandel der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen auf der Hand zu liegen. Zum einen<br />

leuchtet unmittelbar ein, dass eine aus industriellen Kooperationsverhältnissen hervorgehende<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sstruktur die Bindung der Repräsentanten an gesellschaftliche Großgruppen<br />

erleichtert <strong>und</strong> diese <strong>Ungleichheit</strong>sstruktur in der Parteiendemokratie Manins eine „passende“<br />

Form <strong>politische</strong>r Repräsentation fand. Die kooperative <strong>Ungleichheit</strong> der Industriegesellschaft<br />

bildet so gesehen die gesellschaftliche Gr<strong>und</strong>lage einer insbesondere durch die Konfliktlinie<br />

zwischen Arbeit <strong>und</strong> Kapital geprägten Parteiendemokratie. Verliert dieser Typus der<br />

<strong>Ungleichheit</strong> seine prägende Kraft, muss sich das Parteiensystem neu gruppieren. Die strategischen<br />

Umorientierungen der großen Parteien während der letzten zwei Jahrzehnte, insbesondere<br />

die sozialdemokratische Wende zu „New Labour“, illustrieren diese „Freisetzung“<br />

der <strong>politische</strong>n Repräsentanten <strong>und</strong> ihre Suche nach einer neuen, Wahlerfolge versprechenden<br />

Strategie.<br />

Zum zweiten, von den <strong>politische</strong>n Veränderungen aus gedacht, hat der Übergang von der<br />

Parteien- zur Publikumsdemokratie auch erhebliche Auswirkungen auf die Möglichkeiten der<br />

Thematisierung von Armut <strong>und</strong> sozialer <strong>Ungleichheit</strong>. Die Aktualisierung milieuspezifischer<br />

Werte im Rahmen programmatischer Konflikte um die „richtige“ Politik zu Armut <strong>und</strong> sozi-<br />

14


aler <strong>Ungleichheit</strong> kann sich nun im Wettbewerb um Stimmungen <strong>und</strong> Stimmen als Nachteil<br />

erweisen. Dies ist besonders dann zu erwarten, wenn mit derartigen Werten vermeintlich<br />

angestaubte Vorstellungen (wie etwa die als „Herz-Jesu-Sozialismus“ diffamierte Orientierung<br />

an der katholischen Soziallehre) oder gar eine imageschädigende Nähe zu den Verlierergruppen<br />

der Gesellschaft verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Für die von den skizzierten neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen Betroffenen erwächst daraus die<br />

Drohung einer doppelten Abkoppelung: erstens verlieren sie aufgr<strong>und</strong> ihrer marginalisierten<br />

Stellung in den gesellschaftlichen Kooperationsverhältnissen, der Entkollektivierung <strong>und</strong><br />

„negativen Individualisierung“ (Castel 2000a: 403) der <strong>Ungleichheit</strong> den Anschluss an die<br />

Konfliktlinie Kapital-Arbeit <strong>und</strong> können nicht mehr damit rechnen, dass ihre Interessen von<br />

den klassischen Organisationen <strong>und</strong> Parteien der Arbeiterbewegung vertreten werden. Und<br />

zweitens geht ihnen auf der symbolischen Ebene der <strong>politische</strong>n Repräsentation mit den von<br />

den traditionellen Milieus der großen Volksparteien vertretenen Werten eines solidarischen<br />

oder karitativ unterstützenden Umgangs mit <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> Armut auch der Resonanzboden<br />

für die Formulierung ihrer Interessen verloren.<br />

Insbesondere der zweite Punkt verweist auf einen Zusammenhang, der über die mangelhafte<br />

Berücksichtigung schwacher Interessen hinaus das Funktionieren demokratischer <strong>politische</strong>r<br />

Repräsentation selbst zu gefährden droht. Denn <strong>politische</strong> Repräsentation lässt sich als einfacher<br />

Transport partikularer gesellschaftlicher Interessen in die Sphäre der Politik nicht<br />

adäquat verstehen. Politische Repräsentation bezieht Interessen auf <strong>und</strong> begründet sie mit<br />

widerstreitenden Interpretationen abstrakter, als allgemeingültig unterstellter Werte <strong>und</strong><br />

Prinzipien einer <strong>politische</strong>n Gemeinschaft. 9 Erst dadurch wird es möglich, Programme zu<br />

formulieren, die den Anspruch erheben können, gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektiven<br />

zu bieten <strong>und</strong> diese dem Bürger zur Wahl zu stellen. In dem Maße, wie die diagnostizierte<br />

Schwächung gesellschaftlicher Großgruppen <strong>und</strong> ihrer Milieus zutrifft <strong>und</strong> vergleichsweise<br />

stabile Konfliktlinien erodieren, kann auch diese, auf der Ebene <strong>politische</strong>r Repräsentation zu<br />

erbringende Leistung in Gefahr geraten. Claude Lefort <strong>und</strong> Marcel Gauchet verstehen die<br />

repräsentative Demokratie aus dem spezifischen historischen Kontext der europäischen<br />

Geschichte als das Ergebnis der Übersetzung des Klassenkonflikts zwischen Arbeit <strong>und</strong><br />

Kapital in einen <strong>politische</strong>n Kampf um Macht (Lefort/Gauchet 1990). 10 Damit fragt sich dann,<br />

9 Dieser Aspekt <strong>politische</strong>r Repräsentation wird vor allen in der französischen Diskussion von Claude Lefort,<br />

Marcel Gauchet <strong>und</strong> Pierre Rosanvallon betont. Für einen Überblick dazu vgl. Weymans 2006.<br />

10 „Die demokratische Herrschaftsform begründet sich in dem anfänglichen Gestus, die Legitimität des Konflikts<br />

in der Gesellschaft anzuerkennen … Oder anders gesagt, die Demokratie kommt notwendigerweise in jenem<br />

Zeitalter auf, in dem der Klassenkampf für sich selbst identifizierbar wird. Doch indem sie dem Konflikt auf der<br />

15


über die Überlegungen Manins hinausgehend, ob die Lösung der <strong>politische</strong>n Repräsentanten<br />

von gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>konflikten bzw. die bislang kaum beobachtbare Umsetzung der<br />

neuen Phänomene sozialer <strong>Ungleichheit</strong> in <strong>politische</strong> Alternativen, über einen Formwandel<br />

zur Publikumsdemokratie hinaus, eine Krise der repräsentativen Demokratie anzeigt.<br />

Jedenfalls liegt die Kehrseite einer größeren Unabhängigkeit der <strong>politische</strong>n Eliten von soziokulturellen<br />

Milieus in der Aufwertung einer marktförmigen, inhaltlich beliebigeren Konkurrenz<br />

um attraktive Themen, Kompetenzzuschreibungen <strong>und</strong> Images sowie nicht zuletzt um<br />

die Nähe zum herrschenden Zeitgeist, der in der Regel <strong>politische</strong>n Konfliktlinien nur mehr<br />

schwer zuordenbar scheint. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist die öffentliche Thematisierung <strong>und</strong><br />

<strong>politische</strong> Dramatisierung der Perspektiven <strong>und</strong> Interessen gesellschaftlicher Verlierergruppen<br />

durch <strong>politische</strong> Parteien eher unwahrscheinlich. Franz Walter formuliert zugespitzt: „Es gab<br />

Zeiten, da wurden die Outcasts <strong>und</strong> Unterdrückten dieser Welt politisch umschwärmt <strong>und</strong><br />

literarisch mythologisiert. Das Prekariat des Postindustrialismus hingegen wurde <strong>und</strong> wird<br />

eher verachtet“ (Walter 2011: 18). Speziell für Deutschland sieht Serge Paugam darüber<br />

hinaus einen „starken kollektiven Widerstand gegen die offizielle Anerkennung der Armut“,<br />

den er mit dem durch Wirtschaftsw<strong>und</strong>er <strong>und</strong> ökonomischen Erfolg geprägten Selbstbild der<br />

b<strong>und</strong>esdeutschen Gesellschaft erklärt (Paugam 2008: 282).<br />

Aus der Sicht einer professionalisierten, auf den <strong>politische</strong>n Wettbewerb orientierten<br />

Kommunikationsstrategie bildet die Nähe zu gesellschaftlichen Verlierergruppen ein hohes<br />

Risiko. Mit dem Wandel der <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen <strong>und</strong> der Repräsentationsbeziehungen<br />

scheint sich die Politisierbarkeit sozialer Fragen im Rahmen der Parteiendemokratie gr<strong>und</strong>legend<br />

verschlechtert zu haben. Die Interessen der neuen, von Ausgrenzung <strong>und</strong> Prekarisierung<br />

betroffenen Armen verlieren ihre Konfliktfähigkeit deshalb womöglich nicht nur im Sinn<br />

ihrer kaum mehr vorhandenen Organisations- <strong>und</strong> Sanktionspotentiale, sondern darüber<br />

hinaus auch in dem Sinn, dass sie kaum mehr „issuetauglich“ sind: Von ihnen ausgehend lässt<br />

sich - u. U. trotz der Zunahme von Ausgrenzungs- <strong>und</strong> Armutserfahrungen - keine parteipolitisch<br />

erfolgversprechende Konfliktlinie mehr aufbauen. 11 Der Begriff der „schwachen Interessen“<br />

gewinnt damit eine neue Dimension. Er bezieht sich neben der Organisations- <strong>und</strong><br />

Konfliktfähigkeit im Sinne der klassischen Disparitätentheorie Offes (Offe 1972) auf die<br />

Issuetauglichkeit im <strong>politische</strong>n Wettbewerb.<br />

Ebene des offenen Wettbewerbs um die Macht Ausdruck verleiht, verschafft sie ihm einen symbolischen<br />

Ausgang, der die Drohung des Auseinanderbrechens abzuwenden vermag …“ (Lefort/Gauchet 1990: 91).<br />

11 In diesem Sinn fragt auch Paul Nolte, warum die Politik heute „überhaupt in der Öffentlichkeit ein so<br />

unappetitliches Thema wie soziale <strong>Ungleichheit</strong>“ ansprechen sollte (Nolte 2004: 39).<br />

16


Die soweit lediglich als plausible Vermutung begründeten Phänomene der doppelten<br />

Abkoppelung <strong>und</strong> der fehlenden <strong>politische</strong>n Konfliktfähigkeit sollen im Folgenden präziser<br />

bestimmt werden. Dazu wird es erforderlich sein, die Situation der von prekarisierender<br />

<strong>und</strong> tendenziell exkludierender <strong>Ungleichheit</strong> Betroffenen etwas genauer zu erfassen.<br />

3. Die sozialwissenschaftliche Debatte zur neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />

Bereits ein erster oberflächlicher Blick in die einschlägige Literatur macht deutlich, dass die<br />

oben von Kronauers Exklusionsbegriff ausgehende Charakterisierung der Neuartigkeit sozialer<br />

<strong>Ungleichheit</strong> keinesfalls unumstritten ist. Ich werde deshalb zunächst zur Gewinnung eines<br />

groben Überblicks eine Systematisierung der Debatte durch Thomas Meyer wiedergeben, um<br />

dann auf die für meine These der doppelten Abspaltung <strong>und</strong> der fehlenden Issuetauglichkeit<br />

wichtige Kontroverse zum Verhältnis von Exklusions- <strong>und</strong> Prekarisierungstendenzen einzugehen.<br />

Dabei werde ich etwas ausführlicher sowohl auf die begriffliche Debatte als auch auf<br />

die Auseinandersetzungen um die empirischen Bef<strong>und</strong>e eingehen.<br />

3.1 Ein schematischer Überblick<br />

Die vielfach empirisch belegbare Zunahme von Armut <strong>und</strong> sozialer <strong>Ungleichheit</strong>, der Rückgang<br />

sicherer Normalarbeitsplätze <strong>und</strong> die Ausweitung des Niedriglohnbereichs 12 haben in<br />

den Sozialwissenschaften zu einer Renaissance der Sozialstruktur- <strong>und</strong> <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />

geführt. Während die 1980er <strong>und</strong> frühen 1990er Jahre noch die Überwindung einer<br />

in Oben <strong>und</strong> Unten geteilten Gesellschaftsstruktur verkündeten, das Denken in „Ständen,<br />

Klassen oder Schichten für fragwürdig“ erklärten (Beck 1986: 139) <strong>und</strong> stattdessen von der<br />

Befreiung aus dem „Erfahrungs- <strong>und</strong> Kontrollband eines klassenkulturell geprägten Sozialmilieus“<br />

(Beck 1986: 129) oder gleich von einer durch die individuelle Wahl des Lebensstils<br />

geprägten „Erlebnis-Gesellschaft“ (Schulze 1992) sprachen, rückten im Laufe der 1990er<br />

Jahre die trotz Wirtschaftswachstum zunehmende <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> die Verfestigung benachteiligter<br />

sozialer Lagen wieder ins Blickfeld. Das Lebensstil- <strong>und</strong> Individualisierungsparadigma<br />

wurde von der Thematisierung neuer, aber in mancher Hinsicht an die alte<br />

Klassengesellschaft erinnernder <strong>Ungleichheit</strong>en an den Rand gedrängt. Dabei fällt es schwer,<br />

sich zu den verschiedenen, von marxistischen Klassenanalysen bis zu kulturkritischen Klagen<br />

über die Lebensweise der Unterschicht reichenden Ansätzen einen Überblick zu verschaffen.<br />

Thomas Meyer unterscheidet in diesem Feld vier verschiedene Debatten: den Unterschichten-<br />

12 Zu den Quellen vgl. Anm. 1<br />

17


<strong>und</strong> Prekarisierungsdiskurs, den Exklusionsdiskurs, den Diskurs über die Bedrohung der<br />

Mittelschichten <strong>und</strong> den Gerechtigkeitsdiskurs (Meyer 2010).<br />

Als Unterschichten- <strong>und</strong> Prekarisierungsdiskurs bezeichnet er zum einen die kulturalistisch<br />

argumentierenden oder durch die Milieuforschung geprägten Arbeiten zu einer sich in<br />

Lebensstilen verfestigenden Unterschicht. Dazu rechnet er die konservativ argumentierenden<br />

Veröffentlichungen Paul Noltes, der die Abkoppelung der unteren Schichten von bürgerlichen<br />

Leitbildern beklagt (Nolte 2004), aber auch die von der Milieuforschung ausgehende Studie<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung, die neun verschiedene, durch Einstellungen <strong>und</strong> Werte konstituierte<br />

<strong>politische</strong> Milieus unterscheidet <strong>und</strong> 8% der Bevölkerung einem „abgehängten Prekariat“<br />

zuordnet (Neugebauer 2008: 32).<br />

Davon zwar abgegrenzt, aber ebenfalls unter den Prekarisierungsdiskurs subsumiert, nennt<br />

Meyer Arbeiten, die an Veränderungen in der Arbeitswelt anknüpfen, die durch die Ausweitung<br />

des Niedriglohnbereichs <strong>und</strong> atypischer Beschäftigungsverhältnisse oder auch durch die<br />

Benachteiligung bildungs- <strong>und</strong> qualifikationsschwacher Jugendlicher zu prekären Lebenslagen<br />

der Betroffenen führen.<br />

Den Exklusionsdiskurs definiert Meyer insbesondere durch seine Betonung der Erwerbsarbeit<br />

als entscheidenden Mechanismus gesellschaftlicher Inklusion. Der Exklusionsdiskurs<br />

ersetze die Oben-Unten-Unterscheidung der traditionellen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung durch die<br />

Differenz zwischen Drinnen <strong>und</strong> Draußen. Obwohl auch die Ausgeschlossenen ein Teil der<br />

Gesellschaft bleiben, akzentuiert dieser Diskurs weniger graduelle Benachteiligungen als die<br />

systematische Versagung von Anerkennung <strong>und</strong> Teilnahme für ganze Bevölkerungsgruppen.<br />

Der Mittelschichten- <strong>und</strong> Prekaritätsdiskurs konzentriert sich im Gegensatz zum erstgenannten<br />

Diskurs nicht auf die bereits von Ausgrenzung <strong>und</strong> Abstieg Betroffenen, sondern auf<br />

die Bedrohung der Mittelschichten durch die Veränderungen der Arbeitswelt <strong>und</strong> die marktorientierten<br />

Reformen des Sozialstaats. Den Hintergr<strong>und</strong> weit verbreiteter Gefühle der Unsicherheit<br />

<strong>und</strong> Bedrohung bilden Umbrüche in der Erwerbsarbeit, die Flexibilitätszwänge schaffen<br />

<strong>und</strong> die Kalkulierbarkeit von beruflichen Karrieren erschweren oder ganz unmöglich<br />

machen. Als Folge davon greifen auch in höheren Rängen der Statushierarchie Prekarisierungsängste<br />

um sich. Als Teil dieses Diskurses sieht Meyer zudem Reaktionen auf die jüngeren<br />

Reformen des Sozialstaates, die das bisherige Prinzip des Statuserhalts <strong>und</strong> der Lebensstandardsicherung<br />

durch die Gewährleistung einer Gr<strong>und</strong>versorgung ersetzen.<br />

Schließlich führt Meyer als vierten Diskurs die Auseinandersetzung um Gerechtigkeitsprinzipien<br />

an. Dies begründet er zum einen damit, dass die Zweifel an den herkömmlichen wohlfahrtsstaatlichen<br />

Versprechen wie Aufstieg, Sicherheit <strong>und</strong> Fairness zugenommen hätten, zum<br />

18


anderen aber mit der Erosion des Prinzips der Leistungsgerechtigkeit. Letzteres rücke nicht<br />

nur in den Fokus durch ein Bildungssystem, das sich als unfähig erwiesen habe, Kindern <strong>und</strong><br />

Jugendlichen verschiedener Herkunft Chancengleichheit zu bieten. Eine wichtige Rolle spiele<br />

zudem die gr<strong>und</strong>sätzlichere These, wonach sich im Zeitalter des globalen Marktkapitalismus<br />

soziale <strong>Ungleichheit</strong> nicht mehr im Horizont des Leistungsprinzips rechtfertigen lasse.<br />

Für unsere These einer Abkoppelung der von den neuen <strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen Betroffenen<br />

von den politisch repräsentierten Konfliktlinien <strong>und</strong> „Issues“ scheint es angebracht, sich<br />

zunächst einmal den zweiten <strong>und</strong> dritten Diskurs Meyers genauer anzuschauen. Denn auf den<br />

ersten Blick widersprechen sie sich: Entweder das Hauptkennzeichen der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />

liegt im Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von Anerkennung <strong>und</strong> Teilnahme - dann<br />

scheint ihre defizitäre <strong>politische</strong> Repräsentation nur eine logische Konsequenz ihrer gesellschaftlichen<br />

Exklusion zu sein. Oder aber das Hauptmerkmal der neuen <strong>Ungleichheit</strong> liegt in<br />

weit in die Mittelschichten hineinreichenden Flexibilitätszwängen, Statusgefährdungen <strong>und</strong><br />

Abstiegsängsten - dann wäre zu fragen, ob in dieser Gemeinsamkeit nicht die Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

breiten, über einzelne Statusgruppen hinausreichenden Politisierung läge.<br />

Diese Differenz hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die zur Verfügung stehenden<br />

symbolischen Ressourcen <strong>politische</strong>r Repräsentation, die aber in der Unterscheidung Meyers<br />

noch deutlicher in den beiden anderen Diskursen angesprochen werden: dem Unterschichts<strong>und</strong><br />

dem Gerechtigkeitsdiskurs.<br />

a) Der Bezug zur Systemtheorie<br />

3.2 Exklusion oder Prekarisierung<br />

3.2.1 Die begriffliche Debatte<br />

In einer durch die Schwächung manifester vertikaler Klassen- <strong>und</strong> Schichtstrukturen gekennzeichneten<br />

Gesellschaft scheint der Exklusionsbegriff auf den ersten Blick geeignet, die<br />

Weiterexistenz sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu erfassen. Pointiert formuliert Heinz Bude:<br />

„Die Frage ist nicht, wer oben <strong>und</strong> wer unten, sondern wer drinnen <strong>und</strong> wer draußen<br />

ist“ (Bude 2008: 13).<br />

In dieser binären Zuspitzung auf den Gegensatz von Inklusion <strong>und</strong> Exklusion erinnert die<br />

Begrifflichkeit an die funktionalistische Systemtheorie von Niklas Luhmann. Deren Gr<strong>und</strong>aussage<br />

zu modernen Gesellschaften lautet, dass an die Stelle vertikaler Stratifizierung die<br />

Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme getreten sei. Eine in Funktionssysteme wie<br />

Wirtschaft, Wissenschaft, Recht <strong>und</strong> Politik ausdifferenzierte Gesellschaft kennt demnach<br />

19


keine Instanz, die Individuen eine bestimmte hierarchische Position zuweisen könnte. Daraus<br />

ergibt sich, dass <strong>Ungleichheit</strong>en „nur gerechtfertigt werden können, wenn sie von dem jeweiligen<br />

Funktionssystem selbst ausgehen“ (Luhmann 1995: 233). Inklusion regeln demnach die<br />

als Kommunikationszusammenhänge beschriebenen Teilsysteme, welche die Individuen mit<br />

ihrem jeweiligen binären Code (wahr/unwahr; recht/unrecht, etc.) adressieren (vgl. Nassehi<br />

2006: 50). Inklusion bedeutet also „Berücksichtigung oder Bezeichnung von Personen in<br />

Sozialsystemen“ (Stichweh 2000: 159).<br />

Mit dieser Sicht auf moderne Gesellschaften verband Luhmann ursprünglich den evolutionären<br />

Anspruch, es läge „in der Logik funktionaler Differenzierung, jedem Teilnehmer am<br />

gesellschaftlichen Leben Zugang zu allen Funktionen zu erschließen“ (Luhmann 1980: 168).<br />

Im Prinzip sollte in einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft jeder rechtsfähig<br />

sein, an der Wirtschaft teilnehmen können, die Schule besuchen usw..<br />

„Und wenn jemand seine Chancen, an Inklusion teilzunehmen, nicht nutzt, wird ihm<br />

das individuell zugerechnet“ (Luhmann 1997: 625).<br />

Rudolf Stichweh betont noch im Jahr 2000, dass in einer entlang von Funktionen differenzierten<br />

Gesellschaft, jedenfalls theoretisch, „die Vollinklusion aller Gesellschaftsmitglieder in<br />

jedes der Funktionssysteme“ zu erwarten sei (Stichweh 2000: 162). 13<br />

Allerdings sind Individuen immer nur partiell, so weit sie eben vom spezifischen Code eines<br />

Teilsystems adressiert werden, in dieses inkludiert. Exklusion bezeichnet dann erst einmal nur<br />

die notwendige Kehrseite der Inklusion, nicht aber ein soziales Problem. Denn wo es um<br />

Rechtsfragen geht, zählt der religiöse Glaube nichts, die Teilnahme an Wahlen hängt nicht<br />

vom Einkommen ab, die Fälligkeit einer Zahlung nicht vom Bildungsstand. Exklusionen<br />

ermöglichen demnach überhaupt erst, dass ein Individuum - als Konsument, als Bürger oder<br />

qua welcher Adressierung auch immer - in verschiedene Teilsysteme inkludiert werden kann.<br />

Die Funktionssysteme können zwar nach eigenen Kriterien differenzieren <strong>und</strong> darüber<br />

entscheiden, wie weit es jemand bringt (ob er Recht bekommt, sein Wissen als wahr anerkannt<br />

wird etc.), sie können jedoch niemand gesellschaftlich exkludieren. Somit, meint<br />

Luhmann, „ist die Barbarei verschw<strong>und</strong>en“ (Luhmann 1999: 143). Damit scheint zugleich<br />

aber auch die systemtheoretische Unterscheidung von Inklusion <strong>und</strong> Exklusion untauglich für<br />

die <strong>Ungleichheit</strong>sforschung. Denn wenn ihr zufolge der überschuldete Kleinbauer in Indien<br />

ebenso ins Teilsystem Wirtschaft inkludiert ist wie der Investmentbanker in Frankfurt (beide<br />

13 So heißt es auch bei Luhmann über Individuen in funktional differenzierten Gesellschaften: „Sie müssen an<br />

allen Funktionssystemen teilnehmen können, je nachdem, in welchen Funktionsbereich <strong>und</strong> in unter welchem<br />

Code ihre Kommunikation eingebracht wird“ (Luhmann 1997: 625).<br />

20


aber als Hindu, Ehemann oder Bürger vom Wirtschaftssystem exkludiert), kann sie das<br />

Phänomen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> offensichtlich nicht erfassen.<br />

Dieses Defizit blieb schließlich auch den Systemtheoretikern <strong>und</strong> ihrem Meister, Niklas<br />

Luhmann, nicht verborgen. Besondere Prominenz erlangten dabei die Überlegungen<br />

Luhmanns, die er nach einem Besuch Lateinamerikas <strong>und</strong> der dort von ihm zur Kenntnis<br />

genommenen Favelas anstellte (vgl. Kronauer 2002: 124-126). Luhmann konstatiert, „… dass<br />

es doch Exklusionen gibt, <strong>und</strong> zwar massenhaft <strong>und</strong> in einer Art Elend, das sich jeder<br />

Beschreibung entzieht“ (Luhmann 1999: 147). In seinem Versuch, das unbestreitbare Phänomen<br />

begrifflich zu fassen, wendet er sich zunächst gegen übliche Ausbeutungs- <strong>und</strong> Marginalisierungstheorien,<br />

die vor allem „Adressaten für Vorwürfe“ suchten <strong>und</strong> dabei nach wie vor<br />

eine stratifizierte Gesellschaft unterstellten (Luhmann 1999: 147). Statt die Phänomene auf<br />

Aktivitäten irgendwelcher herrschenden Kreise zurückzuführen, will er sie weiter aus seiner<br />

Theorie der Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme erklären. Dazu revidiert er nicht<br />

etwa die oben skizzierte Logik funktionaler Differenzierung, die auf Vollinklusion der Gesellschaftsmitglieder<br />

hinausläuft, sondern er ändert ihren Status: Aus der Logik wird ein unrealisierbares<br />

Postulat. Entscheidend ist dabei, dass Luhmann die Unrealisierbarkeit keineswegs<br />

als temporäres empirisches Phänomen begreift, sondern aus der Funktionsweise der Teilsysteme<br />

selbst ableitet:<br />

„Denn funktionale Differenzierung kann, anders als die Selbstbeschreibung der<br />

Systeme es behauptet, die postulierte Vollinklusion nicht realisieren. Funktionssysteme<br />

schließen, wenn sie rational operieren, Personen aus oder marginalisieren sie so stark,<br />

dass dies Konsequenzen hat für den Zugang zu anderen Funktionssystemen“<br />

(Luhmann 1999: 148).<br />

Exklusion wäre damit ein kumulativer Effekt des normalen Funktionierens von Funktionssystemen.<br />

Wer etwa durch die Operationen des Bildungssystems keine brauchbare Ausbildung<br />

bekommt, findet keine Arbeit, wer keine Arbeit hat, verfügt über kein Einkommen usw.<br />

Die differenzierte Adressierung durch ein Funktionssystem führt zum Ausschluss von anderen.<br />

Das leuchtet zwar empirisch ein, passt aber nicht zur behaupteten Inklusionslogik funktional<br />

ausdifferenzierter Gesellschaften. Eine Logik, die zwingend ihr eigenes Gegenteil<br />

hervorbringt, ist keine mehr. Kronauer weist deshalb zu recht darauf hin, dass Luhmann mit<br />

dieser Begründung von Exklusion aus dem Funktionieren von Teilsystemen die Gr<strong>und</strong>annahmen<br />

seiner Systemtheorie dementiert (Kronauer 2002: 127).<br />

Das sehen Systemtheoretiker ähnlich. Armin Nassehi wirft Luhmann zum einen vor, die<br />

Logik der Vollinklusion noch zu sehr an eine von Parsons stammende evolutionäre Perspektive<br />

zu binden, andererseits mit seiner Wende zu einem als Kumulationseffekt mangelhafter<br />

21


Inklusion zu verstehenden Exklusionsbegriff in den neunziger Jahren zu übersehen, dass auch<br />

die aus „normalen“ Lebensformen Verdrängten immer noch auf dem Bildschirm der Funktionssysteme<br />

auftauchten, sei es auch nur als säumige Zahler oder als Hilfsbedürftige (Nassehi<br />

2004: 330). In beiden Fällen unterstelle Luhmann, die Inklusion durch Funktionssysteme sei<br />

bereits die Lösung, „doch durch das bloße Faktum der Inklusion … ist das strukturelle<br />

Problem individueller Lebenslagen noch keineswegs angemessen beschrieben“ (Nassehi<br />

2006: 52).<br />

Um dem Phänomen sozialer <strong>Ungleichheit</strong> näher zu kommen, schlägt Nassehi deshalb eine<br />

theoretische Umstellung von der Systemreferenz Gesellschaft auf die Systemreferenz Organisation<br />

vor. Da Organisationen auf Mitgliedschaft basieren <strong>und</strong> sich über Entscheidungen<br />

reproduzieren, bildet Exklusion für sie den Normalfall. Organisationen exkludieren qua definitionem,<br />

sie sind „Exklusionsmaschinen“ (Nassehi 2004: 338). Nicht nur, dass auch Funktionssysteme<br />

Organisationen ausbilden (die Wirtschaft kennt Unternehmen, das Bildungssystem<br />

Schulen, die Wissenschaft Universitäten usw.). Die moderne Gesellschaft insgesamt<br />

zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Universalismus der Vollinklusion von Beginn an am<br />

prinzipiellen Partikularismus von Organisationen brach, Menschenrechte <strong>und</strong> Gleichheitspostulate<br />

etwa an der Mitgliedschaft im Nationalstaat (Nassehi 2006: 61). Bezogen auf Organisationen<br />

stellt Exklusion dann kein theoretisches Problem mehr dar. Die neuen Formen<br />

sozialer <strong>Ungleichheit</strong> lassen sich aus dieser Perspektive als Lebenslagen beschreiben, „denen<br />

das Andocken an das Organisationsarrangement der auf Arbeit gestützten Kumulation von<br />

Organisationsmitgliedschaften nicht mehr gelingt“ (Nassehi 2006: 64).<br />

Indem Nassehi Exklusionseffekte den Organisationen zuschreibt, scheint er die Funktionssysteme<br />

davon freizusprechen. Seine Argumentation ist jedoch komplizierter. Ihr zufolge<br />

gelang es der industriellen Moderne nämlich nur durch ungleiche Inklusion in Organisationen<br />

(der Arbeit, der Fürsorge, der <strong>politische</strong>n Teilhabe, der rechtlichen Anspruchsregulierung u.a.)<br />

das von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft ausgehende Versprechen der<br />

Vollinklusion wenigstens partiell einzuhalten. Möglich wurde dies durch eine „primär politisch<br />

induzierte Selbstbeschreibung der Gesellschaft“ (Nassehi 2006: 63), sprich: durch den<br />

Nationalstaat <strong>und</strong> die in seinem Rahmen existierenden „Organisationsarrangements“. Die<br />

klassische Moderne lasse „die Inklusion von Individuen in die Gesellschaft über den Umweg<br />

der Organisationsmitgliedschaft laufen“ (Nassehi 2006: 61).<br />

Mit der Entfesselung der Funktionssysteme <strong>und</strong> der primär ökonomischen Selbstbeschreibung<br />

der Gesellschaft in der jüngeren Vergangenheit sollen sich jedoch die „Steuerungsfiktion der<br />

Organisierbarkeit der Funktionssysteme“ <strong>und</strong> die „Gruppensimulation stabiler Organi-<br />

22


sationsmitgliedschaften“ auflösen <strong>und</strong> Exklusionen zum Normalfall für Organisationsmitgliedschaften<br />

werden (Nassehi 2006: 63f.). Damit ist wohl gemeint, dass durch die Verschiebungen<br />

im Verhältnis zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Politik im deregulierten Finanzmarktkapitalismus<br />

die typisch industriegesellschaftlichen Organisationen ihre Inklusionsfähigkeit einbüßen<br />

<strong>und</strong> individuelle Erfahrungen der Exklusion (aus Betrieb, Gewerkschaft, Rentenversicherung,<br />

Vereinen etc.) in unterprivilegierten Lebenslagen kumulieren können. Da die Individuen<br />

dennoch in „vollinklusiven Verhältnissen einer modernen Gesellschaft leben“, können sie sich<br />

nicht mehr dadurch entlasten, dass sie ihre Exklusionserfahrungen der Lage einer bestimmten<br />

Gruppe zuordnen, sondern müssen sie in ihre individuelle Biographie einordnen. Mit der<br />

Zurechnung von Exklusionserfahrungen ist ein interessanter Aspekt der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />

angesprochen, auf den noch zurückzukommen sein wird. Dennoch stellt sich an diesem Punkt<br />

die Frage, ob es zur Erkenntnis von Exklusionen aus Organisationsarrangements einer bis zur<br />

Selbstwidersprüchlichkeit modifizierten Systemtheorie bedarf. 14 Darüber hinaus ist Martin<br />

Kronauer recht zu geben, wenn er feststellt, dass auch die modifizierten Theorien funktionaler<br />

Differenzierung nicht in der Lage sind, die Zentralität des Lohnarbeitsverhältnisses für<br />

<strong>Ungleichheit</strong>s- <strong>und</strong> Exklusionsphänomene zu begründen (Kronauer 2010: 243).<br />

b) Der Exklusionsbegriff der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung<br />

Eine Abgrenzung gegenüber dem systemtheoretischen Bezugsrahmen fällt der soziologischen<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sforschung insofern nicht schwer, als der Ursprung ihres Exklusionsbegriffs in<br />

der bereits in den 80er Jahren einsetzenden französischen Debatte über die Gruppen der sogenannten<br />

„exclus“ liegt. Diese Debatte setzt ohne Bezug zur funktionalistischen Systemtheorie<br />

an den sich für bestimmte Gruppen wie Jugendliche, Ungelernte <strong>und</strong> Migranten zuspitzenden<br />

<strong>und</strong> verfestigenden Arbeitsmarktproblemen an (Kronauer 2002: 38-51). Nach Kronauer<br />

zeichnet sich die französische Debatte dabei von Beginn an durch die Berücksichtigung von<br />

zwei Dimensionen des Exklusionsbegriffes aus: den Ausschluss am Arbeitsmarkt <strong>und</strong> die<br />

Schwächung sozialer Einbindung. Dabei soll Exklusion in ihrer ersten Bedeutung nicht nur<br />

Arbeitslosigkeit im engen Sinn erfassen, sondern auch die Formen ungesicherter, befristeter<br />

oder zeitweise unterbrochener Beschäftigung. In der zweiten, auf Sozialbeziehungen gerichteten<br />

Bedeutung, bezieht sich der Begriff auf die Auflösung sozialer Nahbeziehungen, die<br />

Gefährdung der durch sie vermittelten personalen Identität sowie den fehlenden Zugang zu<br />

gesellschaftlichen Institutionen (Kronauer 2002: 43f.).<br />

14<br />

Ausführlicher zu Nasssehis Versuch, das „Problem der Kollektivität“ in die Theorie funktionaler<br />

Differenzierung zu integrieren vgl. Brodocz 2007.<br />

23


Während diese Konzeption von Exklusion im wesentlichen den Ausschluss von sozialer<br />

Wechselseitigkeit in Kooperationsverhältnissen <strong>und</strong> sozialen Netzen meint, identifiziert<br />

Kronauer in der französischen Debatte einen weiteren Exklusionsbegriff, der sich auf die<br />

Teilhabe in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens bezieht. Dabei geht es um den<br />

Ausschluss von wesentlichen Aspekten dessen, was nach gesellschaftlich geteilten Vorstellungen<br />

angemessene Lebenschancen ausmacht: im Bereich des Konsums, der Interessenvertretung,<br />

der materiellen Sicherheit, des Status <strong>und</strong> der Selbstbestimmung (Kronauer 2002:<br />

45). Kronauer sieht in dieser auf Teilhabe bezogenen Bedeutung des Exklusionsbegriffes<br />

einen eigenen Modus der gesellschaftlichen Zugehörigkeit, der sich nicht auf die Einbindung<br />

in vergesellschaftende Arbeitsteilung <strong>und</strong> in soziale Netze reduzieren lasse. 15 Interdependenz<br />

<strong>und</strong> Partizipation nennt er deshalb unterscheidbare Modi der gesellschaftlichen Zugehörigkeit,<br />

die aufeinander bezogen sind, aber auch in Spannung zueinander treten können (Kronauer<br />

2002: 46).<br />

Dass ein solcher, gewissermaßen drei Dimensionen umfassender Exklusionsbegriff geeignet<br />

sei, die neuen Züge sozialer <strong>Ungleichheit</strong> zu erfassen, ist allerdings umstritten. Robert Castel,<br />

einer der prominentesten Vertreter der französischen <strong>Ungleichheit</strong>sforschung, hält den Begriff<br />

der Exklusion für zu pauschal <strong>und</strong> zu statisch, um die von einer Dynamik der Entkollektivierung<br />

der Arbeitsbeziehungen ausgehende Wiederkehr sozialer Unsicherheit zu erfassen. Er sei<br />

zu pauschal, weil er die heterogenen Verhältnisse sehr unterschiedlicher Gruppen in eins<br />

setze. Jugendliche, Langzeitarbeitslose <strong>und</strong> Menschen ohne festen Wohnsitz teilten zwar den<br />

Mangel, hätten positiv aber wenig gemein. Und der Begriff sei statisch, weil er für die Betroffenen<br />

einen quasi stabilen Zustand unterstelle <strong>und</strong> nicht erfasse, dass sich Menschen, bevor<br />

sie zu „Ausgeschlossenen“ werden, häufig in einer Situation der Verw<strong>und</strong>barkeit oder Prekarität<br />

befinden. Dieser Prozess der Prekarisierung kumuliere zwar am Sockel der Gesellschaftspyramide,<br />

betreffe jedoch auch Teile des Mittelstands, der seine Qualifikationen<br />

entwertet sehe oder auch von Arbeitslosigkeit betroffen sein könne (Castel 2009: 28-31).<br />

Neben diesen eher phänomenologischen Schwächen ist der Exklusionsbegriff für Castel aber<br />

auch gesellschaftsanalytisch irreführend, weil er eine atomisierte Sichtweise der Gesellschaft<br />

befördere <strong>und</strong> die kollektive Dimension der Auflösungsphänomene ausblende (Castel 2009:<br />

29f.). Mit diesem letzten Aspekt verbindet Castel schließlich eine normativ-<strong>politische</strong> Ablehnung<br />

des Exklusionsbegriffes. Aus seiner Sicht entspricht der Exklusionsbegriff der klassischen<br />

Zielbestimmung der Sozialarbeit. Er orientiere auf die Eingrenzung von Problemgrup-<br />

15 Kronauer sieht hier Parallelen zu T.H. Marshalls Konzept der sozialen Bürgerrechte (social citizenship), das<br />

die Teilhabedimension berücksichtige. Allerdings kritisiert er Marshalls enge Bindung des Bürgerstatus an<br />

Erwerbsarbeit, die heute so nicht mehr möglich sei (Kronauer 2002: 76-95).<br />

24


pen <strong>und</strong> ihre gezielte Betreuung, lenke damit zugleich aber von <strong>Ungleichheit</strong>en <strong>und</strong> ihrem<br />

Abbau ab. Kurz, der Exklusionsbegriff stoße auf breiten Konsens, weil es einfacher sei, das<br />

Problem auf die Ränder der Gesellschaft zu verschieben, als den Prozess der Prekarisierung<br />

<strong>und</strong> seine wirtschaftlichen Ursachen politisch unter Kontrolle zu bringen (Castel 2000: 17f.).<br />

Castel wirft der „Rede vom Ausschluss“ sogar vor, das „Supplement an Seele“ darzustellen,<br />

„das eine Politik benötigt, die die Hegemonie der ökonomischen Gesetze <strong>und</strong> die Diktate des<br />

Finanzkapitals akzeptierte“ (Castel 2000: 15). 16<br />

Martin Kronauer, neben Heinz Bude (Bude 2008) der prominenteste Vertreter des Exklusionsbegriffs<br />

in der deutschsprachigen Debatte, gibt der Kritik Castels partiell recht. Er übernimmt<br />

dessen Warnung vor einem statischen <strong>und</strong> dichotomen Exklusionsbegriff, weil dieser<br />

sowohl die die bereits im Innern der Gesellschaft einsetzende Dynamik, als auch die ökonomischen<br />

Ursachen von Ausgrenzungsprozessen verdecke (Kronauer 2002: 139f.). Ausdrücklich<br />

übernimmt er im 2010 geschriebenen Nachwort zur zweiten Auflage seines Buches<br />

Castels Bild von den drei, durch fließende Übergänge verb<strong>und</strong>enen Zonen: der „Zone der<br />

Integration“, der „Zone der sozialen Verw<strong>und</strong>barkeit“ <strong>und</strong> der „Zone der Entkoppelung“, um<br />

so den Prozesscharakter <strong>und</strong> die transversale Qualität von Exklusionen zu unterstreichen<br />

(Kronauer 2010: 257).<br />

Zudem räumt er ein, der Exklusionsbegriff blende, solange ihm der Maßstab für einen angemessenen<br />

Lebensstandard fehle, Verteilungsfragen aus <strong>und</strong> ziele lediglich auf die Wiedereingliederung<br />

in die gesellschaftliche Hierarchie (Kronauer 2002: 144). Gegen diese Gefahr<br />

glaubt sich Kronauer allerdings durch die dritte, auf angemessene Partizipation am gesellschaftlichen<br />

Leben zielende Dimension seines Ausgrenzungsbegriffs gewappnet <strong>und</strong> verweist<br />

im übrigen darauf, dass auch Castel <strong>und</strong> Paugam den Fluchtpunkt der Prekarisierung in Kategorien<br />

der Nutzlosigkeit <strong>und</strong> des Machtverlustes beschreiben (Kronauer 2002: 140).<br />

Theoretisch will Kronauer die dichotomischen Aporien des Exklusionsbegriffs durch Georg<br />

Simmels Überlegungen zur Gleichzeitigkeit von „Drinnen“ <strong>und</strong> „Draußen“ in sozialen Konfigurationen<br />

der Ausgrenzung überwinden. Das „Draußen“ der Armen sei so gesehen immer<br />

nur Folge <strong>und</strong> Bestätigung einer <strong>Ungleichheit</strong> im „Drinnen“. Als Prozess betrachtet bedeute<br />

Ausgrenzung deshalb eine Machtverschiebung von wechselseitiger zu einseitiger Abhängig-<br />

16<br />

Zudem vergleicht er die aktuelle Konzentration auf die Ausgeschlossenen mit dem Umgang der<br />

vorindustriellen Gesellschaft mit Bettlern <strong>und</strong> Vagab<strong>und</strong>en. In beiden Fällen vermeide man es, sich dem breiten,<br />

große Volksschichten erfassenden Prozess der Prekarisierung zu stellen <strong>und</strong> befasse sich nur mit dessen<br />

äußersten Spitzen (Castel 2000: 18f.).<br />

25


keit, deren Fluchtpunkt in der Nutz- <strong>und</strong> Machtlosigkeit eines einseitigen Objektstatus liege<br />

(Kronauer 2002: 149). 17<br />

Die Kontroverse um den Exklusionsbegriff verweist auf die offensichtliche Schwierigkeit,<br />

zwei für die neue soziale <strong>Ungleichheit</strong> charakteristische Phänomene unter einen begrifflichen<br />

Hut zu bekommen: nämlich zum einen die weit in die arbeitnehmerische Mitte hineinreichende<br />

Prekarisierung der Arbeitswelt mit zunehmender Beschäftigungsunsicherheit, der<br />

Entwertung erworbener Qualifikationen, sozialen Abstiegserfahrungen <strong>und</strong> materiellen<br />

Einbußen, zum anderen die quantitative Zunahme <strong>und</strong> Verfestigung von Lebenslagen, in<br />

denen die Betroffenen aufgr<strong>und</strong> dauerhafter Arbeitslosigkeit oder Marginalisierung am<br />

Arbeitsmarkt, der Auflösung sozialer Bindungen <strong>und</strong> des Verlusts gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten<br />

als exkludiert bezeichnet werden können. 18 Bemerkenswert ist, dass die<br />

Debatte um die Angemessenheit des Exklusionsbegriffes weniger mit empirischen als mit<br />

gesellschaftsanalytischen <strong>und</strong> politisch-strategischen Argumenten geführt wird. Eine wichtige<br />

Rolle scheint dabei die Frage zu spielen, wie weit die Phänomene der neuen sozialen<br />

<strong>Ungleichheit</strong> noch an Distributionskonflikte zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit zu binden sind. Die<br />

Skeptiker befürchten, die Konzentration auf den Ausgrenzungsaspekt vernachlässige Fragen<br />

der Verteilungsgerechtigkeit <strong>und</strong> orientiere auf die Inklusion in eine individualisierte Konkurrenzgesellschaft.<br />

Darauf bezogen versucht Kronauer mit seiner prozeduralen Bestimmung des<br />

Exklusionsbegriffes einen Balanceakt, der es ermöglichen soll, der neuartigen Situation der in<br />

mehrfacher Hinsicht exkludierten Gruppen gerecht zu werden, ohne die verursachenden <strong>und</strong><br />

weitere Kreise betreffenden Veränderungen im Arbeitsbereich auszublenden <strong>und</strong> nur noch die<br />

sozialintegrative Perspektive der Sozialarbeit einzunehmen.<br />

Gewiss haben die Begriffe, mit denen die Sozialwissenschaft Abstiegserfahrungen <strong>und</strong> Spaltungen<br />

der Gesellschaft beschreibt, Implikationen auf die öffentliche Debatte über <strong>und</strong> den<br />

<strong>politische</strong>n Umgang mit den bezeichneten Phänomenen. Allerdings wird sich die <strong>politische</strong><br />

Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit der von Prekarisierung <strong>und</strong> Ausgrenzung betroffenen<br />

Gruppen nicht durch eine korrekte Begrifflichkeit der Sozialwissenschaft herstellen lassen.<br />

Die hier diskutierte Literatur thematisiert den Zusammenhang zwischen neuen <strong>Ungleichheit</strong>sformen<br />

<strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Demokratie jedoch wenig <strong>und</strong> wenn ja, dann sehr pauschal. Kronauer<br />

17 Darin folgt ihm Hildegard Mogge-Grotjahn in ihrem Handbuch-Artikel zum Thema Armut <strong>und</strong> Ausgrenzung.<br />

Auch sie betont, dass sozialer Ausschluss nie mit dem Ausschluss aus der Gesellschaft gleichzusetzen seien<br />

(Mogge-Grotjahn 2008: 51).<br />

18 Diese Formulierung entspricht dem Exklusionsbegriff Kronauers. Heinz Bude definiert leicht abweichend die<br />

Exkludierten als diejenigen, die „aufgr<strong>und</strong> sozialökonomischer Marginalisierung, lebenskultureller Entfremdung<br />

<strong>und</strong> sozialräumlicher Isolierung den Anschluss an den Mainstream unserer Gesellschaft verloren haben“ (Bude<br />

2004: 4) <strong>und</strong> betont in seinen Veröffentlichungen als Exklusionskriterium stärker die subjektive Auffassung der<br />

eigenen Chancenlage (Bude/Lautermann 2006).<br />

26


ildet dabei insofern eine Ausnahme, als er die Exklusionstendenzen der jüngeren Vergangenheit<br />

als Erosion des Gleichheitspostulats der Demokratie versteht <strong>und</strong>, ähnlich wie später<br />

Colin Crouch (Crouch 2008), vor einer nur mehr formal demokratischen Elitenherrschaft<br />

warnt (Kronauer 2002: 227-238).<br />

Die unter politikwissenschaftlicher Perspektive naheliegende Frage, warum, wenn Prekarisierung<br />

einen bis weit in die Mittelschichten hineinreichenden <strong>und</strong> von Exklusion nur graduell<br />

abzugrenzenden Prozess darstellt, die Betroffenen dennoch politisch kaum repräsentiert sind,<br />

ist damit noch nicht einmal gestellt. Dazu finden sich in der Literatur zwar immer wieder<br />

einzelne indirekte Hinweise auf das Problem der Repräsentierbarkeit - sei es auf die Naturalisierung<br />

von <strong>Ungleichheit</strong> durch eine radikalisierte „Wettbewerbslogik“ (Lessenich/Nullmeier<br />

2006), auf den „disqualifizierenden Charakter“ der neuen Armut (Paugam 2008) oder auf den<br />

„negativen Individualismus (Castel 2000a). Bevor ich darauf zurückkomme <strong>und</strong> diese<br />

Hinweise zu systematisieren versuche, soll jedoch die empirische Basis der Debatte zu Prekarisierung<br />

<strong>und</strong> Ausgrenzung dargestellt werden.<br />

3.2.2 Empirische Bef<strong>und</strong>e<br />

Noch im Jahr 2005, lange nach Einsetzen der sozialwissenschaftlichen Diskussion zu Ausgrenzung<br />

<strong>und</strong> Prekarisierung stellt Petra Böhnke fest, diese verlaufe „weitgehend losgelöst<br />

von empirischer Forschung, die über Verteilungsungleichheiten in Bezug auf ökonomische<br />

Ressourcen hinausgeht“ (Böhnke 2005: 32). Die Dimensionen der sozialen Integration <strong>und</strong><br />

der Partizipation am gesellschaftlichen <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n Leben würden in der Regel nur indirekt<br />

erschlossen. Auch wenn in der Zwischenzeit die empirische Seite der Armuts- <strong>und</strong> Prekarisierungsproblematik<br />

mehr Aufmerksamkeit gef<strong>und</strong>en hat, nicht zuletzt durch die bereits im<br />

Titel auf Lebenslagen verweisenden Armuts- <strong>und</strong> Reichtumsberichte der B<strong>und</strong>esregierung<br />

(vgl. etwa B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Soziales 2008), <strong>und</strong> mehrere größere empirische<br />

Arbeiten zum Thema erschienen sind (etwa Böhnke 2006, Neugebauer 2007, Groh-Samberg<br />

2009), so konnten die empirischen Bef<strong>und</strong>e die gr<strong>und</strong>sätzlichen Kontroversen zur Reichweite<br />

<strong>und</strong> zum Charakter der neuen Armut nicht beenden. Ohne diese Debatte insgesamt<br />

aufarbeiten zu können, soll im Folgenden versucht werden, zwei Fragen zu klären, die für<br />

unser Interesse an der Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit der von Armut <strong>und</strong> Exklusion<br />

betroffenen Gruppen besonders bedeutsam scheinen. Dies sind:<br />

a) Lässt sich das Phänomen einer zunehmenden <strong>und</strong> zu kumulierenden Benachteiligungen<br />

führenden Armut empirisch bestätigen?<br />

27


) Trifft soziale Ausgrenzung vermehrt die ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen mit<br />

der Konsequenz einer Spaltung der deutschen Gesellschaft, oder kann jeder, ungeachtet seiner<br />

Qualifikation <strong>und</strong> Vorgeschichte, zumindest zeitweise von Prekarisierungsprozessen betroffen<br />

sein, so dass die Konturen zwischen gesicherten gesellschaftlichen Positionen <strong>und</strong> unsicheren<br />

Lebenslagen verschwimmen? 19<br />

Zu a)<br />

In Bezug auf die erste Frage herrscht in der Literatur weitgehend Konsens über eine quantitative<br />

Zunahme der von Armut betroffenen Menschen. Nach dem offiziellen, am Einkommen<br />

orientierten Armutsbegriff der Europäischen Union gilt als armutsgefährdet, wer über weniger<br />

als 60% des Nettoäquivalenzeinkommens verfügt. 20 Legt man diesen Armutsbegriff zugr<strong>und</strong>e,<br />

so zeigt sich seit Anfang der 90er Jahre ein Trend der zunehmenden relativen Armut in<br />

Deutschland (vgl. Böhnke 2009: 19). Nach Berechnungen des Statistischen B<strong>und</strong>esamtes<br />

lagen im Jahr 2006 13,9% der deutschen Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle von 60%<br />

des Medianeinkommens <strong>und</strong> 36,4% im Niedriglohnbereich (75%-Grenze) (Datenreport 2008:<br />

165f.). Nach dem neuen Datenreport von 2011 ist die relative Einkommensarmut im Jahr<br />

2009 weiter auf 15, 5% gestiegen (Datenreport 2011: 155). Der Niedriglohnbereich dagegen<br />

ging leicht zurück auf 34,8 Prozent (Datenreport 2011: 165). Noch im Jahr 1997 waren diese<br />

Anteile mit 11% bzw. 31,8% deutlich geringer (Datenreport 2008: 165f.) Auch andere<br />

Berechnungsarten kommen zum Ergebnis, dass die relative Armut in den 70er Jahren einen<br />

Tiefstand erreicht hatte <strong>und</strong> vor allem seit den 90ern deutlich ansteigt. Groh-Samberg stellt<br />

deshalb fest, dass bei Berücksichtigung des Gesamtbildes „kein Zweifel an einem deutlichen<br />

Anstieg von Armut seit den späten 70er Jahren bestehen (kann)“ (Groh-Samberg 2009: 48).<br />

<strong>Neue</strong>re Daten bestätigen den insgesamt ungebrochenen Trend zur Zunahme relativer Armut. 21<br />

Fragt man nach den Gruppen, die am stärksten von relativer Armut bedroht sind, so ist das<br />

Ergebnis nicht überraschend. Die höchsten Armutsraten finden sich unter Migranten,<br />

Arbeitslosen, Alleinerziehenden, Geschiedenen, Niederqualifizierten <strong>und</strong> Ostdeutschen. Ein<br />

in unserem Zusammenhang bemerkenswerter Bef<strong>und</strong> ist darin zu sehen, dass relative Armut<br />

zunehmend auch erwerbstätige Personen erfasst. So hat sich zwischen 1999 <strong>und</strong> 2005, in<br />

19 Die Kontroverse zwischen diesen beiden Positionen formulieren in ähnlicher Weise Böhnke (2005: 31 <strong>und</strong><br />

2010: 186), Vogel (2006: 73), Bude/Lautermann (2006: 233) <strong>und</strong> Groh-Samberg (2009: 173).<br />

20 Die Bezugsgröße bildet dabei nicht der Durchschnitt, sondern der Median, also der mittlere Wert. Zur<br />

Erläuterung des Berechnungsverfahrens für das Nettoäquivalenzeinkommen vgl. Datenreport 2011: 151 sowie<br />

Wingerter 2009: 1094.<br />

21 So kam es zwar im Jahr 2007 zu einem Rückgang der relativen Armut in Gesamtdeutschland, dem jedoch<br />

schon 2008 wieder ein deutlicher Anstieg auf 14% folgte. Dabei sind die Unterschiede zwischen Ost- <strong>und</strong><br />

Westdeutschland erheblich. In Ostdeutschland stieg die relative Einkommensarmut von 13% Ende der 90er Jahre<br />

auf 19,5% im Jahr 2008 <strong>und</strong> erreichte damit wieder das Niveau von 1992 (Grabka/Frick 2010: 5).<br />

28


gerade einmal sechs Jahren, die Armutsrate unter Vollzeitbeschäftigten von 3 auf 6 Prozent<br />

verdoppelt (Böhnke 2010: 195f.).<br />

Steigende relative Armut allein kann allerdings eine Tendenz zur zunehmenden Ausgrenzung<br />

der von Armut Betroffenen nicht belegen. Dazu wäre es erforderlich, neben dem Einkommen<br />

auch die anderen Dimensionen eines erweiterten Armutsbegriffs empirisch zu untersuchen.<br />

Insbesondere die Integrations- <strong>und</strong> Partizipationsdimension, die Kronauer seiner Exklusionstheorie<br />

zugr<strong>und</strong>elegt, wäre so zu operationalisieren, dass sie empirisch überprüft werden<br />

kann. Die oben genannten Arbeiten von Böhnke <strong>und</strong> Groh-Samberg sind zwar nicht im strengen<br />

Sinn als Operationalisierungen der Exklusionsthese Kronauers zu verstehen, kommen<br />

aber seiner analytischen Differenzierung recht nah. Dies gilt besonders für die Arbeiten Petra<br />

Böhnkes, die soziale Ausgrenzung explizit „im Kontext einer um Aspekte der Integration <strong>und</strong><br />

Partizipation erweiterten Armutsforschung definiert“ (Böhnke 2006: 91). In ihren auf repräsentativen<br />

Umfragen basierenden Studien fragt sie differenziert nach den Effekten von Armut<br />

auf soziale Integration, Teilhabe <strong>und</strong> Wohlbefinden (Böhnke 2006 <strong>und</strong> 2009). Die Ergebnis<br />

sind eindeutig: Obwohl relative Armut keineswegs identisch ist mit multipler Deprivation <strong>und</strong><br />

Exklusionserfahrungen, sieht Böhnke die Kumulationsthese bestätigt. Armut hat eine<br />

verschlechternde Wirkung auf alle von ihr untersuchten Lebensbereiche (Böhnke 2009: 24). 22<br />

“Poverty contributes to declining participation and well-being, which in the long run<br />

endangers social integration“ (Böhnke 2010: 202).<br />

Groh-Samberg teilt zwar nicht den um die Dimensionen der Integration <strong>und</strong> Partizipation<br />

erweiterten Armutsbegriff, sondern will ihn auf die unmittelbaren Wechselwirkungen<br />

zwischen ökonomischen Ressourcen <strong>und</strong> Lebenslagen, also auf eine primär materielle Deprivation<br />

einschränken (Groh-Samberg 2009: 118). Er entwickelt dazu einen multiplen Armutsbegriff,<br />

der neben den Einkommens- auch Lebenslagenindikatoren wie Wohnsituation <strong>und</strong><br />

Güterausstattung sowie Arbeitslosigkeit als eine eigene, nicht-monetäre Dimension sozialer<br />

Ausgrenzung umfasst (Groh-Samberg 2009: 127-130). Seine Ergebnisse aufgr<strong>und</strong> der Daten<br />

des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) belegen zum einen, dass es zwischen 1980 <strong>und</strong> der<br />

Mitte der 2000er Jahre zu einem Anstieg der Einkommensarmut von zehn auf 18 Prozent kam<br />

(Groh-Samberg 2009: 178). Zum anderen bestätigen seine Analysen der einzelnen Indikatoren<br />

im Zeitverlauf einen Trend zur zunehmenden Verfestigung multipler Armut (Groh-Samberg<br />

2009: 186). Er unterscheidet aufgr<strong>und</strong> einer Kombination der verschiedenen Armutsindikatoren<br />

sechs Zonen des Wohlstands, der Prekarität <strong>und</strong> der Armut. Dabei kommt er zum Ergeb-<br />

22<br />

Die Ergebnisse sind insofern zu differenzieren, als etwa kulturelles Engagement erst nach längerer<br />

Verweildauer in Armut abnimmt (Böhnke 2009: 25).<br />

29


nis, dass „die Zone der extremen Armut seit Anfang der 90er Jahre kontinuierlich zunimmt“<br />

(Groh-Samberg 2009: 181).<br />

zu b)<br />

Weder der Bef<strong>und</strong> einer quantitativen Zunahme der Einkommensarmut noch die Bestätigung<br />

eines Trends zur sozialen Ausgrenzung durch die Kumulation von Deprivationen in verschiedenen<br />

Lebenslagen kann die oben genannte Kontroverse zwischen den Thesen einer Polarisierung<br />

<strong>und</strong> Spaltung der Gesellschaft einerseits, <strong>und</strong> denen einer Entgrenzung sozialer Risiken<br />

andererseits, entscheiden. Spitzt man diese Kontroverse allerdings auf einen am Lebenslagenansatz<br />

orientierten Armutsbegriff zu, so scheint die Datenlage klar: Die Studien von Böhnke<br />

<strong>und</strong> Groh-Samberg widerlegen die These von der sozialen Ausgrenzung als allgemeines<br />

Lebensrisiko ebenso wie die von der Entstrukturierung <strong>und</strong> Verzeitlichung von Armut. Sie<br />

kommen zum Ergebnis, dass Armut in Deutschland in Form einer Polarisierung zunimmt,<br />

nicht jedoch durch Abstiegsprozesse der Mittelschichten (Böhnke 2009: 18; Groh-Samberg<br />

2009: 182).<br />

Petra Böhnke weist in ihren Arbeiten nicht nur nach, dass mehrfache <strong>und</strong> dauerhafte Benachteiligungen<br />

nahezu ausschließlich gering Qualifizierte <strong>und</strong> Angehörige der un- oder angelernten<br />

Arbeiterschaft trifft (Böhnke 2005 <strong>und</strong> 2006). In einer neueren Auswertung von<br />

Daten des SOEP kann sie zudem zeigen, dass die Mehrheit der in Armut absteigenden Personen<br />

aus armutsnahen Einkommensgruppen 23 stammt <strong>und</strong> der Anteil derjenigen, die aus der<br />

Mittelschicht in Armut absteigen, nicht nur gering ist, sondern über die Jahre hinweg konstant<br />

blieb. 24<br />

Auch die an Individualisierungstheorien anschließende Verzeitlichungsthese der Armut, derzufolge<br />

Armut immer häufiger einen zeitlich befristeten Lebensabschnitt bildet, wird durch<br />

die Ergebnisse Böhnkes weitgehend entkräftet. So stieg die durchschnittliche Dauer der<br />

Armutserfahrung zwischen 2000 <strong>und</strong> 2006 von 2,2 auf 3,2 Jahre. Langzeitarmut nimmt also<br />

erheblich zu (Böhnke 2010: 192).<br />

Die Prüfung der zuletzt genannten These einer vielfältigen Bewegung in <strong>und</strong> aus der Armut,<br />

wie sie die sog. dynamische Armutsforschung vertritt (Leibfried/Leisering/Buhr 1995), bildet<br />

einen der Schwerpunkte der Arbeit von Groh-Samberg. Obwohl er aufgr<strong>und</strong> seiner Konzentration<br />

auf materielle Lebenslagen einen im Vergleich zu Böhnke engeren Armutsbegriff<br />

23 Böhnke definiert diese Gruppe des prekären Wohlstands durch ein Einkommen, das zwischen 60-80% des<br />

Medians liegt (Böhnke 2009: 20)<br />

24 Er liegt seit Mitte der 90er Jahre einigermaßen konstant bei circa 2% (bezogen auf die Gesamtbevölkerung).<br />

Überdurchschnittlich betroffen ist innerhalb des Mittelstands auch wiederum die Untere Mitte mit 80-100% des<br />

Medianeinkommens (Böhnke 2009: 20).<br />

30


zugr<strong>und</strong>elegt <strong>und</strong> Absteiger damit schneller als bei der Berücksichtigung von sozialintegrativer,<br />

kultureller <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Deprivationsindikatoren darunter fallen dürften, kommt er zum<br />

Ergebnis, dass<br />

„sich weder eine zunehmende Verzeitlichung von Armut noch die Zunahme von<br />

inkonsistenten Armutslagen feststellen (lässt). In einem Wort: Es gibt keine Tendenzen<br />

der Entstrukturierung. Im Gegenteil, die vorliegenden Daten bestätigen die These einer<br />

zunehmenden sozialen Ausgrenzung <strong>und</strong> Polarisierung, wenn auch nicht im Ausmaß<br />

eines dramatischen Szenarios“ (Groh-Samberg 2009: 189). 25<br />

<strong>Neue</strong>re Daten bestätigen dieses Bild. Betrachtet man die Mobilität zwischen verschiedenen<br />

Einkommensquintilen, so zeigt sich, dass das Risiko im untersten Einkommensquintil zu<br />

verbleiben, in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat. Betrug es in den 80er noch 57<br />

Prozent, so ist es bis 2009 auf 65 Prozent angestiegen Datenreport 2011: 171).<br />

Die Vertreter eines dynamisierten Armutsbegriffes haben auf die Ergebnisse der empirischen<br />

Forschung zwischenzeitlich reagiert. Zwar betonen sie weiterhin die geringe quantitative Zahl<br />

der in verfestigter kumulierter Armut lebenden Menschen, relativieren jedoch die<br />

ursprüngliche Dynamisierungs- <strong>und</strong> Verzeitlichungsthese <strong>und</strong> gestehen zu, dass die<br />

Übergänge aus <strong>und</strong> in Armut im wesentlichen auf einen „kleinen Grenzverkehr“ zwischen<br />

Armut <strong>und</strong> benachbarten Einkommensgruppen beschränkt bleiben (Buhr/Leibfried 2009:<br />

114). Ob man darin wie Böhnke <strong>und</strong> Groh-Samberg eher einen Indikator für die Polarisierung<br />

<strong>und</strong> Spaltung der Gesellschaft sieht oder einen solchen „kleinen Grenzverkehr“ als<br />

Widerlegung der Ausgrenzungsthese <strong>und</strong> als Beleg für Perspektiven <strong>und</strong><br />

Handlungsmöglichkeiten der von Armut Betroffenen interpretiert (Buhr/Leibfried 2009),<br />

scheint eine Frage der eingenommenen Perspektiven <strong>und</strong> der angelegten normativen<br />

Maßstäbe zu sein 26 .<br />

Widerlegt wird durch die Ergebnisse der empirischen Forschung allerdings die populäre<br />

These, wonach Armut <strong>und</strong> Exklusion heute typischerweise kein Problem von Oben <strong>und</strong> Unten<br />

mehr darstellten <strong>und</strong> auf einer „glitschiger gewordenen sozialen Stufenleiter“der „Absturz<br />

von überall“ möglich sei (Bude 2008: 33). Christoph Butterwegge ist deshalb recht zu geben,<br />

wenn er demgegenüber vor der durch das Begriffspaar Inklusion-Exklusion transportierten<br />

Unterstellung „einer illusionären Risikogleichheit aller Gesellschaftsmitglieder“ warnt<br />

(Butterwegge 2009: 52f.).<br />

25 Im Einzelnen weist er sowohl für die Einkommens- als auch die Lebenslagenarmut eine erheblich ansteigende<br />

Persistenz nach (Groh-Samberg 2009: 188).<br />

26 Die Entscheidung für eine der beiden Positionen hängt insbesondere davon ab, ob man mit Blick auf die<br />

Gesellschaftsstruktur den „kleinen Grenzverkehr“, also den zeitweiligen Aufstieg aus der Armut in armutsnahe<br />

Einkommensregionen <strong>und</strong> die entgegengesetzte Bewegung, den Abstieg in Armut aus armutsnahen Regionen,<br />

als weiteren Beleg für eine sich verfestigende Polarisierung der Gesellschaft werten will, oder aber auf die in<br />

solchen Bewegungen erkennbaren Handlungsspielräume der Individuen abhebt.<br />

31


Komplizierter ist die Lage mit Blick auf die Prekarisierungsthese. Auf den ersten Blick<br />

scheint sie durch die empirischen Bef<strong>und</strong>e widerlegt. Multiple Deprivationen <strong>und</strong> damit soziale<br />

Ausgrenzung sind nicht zum allgemeinen Lebensrisiko breiter Bevölkerungsschichten<br />

geworden. Aber trifft dieser Bef<strong>und</strong> tatsächlich die Prekarisierungsthese? Das wäre nur dann<br />

der Fall, wenn die Betroffenheit von Prekarisierung mit dem Absturz in Armut <strong>und</strong> multiple<br />

Deprivation gleichgesetzt würde. Ungeachtet der sprachlich gern dramatisierenden <strong>und</strong><br />

begrifflich wie empirisch häufig ungenauen Diskussion, lassen sich die beiden Phänomene<br />

jedoch analytisch klar unterscheiden. Die empirischen Studien zur Einkommens- <strong>und</strong><br />

Lebenslagenarmut erfassen weder allgemeine Abstiegserfahrungen noch Abstiegsängste.<br />

Abstiegserfahrungen nicht, weil gesellschaftlicher Abstieg nicht unbedingt in Armut, schon<br />

gar nicht in eine multipel bestimmte Lebenslagenarmut führen muss, <strong>und</strong> Abstiegsängste<br />

deshalb nicht, weil diese unabhängig vom Status <strong>und</strong> der aktuellen Einkommenssituation<br />

gedeihen können.<br />

Bezeichnenderweise thematisiert auch Petra Böhnke, die in ihren Veröffentlichungen die<br />

These von einer Verallgemeinerung des Risikos sozialer Ausgrenzung mehrfach zurückweist<br />

(Böhnke 2005: 34, 2006: 211, 2009: 18), eine starke Verunsicherung der Mittelschichten.<br />

Dabei bezieht sie sich auf Umfragedaten des Wohlfahrtssurveys <strong>und</strong> von Allbus, die belegen,<br />

dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit in der Arbeiterschicht zwischen 1988 <strong>und</strong> 2004 von<br />

ungefähr 10 auf 22 Prozent mehr als verdoppelt, in der Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht, wenn auch<br />

auf einem niedereren absoluten Niveau, mehr als verdreifacht hat (Böhnke 2005: 35). Auch<br />

die Zustimmung zur Aussage, das Leben sei kompliziert geworden, <strong>und</strong> man finde sich kaum<br />

noch zurecht, kann als Indikator für Desintegration <strong>und</strong> Verunsicherung interpretiert werden.<br />

Interessanterweise hat sich die Zustimmung zu dieser Äußerung in der mittleren Einkommensquintile<br />

zwischen 1988 <strong>und</strong> dem Beginn des neuen Jahrtausend verdreifacht, während<br />

sie in der vierten Quintile kaum stieg <strong>und</strong> in der höchsten Einkommensgruppe sogar zurückging<br />

(Böhnke 2005: 35). Böhnke interpretiert diesen Bef<strong>und</strong> als Bestätigung ihrer These,<br />

Ausgrenzungsrisiken lösten sich nicht von schichtspezifischen Faktoren wie Ausbildungsdefiziten<br />

<strong>und</strong> geringer sozialer Integration, konzediert jedoch<br />

„Abstiegsängste, antizipierte Sicherheitsverluste <strong>und</strong> ein hohes Maß an Verunsicherung<br />

betreffen aber mittlerweile auch Bevölkerungsgruppen, deren soziale Lage nach<br />

objektiven Maßstäben, die sich an der Verteilung von Ressourcen orientieren, keineswegs<br />

überaus prekär sein muss“ (Böhnke 2005: 36). 27<br />

27 Entsprechend lautet auch das Fazit ihrer Studie von 2006, in dem sie „auf der subjektiven Ebene“ deutliche,<br />

bis in mittlere Gesellschaftsschichten reichende Verschlechterungen ausmacht (Böhnke 2006: 214). Ähnlich<br />

sieht dies auch Nicole Burzan, die auf der Einkommensebene keine dramatische Zunahme von Abwärtsmobilität<br />

ausmachen kann (Burzan 2008: 8).<br />

32


Das Problem mit dieser Argumentation liegt offensichtlich darin, dass sie objektive, durch<br />

kumulierte Armut charakterisierte soziale Lagen auf der einen, subjektiven Wahrnehmungen<br />

wie Ängsten, antizipierten Verlusten <strong>und</strong> Verunsicherungen auf der anderen Seite gegenüberstellt<br />

<strong>und</strong> damit die realen, nicht nur antizipierten Erfahrungen, welche diesen Wahrnehmungen<br />

auch lange vor Erreichen der Armutsschwelle zugr<strong>und</strong>eliegen, ausblendet. Beschränkt<br />

man Prekarisierungsprozesse auf den Abstieg in Einkommens- <strong>und</strong> Lebenslagenarmut, muss<br />

der Eindruck entstehen, die Mittelschichten hätten vor allem ein Problem mit ihrer subjektiven<br />

Wahrnehmung, ihren pessimistischen Zukunftsszenarien <strong>und</strong> ihren übertriebenen Statusängsten.<br />

28<br />

Demgegenüber deuten jedoch zahlreiche Indikatoren auf erhebliche Veränderungen in der<br />

objektiven sozialen Lage breiter Bevölkerungsschichten hin, die plausibel als Prekarisierung<br />

zu bezeichnen sind. Tatsächlich grenzen Robert Castel <strong>und</strong> die Jenaer Forschergruppe um<br />

Ulrich Brinkmann, Klaus Dörre u.a. den Prekarisierungsbegriff auch explizit von vollständiger<br />

Deprivation, Ausgrenzung <strong>und</strong> <strong>politische</strong>r Apathie ab (Castel/Dörre 2009: 17). Zudem ist<br />

ihr Prekaritätsbegriff stärker als der Armutsbegriff auf die Erwerbsarbeit fokussiert. Damit<br />

verbindet sich einerseits die Gefahr, neuere Veränderungen im Erwerbsleben, die wir oben<br />

bereits unter den Stichwort der Vermarktlichung, Flexibilisierung <strong>und</strong> Entkollektivierung<br />

angesprochen haben, umstandslos unter den Begriff der Prekarisierung zu subsumieren, die<br />

Arbeitswelt insgesamt als prekär zu qualifizieren <strong>und</strong> dem Begriff dadurch jede analytische<br />

Schärfe zu nehmen. 29 Andererseits scheint der Begriff aber geeignet, die Absenkung des an<br />

Erwerbsarbeit geknüpften Schutz- <strong>und</strong> Integrationsniveaus zu erfassen, das die wirtschaft-<br />

28 Von einer ähnlichen Gegenüberstellung ausgehend, unternehmen Bude/Lauterbach einen Versuch der<br />

Vermittlung zwischen objektiver Lebenslage <strong>und</strong> subjektivem Exklusionsempfinden. Dabei machen sie das<br />

subjektive Exklusionsempfinden zum entscheidenden Exklusionskriterium <strong>und</strong> sprechen dort, wo trotz<br />

offensichtlicher Benachteiligungen noch das Gefühl vorherrscht, das eigene Leben meistern zu können, von<br />

Marginalisierung (Bude/Lauterbach 2006: 234). Die beiden Autoren entwerfen ein komplexes „Prekaritäten-<br />

Ressourcen-Modell, das objektive <strong>und</strong> subjektive Exkludiertheit, prekäre Lebensverhältnisse <strong>und</strong><br />

Exklusionsempfinden“ aufeinander beziehen soll (Bude/Lauterbach 2006: 244). Aufgr<strong>und</strong> einer<br />

Telephonumfrage unter mehr als 1500 Frauen <strong>und</strong> Männern kommen sie im Ergebnis zu einer noch über das<br />

Modell hinausgehenden Subjektivierung des Exklusionsbegriffes, die Exklusion sehr stark von den „inneren<br />

Ressourcen“ der betroffenen Personen abhängig macht. „Auch der wegen seiner externen Ressourcen<br />

Privilegierte kann objektiv <strong>und</strong> vor allem subjektiv exkludiert sein, wie auch der objektiv `Minderprivilegierte´<br />

nicht zwangläufig auch zugleich objektiv oder subjektiv exkludiert sein <strong>und</strong> sich so fühlen muss“<br />

(Bude/Lauterbach 2006: 244). Ob damit sehr viel mehr gesagt ist, als dass es psychisch stabile <strong>und</strong> instabile,<br />

optimistische <strong>und</strong> pessimistische Menschen gibt, sei dahingestellt. In jedem Fall rückt damit aber die Frage in<br />

den Vordergr<strong>und</strong>, wie subjektives Exklusionsempfinden zu vermeiden wäre, weniger diejenige nach der<br />

Möglichkeit einer <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Marginalisierungs- <strong>und</strong> Exklusionsprozessen Betroffenen<br />

(so auch bei Bude 2008: 51f.).<br />

29 Diese Gefahr sehe ich, wenn man wie Berthold Vogel unter Rückgriff auf Gerry Rodgers die Prekarität eines<br />

Arbeitsverhältnisses anhand von vier Merkmalen bestimmt: „Grad der Arbeitsplatzsicherheit, Einfluss auf die<br />

Arbeitsplatzsituation, Vorhandensein von Arbeitsschutzbestimmungen <strong>und</strong> Chancen der Existenzsicherung<br />

durch Arbeit“ (Vogel 2006: 79 <strong>und</strong> ähnlich Vogel 2009a: 189-191). Damit wäre ein stark fremdbestimmter<br />

Arbeitsplatz bereits prekär zu nennen.<br />

33


lichen <strong>und</strong> sozialen Entwicklungen der letzen Jahrzehnte charakterisierte, ohne in den Mittelschichten<br />

zu drastischen Einkommensverlusten oder gar zu massenhafter Verarmung zu<br />

führen.<br />

Für eine derart verstandene Prekarisierung lassen sich, wenn auch hier nur beispielhaft,<br />

aussagekräftige Indikatoren anführen:<br />

1) Polarisierung der Einkommensverteilung<br />

Blickt man über das Armutsphänomen hinaus auf die Einkommensverteilung, so zeigt sich<br />

eine deutliche Tendenz zur Polarisierung der Einkommen (Goebel/Gornig/Häußermann<br />

2010). Definiert man den mittleren Einkommensbereich durch ein Haushaltseinkommen von<br />

mindestens 70, aber nicht mehr als 150 Prozent des Medianeinkommens, so schrumpft diese<br />

mittlere Gruppe seit 1993 nahezu kontinuierlich. Da nicht nur das obere, sondern auch das<br />

untere Drittel quantitativ zunimmt, verweisen die Zahlen auf reale gesellschaftliche Abstiegserfahrungen,<br />

auch wenn diese in vielen Fällen (noch) nicht zu Einkommens- oder gar<br />

Lebenslagenarmut führen müssen. Die Autoren des DIW-Berichtes stellen jedenfalls fest,<br />

„dass die mittlere Einkommensgruppe, deren Gewicht in der langen Periode seit dem<br />

Zweiten Weltkrieg enorm gestiegen ist, Verlierer der Umschichtungen in der Einkommensverteilung<br />

im letzten Jahrzehnt ist. Aus dieser Gruppe sind einige in die obere<br />

Einkommensgruppe auf- <strong>und</strong> viele in die untere Einkommensgruppe abgestiegen“<br />

(Goebel/Gornig/Häußermann 2010: 7f.).<br />

Hinzu kommt, dass die Reallöhne in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre kaum gestiegen<br />

sind <strong>und</strong> zwischen 2004 <strong>und</strong> 2008 trotz eines Konjunkturaufschwungs sogar rückläufig waren<br />

(Brenke 2009; Logeay/Zwiener 2008). Dabei sind keineswegs nur die Löhne der gering<br />

Qualifizierten unter Druck geraten (Brenke 2009: 559). Allerdings ist in Deutschland während<br />

des ersten Jahrzehnts nach 2000 der Niedriglohnbereich im Vergleich zu andern Ländern<br />

besonders stark angestiegen. 30 Der Anteil der Beschäftigten, die sich mit Löhnen begnügen<br />

müssen, die unter der Grenze von zwei Drittel des Medianlohnes liegen, stieg zwischen 2000<br />

<strong>und</strong> 2007 von 12,9 auf 17,5 Prozent. Dabei stieg unter Frauen zwischen 2000 <strong>und</strong> 2006 der<br />

Anteil von 24,8 auf 31 Prozent, bei Männern von 6,3 auf 9,2 (2005) (Eichhorst/Marx/Thode<br />

2010: 32f.).<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> w<strong>und</strong>ert es nicht, wenn im Jahr 2008 immerhin 18% der befragten<br />

Westdeutschen (23,4% der Ostdeutschen) ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht bzw.<br />

sehr schlecht beurteilten (ALLBUS 2008: 5). Vor allem in der ehemaligen Wohlstandsgesell-<br />

30 Niedriglohn wird definiert als ein Lohn der unter zwei Drittel des Medianlohns liegt. Die Zahl lässt keine<br />

unmittelbaren Schlüsse auf relative Einkommensarmut zu, da für letztere das bedarfsgewichtete Pro-Kopf-<br />

Einkommen pro Haushaltsmitglied maßgeblich ist (vgl. Wingerter 2009: 1094).<br />

34


schaft der alten B<strong>und</strong>esländer, wo diese Zahl 1992 wie auch noch im Jahr 2000 bei r<strong>und</strong> 8%<br />

lag, stellt dies eine erhebliche Verschlechterung dar (ALLBUS 2005: 30).<br />

2) Risikoausweitung im Erwerbsleben<br />

Bezieht man den Prekaritätsbegriff auf Arbeitsverhältnisse <strong>und</strong> nicht auf Einkommens- oder<br />

Lebenslagenarmut, so lässt sich eine Ausweitung der „Zone der Verw<strong>und</strong>barkeit “ (Castel<br />

2000a: 13) in die Mittelschichten hinein unschwer nachweisen. Aussagekräftige Indikatoren<br />

hierfür bilden der Rückgang von Normalarbeitsverhältnissen zugunsten sog. atypischer<br />

Arbeitsverhältnisse, das Anwachsen des Niedriglohnbereichs sowie eine allgemeine Arbeitsplatz-<br />

<strong>und</strong> Statusunsicherheit:<br />

Der Rückgang von sogenannten Normalarbeitsverhältnissen - also von sozialversicherten,<br />

tariflich abgesicherten <strong>und</strong> unbefristeten Vollzeitstellen - zugunsten von zeitlich befristeter<br />

Beschäftigung, Leih- bzw. Zeitarbeit sowie Teilzeitarbeit <strong>und</strong> Minijobs gehört zu den<br />

einschneidendsten Veränderungen während der vergangenen 10 bis fünfzehn Jahre am deutschen<br />

Arbeitsmarkt. Nach Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung waren im Jahr 2007 nur<br />

noch 38% der Erwerbsfähigen unbefristet vollzeitbeschäftigt. Demgegenüber hatten diesen<br />

Status im Jahr 1995 noch 44% der Beschäftigten (Eichhorst/Marx/Thode 2009: 8). Diese<br />

Entwicklung gewinnt eine besondere Dramatik nicht nur dadurch, dass in Deutschland<br />

zumindest für männliche Arbeitnehmer über Jahrzehnte hinweg unbefristete Vollzeitstellen<br />

das typische Beschäftigungsverhältnis bildeten, sondern auch, weil die sozialen Sicherungssysteme,<br />

insbesondere die Rente, vom Beschäftigungsstatus abhängen.<br />

Zwei für die jüngsten Risikoausweitungen im Erwerbsleben besonders aussagekräftige Indikatoren<br />

bilden dabei die Zunahme von befristeten Arbeitsverträgen <strong>und</strong> der sog. Zeit- oder<br />

Leiharbeit. Insgesamt nahm in Deutschland die Zahl der befristet Beschäftigten zwischen<br />

2001 <strong>und</strong> 2008 um 2,3 auf 14,7 Prozent zu (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 15). Betrachtet man<br />

den Anteil befristeter Verträge an den <strong>Neue</strong>instellungen <strong>und</strong> differenziert man nach Sektoren,<br />

so ergibt sich ein deutlich dramatischeres Bild. So werden im öffentlichen Dienst mittlerweile<br />

zwei Drittel aller <strong>Neue</strong>instellungen über befristete Verträge geregelt. Dass dies in der Regel<br />

nicht als Einstieg in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zu bewerten ist, zeigen die Zahlen zu<br />

Übernahmen aus befristeten Verträgen <strong>und</strong> zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch<br />

das Auslaufen der Befristung. In der öffentlichen Verwaltung liegen diese Zahlen bei 24, resp.<br />

35


36 Prozent, im produzierenden Gewerbe vergleichsweise günstiger bei 59, resp. 17 Prozent<br />

(Eichhorst/Marx/Thode 2010: 19). 31<br />

Zeit- oder Leiharbeit hat in Deutschland nach den 1995 einsetzenden Deregulierungen des<br />

Arbeitsmarktes zwar stark zugenommen, bleibt aber in Bezug auf den Arbeitsmarkt insgesamt<br />

quantitativ begrenzt. Zwischen 2000 <strong>und</strong> 2008 stieg der Anteil der Zeitarbeit an der aktiven<br />

Erwerbsbevölkerung von 0,8 auf 1,6 Prozent (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 21). 32 Allerdings<br />

betonen die Autoren der Studie, dass in Deutschland im produzierenden Gewerbe während<br />

der letzten Jahre ein international ungewöhnlich hoher Anteil von Leiharbeit aufgebaut<br />

wurde, der „nicht als eine selbstverständliche Brücke in stabilere Beschäftigungsverhältnisse<br />

anzusehen ist“. Vielmehr sei hier ein eigenes Beschäftigungssegment mit typischerweise sehr<br />

langen Verleihzeiten <strong>und</strong> damit eine polarisierte Beschäftigungsstruktur entstanden, in der die<br />

Zeitarbeitnehmer ähnliche oder gleichartige Tätigkeiten wie die Stammbelegschaft zu erheblich<br />

geringeren Löhnen ausführten (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 22f.). Es zeige sich bei der<br />

Leiharbeit „eine deutliche Tendenz zur Spaltung zwischen Rand- <strong>und</strong> Kernbelegschaften ohne<br />

belastbare Hinweise auf eine Brückenfunktion“ (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 7).<br />

Die genannten Veränderungen des Arbeitsmarktes dürften nicht unerheblich zur Zunahme der<br />

Ängste vor einem beruflichen Abstieg beigetragen haben. Nach Umfragedaten des Sozioökonomischen<br />

Panels gehen im Jahr 2006 in Westdeutschland 61 Prozent der berufstätigen<br />

Männer mit Berufsabschluss davon aus, dass es bei Verlust ihrer Stelle schwierig wäre, eine<br />

mindestens gleichwertige Stelle zu finden, 22 Prozent halten dies sogar für praktisch unmöglich.<br />

Bei Berufstätigen mit einem Hochschulabschluss liegen die Zahlen nur geringfügig<br />

darunter (Datenreport 2008: 126).<br />

Nimmt man zu der durch diese Indikatoren belegten Destabilisierung von Beschäftigungsverhältnissen<br />

noch die Abschaffung des Prinzips der Statussicherung in den arbeitsmarkt<strong>politische</strong>n<br />

Reformen, so sind die oben bereits diskutierten Verunsicherungen der Mittelschicht als<br />

bloßer Ausdruck von Ängsten <strong>und</strong> antizipierten Gefahren nicht adäquat konzipiert. Die<br />

Wiederkehr sozialer Unsicherheit ist ein reales Phänomen, das über die von Armut <strong>und</strong> soziale<br />

Ausgrenzung betroffenen Gruppen hinausreicht.<br />

31 Nach den Verfassern der Studie ist die vergleichsweise hohe Zahl der Übernahmen im produzierenden<br />

Gewerbe mit dem hohen Anteil von Ausbildungsverträgen zu erklären (Eichhorst/Marx/Thode 2010: 17).<br />

32 Nimmt man den Zeitraum zwischen 1994 <strong>und</strong> 2010 hat sich Zeit- oder Leiharbeit immerhin verfünffacht <strong>und</strong><br />

dürfte demnächst eine Million Menschen beschäftigen (Öchsner 2011: 20).<br />

36


3.3 Zwischenfazit<br />

Nicht exkludierende Armut, aber Prekarisierungsprozesse im Sinne des Brüchigwerdens von<br />

Status, Beschäftigungssicherheit <strong>und</strong> Zukunftsperspektiven haben demnach eine transversale,<br />

verschiedene Bereiche <strong>und</strong> Schichten der Gesellschaft erfassende Qualität. Fügt man mit<br />

Castel hinzu, dass Prekarität insbesondere die besonders benachteiligten Schichten betrifft<br />

<strong>und</strong> dort zu einer permanenten Bedingung des Lebens zu werden droht (Castel 2009: 31),<br />

dann scheint der Prekaritätsbegriff das zu leisten, was sich Kronauer von seinem Exklusionsbegriff<br />

erhofft, nämlich:<br />

„…dass er, als Prozesskategorie, darüber aufklärt, wie die ausgrenzenden Zuspitzungen<br />

von <strong>Ungleichheit</strong>en am gesellschaftlichen ´Rand` mit den zunehmenden Unsicherheiten<br />

<strong>und</strong> Verunsicherungen in der gesellschaftlichen ´Mitte` in Verbindung stehen“<br />

(Kronauer 2010: 229).<br />

Gesellschaftsanalytisch ist eine solche übergreifende Bedeutung des Prekaritätsbegriffes mit<br />

Veränderungen im Erwerbsleben zu begründen, auf die sowohl die Verfestigung von mehrfacher<br />

Lebenslagenarmut am Rand der Gesellschaft als auch die Entwertungs- <strong>und</strong> Abstiegsprozesse<br />

in ihrer Mitte zurückgeführt werden können. Während Robert Castel sich dabei auf eine<br />

soziologische Beschreibung dieser Veränderungen konzentriert, geht Klaus Dörre analytisch<br />

einen Schritt weiter <strong>und</strong> bezieht die Prekarisierungsprozesse auf die sozioökonomische Kernstruktur<br />

des Finanzmarkt-Kapitalismus. Für ihn ist die neue Prekarisierung dann auch „kein<br />

zwangsläufiges Resultat ökonomischer Effizienzsteigerung, sondern im Wesentlichen<br />

Ausdruck einer sozialen Macht finanzkapitalistischer Akteure“ (Dörre 2009a: 60).<br />

Auch wenn wir von dieser kapitalismuskritischen Identifikation eines gemeinsamen Gegners<br />

der unterschiedlich betroffenen Gruppen absehen, bietet der Prekarisierungsbegriff eine Reihe<br />

analytischer Vorteile:<br />

• er integriert die disqualifizierenden <strong>und</strong> exkludierenden Züge der neuen<br />

<strong>Ungleichheit</strong>sstrukturen ohne ein dichotomisches Drinnen - Draußen unterstellen zu<br />

müssen <strong>und</strong> ist deshalb auch besser als der Exklusionsbegriff geeignet, die empirischen<br />

Bef<strong>und</strong>e einer zwar zunehmenden, aber quantitativ in (noch) engen Grenzen<br />

bleibenden, exkludierenden Armut mit den weit in die gesellschaftliche Mitte reichenden<br />

Prozessen der Entwertung, des Abstiegs <strong>und</strong> des Sicherheitsverlustes zu erfassen;<br />

• er enthält eine historische zeitdiagnostische Dimension, die den Bruch gegenüber dem<br />

wohlfahrtsstaatlichen, durch kollektive Absicherungen gekennzeichneten Kapitalismus<br />

unterstreicht,<br />

37


• er ermöglicht, insbesondere mit dem Zonenkonzept Castels, Gradualisierungen <strong>und</strong><br />

Differenzierungen der Betroffenheit von <strong>und</strong> des Umgangs mit den zunehmend prekären<br />

Arbeits- <strong>und</strong> Lebensverhältnissen.<br />

4. Schwierigkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation prekarisierter <strong>und</strong> exkludierter<br />

gesellschaftlicher Gruppen<br />

4.1 Die symbolische Dimension der neuen <strong>Ungleichheit</strong><br />

Ein gemeinsames begriffliches Dach für die von exkludierender Armut <strong>und</strong> die von Disqualifikation,<br />

Unsicherheit <strong>und</strong> Abstieg betroffenen Gruppen sagt jedoch immer noch wenig über<br />

deren <strong>politische</strong> Repräsentations- <strong>und</strong> Konfliktfähigkeit aus. Nur auf den ersten Blick mag es<br />

nahe liegen, die von denselben wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Veränderungen negativ<br />

betroffenen Gruppen auf derselben Seite einer <strong>politische</strong>n Konfliktlinie oder einer zentralen<br />

Streitfrage zu verorten. Wie oben bereits ausgeführt, kommt <strong>politische</strong> Repräsentation in<br />

pluralistischen Demokratien nicht umhin, öffentlich vertretene Interessen mit Bezug auf<br />

Werte <strong>und</strong> Prinzipien zu begründen, die zwar kontrovers interpretierbar sind, prinzipiell<br />

jedoch als allgemeingültig unterstellt werden können. Ob die Interessen der von exkludierender<br />

Armut <strong>und</strong> diejenigen der von Prekarisierung im weiteren Sinn betroffenen Gruppen im<br />

<strong>politische</strong>n Prozess erfolgreich repräsentiert <strong>und</strong> ev. sogar auf derselben Seite einer <strong>politische</strong>n<br />

Konfliktlinie zusammengeführt werden können, hängt wesentlich von dieser symbolischen<br />

Ebene ab. Eine gesellschafts- <strong>und</strong> kapitalismuskritische Bestimmung der sowohl Armut<br />

als auch soziale Unsicherheit verursachenden Entwicklungen kann darüber jedenfalls keine<br />

Aussagen machen.<br />

Im Folgenden sollen deshalb die symbolischen Voraussetzungen, die einer <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

der von exkludierender Armut im engeren <strong>und</strong> von Prekarisierung <strong>und</strong> Sicherheitsverlusten<br />

im weiteren Sinn betroffenen Gruppen diskutiert werden. Neben einzelnen<br />

Forschungsergebnissen zur Selbst- <strong>und</strong> Fremdeinschätzung der betroffenen Gruppen <strong>und</strong> zu<br />

ihrem Gesellschaftsbild interessieren dabei auch kultursoziologische <strong>und</strong> milieutheoretische<br />

Arbeiten, die Aussagen über veränderte gesellschaftliche Wertorientierungen ermöglichen.<br />

4.1.1 Der Unterschichtsdiskurs <strong>und</strong> die verlorene Respektabilität<br />

Das Problem, um das es in diesem Zusammenhang geht, lässt sich durch einen historischen<br />

Vergleich veranschaulichen: In seinem oben bereits erwähnten Essay „Entbehrliche der<br />

38


Bürgergesellschaft“ erinnert Franz Walter an den traditionellen Gegensatz zwischen gelernten<br />

<strong>und</strong> ungelernten Arbeitern in der deutschen Arbeiterbewegung. Während die Mentalität der<br />

gelernten Arbeiter in einem vorkapitalistischen Handwerkerethos wurzele <strong>und</strong> durch<br />

Bildungsorientierung, Strebsamkeit <strong>und</strong> Kompetenzbewusstsein sowie politisch durch Organisationsfähigkeit<br />

<strong>und</strong> Reformorientierung geprägt gewesen sei, habe sich die Kultur der<br />

ungelernten Arbeiterschaft schon zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts durch Bildungsferne, eine<br />

Orientierung auf Freizeit <strong>und</strong> kommerzielle Massenkultur sowie politisch durch eine Affinität<br />

zu gewaltsamen Protestformen ausgezeichnet. Allerdings sei dieser Gegensatz von einer auch<br />

subjektiv wahrgenommenen Klassenidentität überbrückt worden (Walter 2011: 7-9).<br />

In der Wohlstands- <strong>und</strong> Aufstiegsgesellschaft der jungen B<strong>und</strong>esrepublik sieht Walter dann<br />

den Gegensatz zwischen den beiden Gruppen schwinden. Der Anteil der Ungelernten nahm<br />

ab, <strong>und</strong> die sozialstaatlichen Errungenschaften verringerten die Gegensätze zwischen<br />

verschiedenen Schichten der Arbeitnehmerschaft. Bereits im Laufe der 70er Jahre lebt der alte<br />

Gegensatz mit der entstehenden neuen Unterschicht wieder auf. Während den einen der<br />

gesellschaftliche Aufstieg durch Bildung gelingt, verlieren die anderen mit dem Bedeutungsverlust<br />

körperlicher Arbeit nicht nur ihre Jobchancen, sondern auch die Quelle ihres Selbstbewusstseins.<br />

Aus dem Gegensatz innerhalb der Arbeiterbewegung wird eine Spaltung in<br />

Verlierer <strong>und</strong> Gewinner:<br />

„Die Arbeiterklasse von ehedem spaltete sich: auf der einen Seite in die Verlierer, die<br />

zunehmend atomisierten, resignierten <strong>und</strong> zur Apathie neigten. Sie blieben in ihrem<br />

angestammten Wohnviertel, das aber Jahr für Jahr mehr von einem wertgeb<strong>und</strong>enen<br />

Arbeiter- zum desintegrierten Arbeitslosenquartier herabsank. Auf der anderen Seite<br />

standen die Gewinner, welche die Bildungsreformen genutzt, die Aufstiegschancen im<br />

öffentlichen Dienst <strong>und</strong> in den neuen ökonomischen Sektoren ergriffen hatten“ (Walter<br />

2011: 11).<br />

Die Strichführung in Walters Bild mag etwas grob sein, sie trifft jedoch die Gr<strong>und</strong>züge einer<br />

Entwicklung, die von anderen Autoren ganz ähnlich gesehen wird. Für unseren Zusammenhang<br />

ist dabei entscheidend, dass die festgestellte Spaltung nicht nur die organisatorische<br />

Einheit der Arbeiterbewegung zerbricht, sondern den Verlust der gemeinsamen symbolischen<br />

Ressourcen einer <strong>politische</strong>n Repräsentation von Arbeiterinteressen markiert. Walter spricht<br />

diese Dimension an, wenn er feststellt, dass die Aufsteiger „die Ausgestoßenen des<br />

Deindustrialisierungsprozesses“ hinter sich ließen <strong>und</strong> mit paternalistischem Unterton formuliert,<br />

sie „organisierten sie nicht mehr, formten sie nicht mehr kulturell, gaben ihnen keine<br />

<strong>politische</strong>n Impulse <strong>und</strong> Interpretationen mehr vor, stifteten weder Sinn noch Halt“ (Walter<br />

2011: 12).<br />

39


Diese Veränderungen lassen sich durch Sighard Neckels Studie zur „Erfolgskultur der Marktgesellschaft“<br />

weiter erhellen (Neckel 2008). Neckel bezieht sich auf eine aus den 50er Jahren<br />

stammende Untersuchung von Heinrich Popitz <strong>und</strong> Hans Paul Bahrdt zum „Gesellschaftsbild<br />

des Arbeiters“ (Popitz/Bahrdt u.a. 1957), die ein dichotomisches, klar zwischen oben <strong>und</strong><br />

unten trennendes Gesellschaftsbild der Arbeiterschaft insgesamt feststellt, dies jedoch durch<br />

zwei weitere Gr<strong>und</strong>züge charakterisiert: durch ein starkes Kollektivgefühl sowie durch ein<br />

ausgeprägtes Leistungsbewusstsein, d.h. die Selbstwahrnehmung als die eigentlich produktive,<br />

gesellschaftlich nützliche Klasse. Da in der Körperlichkeit der Arbeit der sinnfälligste<br />

Ausdruck gesellschaftlicher Nützlichkeit gesehen wurde, hatten auch Geringqualifizierte die<br />

Möglichkeit, „sich selbst als Teil der großen <strong>und</strong> bedeutsamen Arbeiterklasse zu verstehen“<br />

(Neckel 2008: 188). Nach Neckel löst sich dieses Gesellschafts- <strong>und</strong> Selbstbild seit den späten<br />

60er Jahren zunächst zugunsten einer „symbolischen Zentrierung auf die mittleren Schichten“<br />

auf (Neckel 2008: 190), um in jüngerer Vergangenheit wiederum von einem dichotomischen,<br />

nun aber zwischen „Verlierern“ <strong>und</strong> „Gewinnern“ unterscheidenden Gesellschaftsbild abgelöst<br />

zu werden (Neckel 2008: 191).<br />

Von einem ganz anderen theoretischen Ausgangspunkt, nämlich Durkheims „organischer<br />

Solidarität“ <strong>und</strong> einem von Simmel inspirierten, auf wechselseitige soziale Beziehungen<br />

gerichteten Armutsbegriff, kommt Serge Paugam zu einer Periodisierung der Geschichte der<br />

Armut, die Ähnlichkeiten mit derjenigen Neckels aufweist. Paugam unterscheidet die Idealtypen<br />

integrierter, marginalisierter <strong>und</strong> disqualifizierender Armut. Im ersten, in Gesellschaften<br />

mit schwacher ökonomischer Entwicklung dominierenden Fall, sei Armut ein Massenphänomen,<br />

die Armen nicht allzu stigmatisiert <strong>und</strong> der Umgang mit ihnen durch stark ausgeprägte<br />

Formen familialer <strong>und</strong> gesellschaftlicher Solidarität geprägt. Marginalisierte Armut sei<br />

typisch für entwickelte wohlfahrtsstaatliche Industriegesellschaften. Die Armen sind zu einer<br />

Randgruppe geworden, um die sich eine ausgebaute Sozialbürokratie kümmert. Die gesellschafts<strong>politische</strong><br />

Debatte kreist weniger um das Randphänomen Armut, das angesichts des<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Fortschritts für gr<strong>und</strong>sätzlich überwindbar gehalten wird, als um<br />

allgemeine Verteilungsfragen. Die diskriminierende Armut schließlich ist typisch für postindustrielle<br />

Gesellschaften mit hoher Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> prekären Beschäftigungsverhältnissen.<br />

Sie sei eher ein Problem der Ausgrenzung als der materiellen Armut. Sie führe bei<br />

Betroffenen zu einem Gefühl sozialer Entwertung <strong>und</strong> bedrohe den Zusammenhalt der Gesellschaft<br />

als ganze (Paugam 2008: 112-118).<br />

Die Ablösung der Klassenspaltung durch eine zwischen „Gewinnern“ <strong>und</strong> „Verlierern“ findet<br />

Ausdruck in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs zur neuen Unterschicht. Paul Nolte<br />

40


konstatiert aus eher kulturkonservativer Perspektive eine bereits früh einsetzende, bis in die<br />

60er Jahre hinein anhaltende „Verbürgerlichung“ der Arbeiterschaft. Erst danach sei dieses<br />

Leitbild der Verbürgerlichung als normative Utopie <strong>und</strong> als kulturelle Praxis zerbröckelt<br />

(Nolte 2004: 67). Befördert durch die finanziellen Transfers des Sozialstaats soll sich ein<br />

eigener Lebensstil der Unterschichten verfestigt haben, der durch Bedeutungsverlust der<br />

Arbeit, eine hedonistische Massenkultur <strong>und</strong> insbesondere durch individuelle Verantwortungslosigkeit<br />

gekennzeichnet sei. Benachteiligung äußere sich heute „weniger als Mangel an<br />

Geldressourcen, eher als Mangel an kulturellen Ressourcen, als Sozialisation in spezifische<br />

Lebensweisen, Verhaltensformen <strong>und</strong> Konsummuster hinein“ (Nolte 2004: 65).<br />

Ähnlich klingt es bei Franz Walter, wenn er formuliert, die modernen Unterschichten seien<br />

„keine praktizierenden Fre<strong>und</strong>e von Disziplin, Langfristigkeit, Triebaufschub. Freizeit,<br />

Spaß, Unterhaltung, Ablenkung, Traumwelten, <strong>und</strong> Body-Kult - in diesen Chiffren<br />

drücken sich die Alltagsphilosophien <strong>und</strong> die Lebensbewältigung der modernen<br />

Underclass aus“ (Walter 2011: 20).<br />

Bedrohlichere Züge als die hedonistischen Medienkonsumenten <strong>und</strong> Tagträumer Walters<br />

gewinnen die Vertreter der Unterschicht in den Schilderungen Heinz Budes. Er macht in der<br />

Unterklassenkultur eine „schief laufende Maskulinität“ oder sogar einen „Habitus der<br />

Gemeinheit“ aus, den er als „verzweifelte Suche nach Respekt in dem Syndrom radikalen<br />

Verlierertums“ erklärt (Bude 2009: 31).<br />

Dass derartige Beschreibungen ebenso viel über die deutsche Mehrheitsgesellschaft wie über<br />

die porträtierte Unterschicht aussagen, liegt auf der Hand. Wir haben es hier nicht nur mit<br />

nüchterner soziologischer Beschreibung, sondern eben auch mit der gesellschaftlichen<br />

Konstruktion eines „inneren Auslands“ der deutschen Gesellschaft (Neckel 2008: 178) zu tun.<br />

Aber auch das ist ein wichtiger Bef<strong>und</strong>: Die von ausgrenzender Armut betroffene Unterschicht<br />

dient der Mehrheitsgesellschaft als „konstitutives Außerhalb“ 33 , über das sie ihre eigenen,<br />

positiv besetzten Selbstbilder generiert.<br />

Damit ist allerdings keineswegs behauptet, die festgestellte kulturelle Kluft zwischen der<br />

neuen Unterschicht <strong>und</strong> der Mehrheitsgesellschaft sei eine Fiktion. Unterschiede in der<br />

Lebensweise, in Interessen, Freizeitverhalten <strong>und</strong> Erziehungsstilen zwischen Ober- <strong>und</strong><br />

Mittelschicht auf der einen <strong>und</strong> der Unterschicht auf der anderen Seite scheinen während der<br />

letzten zwei Jahrzehnte drastisch zugenommen zu haben. 34 Im Einzelnen wäre hier allerdings<br />

33 Zu diesem Begriff vgl. Mouffe 2007: 23.<br />

34 In der FAZ vom 17.8.2011 nennt Renate Köcher eine ganze Reihe von Indikatoren, die für eine solche<br />

Auseinanderentwicklung der Lebensweisen <strong>und</strong> Kulturen sprechen. Unter anderem hat das Institut für<br />

Demoskopie Allensbach für die Mitte der neunziger Jahre noch bei 45 Prozent der unter 25-Jährigen aus den<br />

unteren Schichten ein zumindest eingeschränktes Interesse für Politik ermittelt. Diese Zahl sei heute auf 32<br />

Prozent abgesunken, während die ohnehin höheren Zahlen in Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht nur geringfügig<br />

41


stärker zwischen den verschiedenen, von multipler Armut <strong>und</strong> Exklusion betroffenen Gruppen<br />

zu unterscheiden. Die alleinerziehende, im Niedriglohnbereich arbeitende Mutter, der<br />

arbeitslose, noch nie einer geregelten Tätigkeit nachgegangene Jugendliche <strong>und</strong> der 45-jährige<br />

Arbeiter, der durch den Abbau gering qualifizierter Tätigkeiten Stelle <strong>und</strong> Zukunftschancen<br />

verlor, lassen sich weder von ihrer objektiven Lage noch kulturell über einen Kamm scheren.<br />

Festhalten lässt sich jedoch, dass sich nach einer mehrere Jahrzehnte dauernden Angleichung<br />

der Lebensverhältnisse zwischen Unter- <strong>und</strong> Mittelschichten, in der jüngeren Vergangenheit<br />

die erneute Verfestigung einer Unterschicht beobachten lässt, die nun jedoch nicht mehr Teil<br />

einer breiteren gesellschaftlichen Bewegung mit eigenen Organisationen, kollektivem Selbstbewusstsein,<br />

kulturellen Werten <strong>und</strong> <strong>politische</strong>n Perspektiven bildet. Vielmehr herrscht ihr<br />

gegenüber eine Haltung der Abgrenzung, die nicht mehr durch eine gemeinsame Klassenidentität<br />

relativiert wird. Zwischen den unterprivilegierten Schichten <strong>und</strong> dem Rest der<br />

Gesellschaft verläuft eine „Trennlinie der Respektabilität“ (Vester 2009: 36).<br />

Dieser abgrenzenden Haltung durch die Mehrheitsgesellschaft steht auf Seiten der von<br />

multipler Armut betroffenen Gruppen eine eher resignative Lebenshaltung gegenüber. Renate<br />

Köcher spricht von einem „Statusfatalismus“ der unteren sozialen Schichten. 35 Politisch<br />

führen Lebenslagen mit mehrfacher Benachteiligung selten zur Unterstützung extremistischer<br />

Parteien, sondern eher dazu, „auf <strong>politische</strong> Partizipation zu verzichten <strong>und</strong> sich von der<br />

Möglichkeit der Mitbestimmung resigniert zu verabschieden“ (Böhnke 2006: 158). Ähnlich<br />

sieht Neugebauer in dem von ihm nicht nach objektiven sozialen Lagen, sondern schon<br />

aufgr<strong>und</strong> von Werthaltungen konstruierten „abgehängten Prekariat“ wenig Interesse an Politik<br />

<strong>und</strong> einen hohen Anteil von Nichtwählern. Allerdings stellt er auch einen überdurchschnittlichen<br />

Anteil an Wählern von linken <strong>und</strong> rechten Randparteien fest. 36<br />

zurückgingen. Eine andere Zahl deutet ebenfalls auf erhebliche Unterschiede in Lebensweise <strong>und</strong> Kultur hin:<br />

Während in den achtziger Jahren die Zahl der Raucher in der Oberschicht noch über der in der Unterschicht lag,<br />

habe sich in der Zwischenzeit die Zahl der Raucher in der Oberschicht halbiert, in der Unterschicht sei sie<br />

lediglich von 37 auf 34 Prozent zurückgegangen. Ähnliche Auseinanderentwicklungen lassen sich bei<br />

Leseverhalten, Mediennutzung <strong>und</strong> Erziehungsstilen beobachten (Köcher 2011: 5)<br />

35 Ihr zufolge erwarten nur 14 Prozent der unteren Schichten (wozu sie die nach Einkommen, Bildung <strong>und</strong> Beruf<br />

unteren zwanzig Prozent der Bevölkerung rechnet) dass es ihnen in zehn Jahren besser gehen wird. Nur dreißig<br />

Prozent sind zuversichtlich, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird als ihnen selbst (Köcher 2009: 5).<br />

36 Da nach seiner Konstruktion das „abgehängte Prekariat einen Anteil von 25 Prozent an der ostdeutschen, aber<br />

nur von 8 Prozent an der westdeutschen Bevölkerung ausmacht, kann allerdings auch nicht verw<strong>und</strong>ern, wenn in<br />

diesem Milieu ein überdurchschnittlich hoher Anteil angibt, Anhänger der Linken zu sein. Der Anteil der<br />

Anhänger rechtsextremer Parteien ist in diesem Milieu zwar auch überdurchschnittlich, mit 8 Prozent aber auch<br />

nicht dramatisch hoch (Neugebauer 2008: 34f.).<br />

42


4.1.2 Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen in der Wettbewerbsgesellschaft<br />

Wie vorne schon für die soziale Lage, so ist auch für die subjektiven Orientierungen der von<br />

Einkommens-, Sicherheits- <strong>und</strong> Statusverlusten betroffenen gesellschaftlichen Mitte kein auch<br />

nur einigermaßen einheitliches Bild zu gewinnen. Dies gilt zum einen, weil diese Gruppe sehr<br />

heterogen ist, zum anderen aber auch, weil, wie wir sehen werden, die Literatur für diese<br />

Gruppe gegensätzliche kulturelle <strong>und</strong> gesellschafts<strong>politische</strong> Orientierungen ausmacht. Dass<br />

es sich dabei nicht nur um verschiedene Interpretationen, sondern um einen in der Situation<br />

dieser Gruppen angelegten Gegensatz handelt, lässt sich durch die Ergebnisse einer von Klaus<br />

Dörre, Klaus Kraemer <strong>und</strong> Frederic Speidel durchgeführten qualitativen Erhebung zu den<br />

subjektiven Verarbeitungsformen von Prekarität veranschaulichen (Dörre 2009a). Orientiert<br />

am Zonenmodell Castels unterscheiden die Autoren zwei zentrale Integrationsmodi der<br />

Erwerbsarbeit: „die reproduktiv-arbeitskraftbezogene <strong>und</strong> die subjektiv-sinnhafte, tätigkeitsbezogene<br />

Integration“ (Dörre 2009a: 47). Obwohl soziale Unsicherheit bis weit in die sog.<br />

Zone der Integration reiche <strong>und</strong> hochqualifizierte Arbeitskräfte erfasse, könne bei entsprechender<br />

Ausstattung mit kulturellen <strong>und</strong> finanziellen Ressourcen die Identifikation mit der<br />

Tätigkeit die strukturell angelegte Beschäftigungsunsicherheit zumindest zeitweilig kompensieren.<br />

„Gerade für Hochqualifizierte gilt, dass das Interesse an der Tätigkeit <strong>und</strong> der Freiheitsgewinn,<br />

der mit flexiblen Arbeitsformen einhergeht, das Empfinden sozialer<br />

Unsicherheit überlagert“ (Dörre 2009a: 48).<br />

Begünstigt durch diese Identifikation mit den Arbeitsinhalten tendierten nicht nur Führungskräfte,<br />

sondern auch Spezialisten <strong>und</strong> qualifizierte Angestellte zu einer Verinnerlichung des<br />

Marktzwangs. Dörre sieht unter diesen, sich durch ein professionelles Ethos auszeichnenden<br />

Gruppen ein Bemühen um Bestätigung in der Arbeit, das „mitunter geradezu pathologische<br />

Formen annehmen (kann)“ (Dörre 2009a: 49).<br />

Dieser Bef<strong>und</strong> erinnert an die These von Boltanski/Chiapello, wonach die historische<br />

Entwicklung des Kapitalismus dadurch gekennzeichnet sei, dass er jene Werte in sich<br />

aufnehme, „die zuvor dazu dienten, ihn zu kritisieren“ (Boltanski/Chiapello 2005: 295). Der<br />

Kapitalismus sei gr<strong>und</strong>sätzlich in der Lage, Unterstützung zu generieren, indem er einen<br />

Kompromiss zwischen seiner Akkumulationsabsicht <strong>und</strong> dem Wertesystem seiner Gegner<br />

eingehe. Während so gesehen der organisierte, wohlfahrtsstaatliche Kapitalismus eine Reaktion<br />

auf die Sozialkritik der Arbeiterbewegung bildet, ist der flexible Kapitalismus der jüngeren<br />

Vergangenheit das Ergebnis der aus der 1968er Bewegung hervorgegangenen, Selbstentfaltungsmöglichkeiten<br />

in der Arbeit einklagenden „Künstlerkritik“. Sie habe dazu beigetragen,<br />

starre hierarchische Arbeitsformen durch flexiblere, stärker selbstbestimmte <strong>und</strong><br />

43


horizontal vernetzte Formen der Arbeitsorganisation zu ersetzen. Deren Kehrseite bildeten<br />

allerdings „zunehmende <strong>Ungleichheit</strong>, prekäre Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> die Verarmung vieler<br />

Lohnempfänger“ (Boltanski/Chiapello 2005: 308). Aber nicht nur das. Es scheint als hätten<br />

die erweiterten Möglichkeiten der individuellen Identifikation mit den Arbeitsinhalten eine<br />

neue Trennungslinie eröffnet. Serge Paugam jedenfalls sieht als Konsequenz des Strebens<br />

nach Anerkennung über die Qualität der Tätigkeit nicht nur ein Verblassen kollektiver Orientierungen,<br />

sondern die Disqualifikation anderer, weniger qualifizierter Arbeitnehmer (Paugam<br />

2009: 180).<br />

Sighard Neckel knüpft in seiner Theorie von der Marktgesellschaft als kulturellem Kapitalismus<br />

an den Arbeiten von Boltanski/Chiapello an <strong>und</strong> bezieht sie auf die ältere These Polanyis<br />

von der kulturellen Einbettung des Kapitalismus. Allerdings kommt er zu einem ganz anderen<br />

Ergebnis hinsichtlich des Verhältnisses von Kultur <strong>und</strong> Kapitalismus. Polanyi habe in der<br />

Einbettung von Märkten noch eine Begrenzung ihrer destruktiven Logik durch soziale Institutionen<br />

<strong>und</strong> kulturelle Werte gesehen. Heute dagegen zeichne sich statt einer solchen kulturellen<br />

„Einbettung“ eher eine Vermarktlichung der Kultur <strong>und</strong> der maßgeblichen Sozialnormen<br />

ab. Die moderne Marktgesellschaft habe die Tendenz, „das Soziale bis hin zu den<br />

inneren Antrieben von Personen zu ökonomisieren“ (Neckel 2008: 28).<br />

Neckel konkretisiert diese These an der Ablösung des Leistungsprinzips durch eine<br />

Gewinner/Verlierer Kultur. Während das Leistungsprinzip mit seinem Regelwerk von<br />

Aufwand <strong>und</strong> Entschädigung noch Reziprozitätsnormen folge, sei Markterfolg allenfalls<br />

teilweise von Arbeitsleistungen abhängig <strong>und</strong> beruhe zum großen Teil auf Gelegenheitsstrukturen,<br />

positiven Zuschreibungen oder schlicht dem Zufall (Neckel 2008: 25). Anders als<br />

das Leistungsprinzip, das graduelle Statusunterschiede zuschreiben <strong>und</strong> normativ legitimieren<br />

könne, setze die Orientierung auf Markterfolg an die Stelle einer solchen „graduell-quantitativen<br />

<strong>Ungleichheit</strong>ssemantik“ die Dichotomie von Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern. (Neckel 2008:<br />

183-195). Neckel sieht seine Analyse sowohl durch die weite Verbreitung der Gewinner-<br />

Verlierer Semantik (Neckel 2008: 165) als auch durch die Zunahme fatalistischer Deutungsmuster<br />

bestätigt, die gesellschaftliche <strong>Ungleichheit</strong> auf Zufall, auf bereits bestehende Privilegien<br />

oder einfach auf Willkür zurückführen (Neckel 2008: 192). Nicht nur die durch keinen<br />

Arbeitsaufwand mehr zu legitimierenden Einkommen an der Börse oder im Showgeschäft,<br />

auch die Popularität von Castingshows veranschaulichen ihm zufolge die kulturelle Leitfunktion<br />

des „winner-take-all“ Prinzips (Neckel 2008: 85).<br />

Ähnliche Diagnosen einer destruktiven Dominanz des Wettbewerbsprinzips finden sich in den<br />

Gesellschaftsanalysen von Hartmut Rosa (2006) <strong>und</strong> Lessenich/Nullmeier (2006). Rosa<br />

44


spricht von einer Transformation des Wettbewerbs vom Mittel „zum strukturell verfestigten<br />

Selbstzweck“ (Rosa 2006: 94) <strong>und</strong> meint damit, dass er immer weniger auf soziale Ziele oder<br />

definierte Leistungen ausgerichtet sei, sondern stattdessen nur noch am Erfolg gemessen<br />

werde. Dies führe zu einer beispiellosen Dynamisierung des Kampfes um Anerkennung <strong>und</strong><br />

zum Permanentwerden der Angst vor dem individuell zugerechneten Misserfolg (Rosa 2006:<br />

98). Lessenich/Nullmeier gehen davon aus, dass die gesellschaftlichen Wettbewerbssituationen<br />

derart bestimmend <strong>und</strong> die „Konkurrenzen <strong>und</strong> Marktlagen“ so fragmentiert sind, dass es<br />

zu keinerlei Einheitsbildung mehr kommen kann (Lessenich/Nullmeier 2006: 19).<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist nicht zu erwarten, dass die von Unsicherheit <strong>und</strong> drohendem<br />

Abstieg betroffenen Gruppen der gesellschaftlichen Mitte untereinander solidarisieren oder<br />

gar eine gemeinsame Perspektive mit den bereits von Armut <strong>und</strong> Exklusion Betroffenen<br />

entwickelten. Die dichotomische Unterscheidung zwischen Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern setzt<br />

für die Individuen vielmehr starke Distanzierungsanreize.<br />

Noch gr<strong>und</strong>sätzlicher aber gilt: sollten die hier knapp skizzierten kultursoziologischen Diagnosen<br />

zutreffen - <strong>und</strong> nicht nur bestehende Tendenzen dramatisieren - so käme dies einer<br />

Auflösung des Selbstbildes der Gesellschaft als Kooperationszusammenhang gleich, wie es<br />

etwa noch der gerechtigkeitstheoretischen Begründung des Sozialstaates bei Rawls zugr<strong>und</strong>e<br />

liegt. Die „intuitive Vorstellung“, von der dieser bei der Begründung seiner Gerechtigkeitsgr<strong>und</strong>sätze<br />

ausgeht ist die,<br />

„dass jedermanns Wohlergehen von der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand<br />

ein befriedigendes Leben hätte, <strong>und</strong> dass daher die Verteilung der Güter jeden, auch<br />

den weniger Begünstigten, geneigt machen sollte, bereitwillig mitzuarbeiten“ (Rawls<br />

1975: 32).<br />

Diese „Intuition“ gehört offenk<strong>und</strong>ig zu einer durch Reziprozität <strong>und</strong> gemeinsame Ziele<br />

charakterisierten Kooperationsgesellschaft, nicht aber zu einer Konkurrenzgesellschaft, in der<br />

Erfolg <strong>und</strong> Misserfolg dem Markt überlassen bleiben <strong>und</strong> in der die entscheidende Trennung<br />

zwischen „Gewinnern“ <strong>und</strong> „Verlierern“ verläuft.<br />

Betrachtet man den gerechtigkeitstheoretischen Diskurs der vergangenen Jahre, so sind deutliche<br />

Veränderungen zu beobachten, die das kooperative Moment in der Begründung von<br />

Gerechtigkeitsnormen zurückdrängen. Als Anzeichen dafür lässt sich der Bedeutungsverlust<br />

der Orientierung auf Bedarfs- <strong>und</strong> Leistungsgerechtigkeit zugunsten einer marktkompatibleren<br />

„Teilhabegerechtigkeit“ werten. Der Begriff der Teilhabegerechtigkeit stammt ursprünglich<br />

aus dem Kontext sozialer Bewegungen <strong>und</strong> Initiativen. Er zielt darauf, der zunehmenden<br />

Heterogenität sozialer <strong>Ungleichheit</strong>en <strong>und</strong> Benachteiligungen durch die Formulierung eines<br />

Inklusionsanspruchs gerecht zu werden. Jedes Individuum soll in die Lage versetzt werden,<br />

45


gleichberechtigt <strong>und</strong> umfassend am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Leisering 2004).<br />

In den Diskussionen zur Reform des Sozialstaates erfuhr der Begriff der Teilhabegerechtigkeit<br />

jedoch eine ökonomische Verkürzung auf die Fähigkeit zur Teilnahme am Arbeitsmarkt.<br />

Ein anerkennungstheoretisch begründeter Teilhabeanspruch wandelt sich damit zur Forderung<br />

nach Inklusion in das ökonomische Funktionssystem. Zur entscheidenden Gerechtigkeitsnorm<br />

wird es dann, möglichst jedes Individuum in die Lage zu versetzen, am „Spiel“ der Marktökonomie<br />

teilzunehmen. Mit welchen Ergebnissen, ob als Bezieher eines Niedriglohns oder<br />

eines Spitzeneinkommens, tritt demgegenüber in den Hintergr<strong>und</strong>. Für die Sozialpolitik<br />

bedeutet dies, dass nicht mehr „Dekommodifizierung“, sondern umgekehrt “Kommodifizierung“<br />

(der Arbeitskraft) als wichtigste Funktion einzelner sozialstaatlicher Regelungen gilt. 37<br />

Ginge die Wirklichkeit in den skizzierten Szenarien einer marktförmigen Wettbewerbsgesellschaft<br />

auf, wäre dies für die uns interessierenden Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation<br />

von Armen <strong>und</strong> Prekarisierten in mehrfacher Hinsicht fatal:<br />

• Erstens würde die Verinnerlichung von Marktzwängen <strong>und</strong> die individualisierende<br />

Zuschreibung von Erfolg oder Misserfolg bereits die Artikulation <strong>politische</strong>r Forderungen<br />

erschweren, die sich auf eine <strong>politische</strong> Regulierung <strong>und</strong> erneute „Einbettung“<br />

der Marktkonkurrenz richten.<br />

• Zweitens ließe die selbstvergewissernde <strong>und</strong> statusverteidigende Abgrenzung gegenüber<br />

der Unterschicht, die in diesen Szenarien ein herausragendes Merkmal der prekarisierten<br />

oder zumindest verunsicherten Mitte bildet, jede gemeinsame <strong>politische</strong><br />

Perspektive illusionär erscheinen.<br />

• Drittens <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlich jedoch entzöge das oben skizzierte Szenarium von einer<br />

Vermarktlichung der Kultur <strong>und</strong> der Sozialnormen jeder verteilungsrelevanten solidarischen<br />

Politik die symbolischen Ressourcen.<br />

4.1.3 Resilienz gesellschaftlicher Gerechtigkeitsvorstellungen?<br />

Das eindimensionale Szenario einer Vermarktlichung von Kultur <strong>und</strong> Sozialnormen wird<br />

allerdings komplizierter, wenn wir nicht bei kultursoziologischen Betrachtungen bleiben,<br />

sondern die Ergebnisse der empirischen Forschung zu gesellschaftlichen Werten <strong>und</strong> soziokulturellen<br />

Milieus hinzunehmen.<br />

Betrachtet man die Ergebnisse der empirischen Forschungen zu Gerechtigkeitsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeitsempfinden in der Bevölkerung, so ergibt sich keineswegs ein eindeutiges<br />

37 Dazu kritisch Nullmeier 2008: 451. Die Abkehr von Leistungs- <strong>und</strong> Bedarfsgerechtigkeit zugunsten der<br />

marktkonformeren Teilhabegerechtigkeit befürworten dagegen Liebig/May 2009.<br />

46


Bild. Zwar kommt Stefan Liebig in seinen Arbeiten zum Ergebnis, individualistische, am<br />

marktliberalen Modell orientierte Gerechtigkeitsvorstellungen fänden in der deutschen Bevölkerung<br />

zunehmende Akzeptanz. Andererseits sind auch nach seinen Ergebnissen egalitäre<br />

Vorstellungen zwar rückläufig, dennoch aber weiterhin stärker vertreten als Einstellungen, die<br />

eine Verteilung des Wohlstandes nach Marktmechanismen <strong>und</strong> individueller Leistung für<br />

gerecht halten. 38 Zudem stellt er eine Zunahme fatalistischer Haltungen fest (Liebig 2008; vgl<br />

auch Liebig/Lippl 2005).<br />

Nimmt man dagegen die Bef<strong>und</strong>e der Repräsentativbefragung in der Studie der Friedrich-<br />

Ebert-Stiftung, so zeigt sich ein starkes Übergewicht sozialer gegenüber neoliberalen, auf<br />

Marktfreiheiten gerichteten Werten. Während etwa 78 Prozent der Befragten auf einer siebenstufigen<br />

Skala dem Wert „Freiheit von sozialer Not“ eine der zwei höchsten Einstufungen<br />

gab, die „Solidarität“ 77 Prozent Zustimmung erreichte <strong>und</strong> selbst der egalitäre Wert „Gleichheit<br />

der Lebensverhältnisse“ immer noch von 51 Prozent der Befragten die zwei höchsten<br />

Einstufungen bekam, sahen nur 26 Prozent der Befragten im „freien Spiel der Marktkräfte“<br />

einen sehr wichtigen oder wichtigen Wert (Neugebauer 2007: 49). Diese Wertorientierungen<br />

finden im Übrigen auch eine Bestätigung in den starken sozial<strong>politische</strong>n Erwartungen der<br />

Bürger an den Staat. 39 <strong>Neue</strong>re Daten bestätigen, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung<br />

vom Staat mehr Umverteilung fordert (Lippl 2008) 40 <strong>und</strong> die über eine Bedarfssicherung<br />

hinausgehenden Erwartungen an staatliche Eingriffe in die Wirtschaft, insbesondere zur<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen, seit 2005 wieder zunehmen (Nüchter u.a. 2008: 40).<br />

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Michael Vester. In der Auswertung einer bereits im<br />

November 2000 durchgeführten repräsentativen Befragung zu den Vorstellungen von einer<br />

gerechten sozialen Ordnung unterscheidet er sechs gesellschafts<strong>politische</strong> Lager. Ohne diese<br />

hier im Einzelnen darzustellen, liegt der für uns interessante Bef<strong>und</strong> Vesters in einem Übergewicht<br />

derjenigen Lager, die verschiedene Varianten eines „arbeitnehmerischen Solidaritätsmodelles“<br />

vertreten, also für materielle Verteilungsgerechtigkeit <strong>und</strong> die Verteidigung des<br />

Sozialstaates eintreten. Von dieser Gr<strong>und</strong>lage aus will er das „enttäuscht-autoritäre Lager“ der<br />

Modernisierungsverlierer mit ins <strong>politische</strong> Boot holen <strong>und</strong> so Mehrheiten gewinnen. Obwohl<br />

38 Der oben angesprochene Widerspruch zwischen Marktmechanismen <strong>und</strong> individueller Leistung wird von<br />

Liebig nicht thematisiert (Liebig 2008).<br />

39<br />

Neugebauer stellt in diesem Zusammenhang fest: „Soziale Gerechtigkeit wird primär als<br />

Verteilungsgerechtigkeit interpretiert“ <strong>und</strong> beklagt als Befürworter weiterer Reformen des Sozialstaates, die<br />

„fordernden Haltungen gegenüber dem Staat, die in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden“ seien<br />

(Neugebauer 2007: 137).<br />

40 Lippl interpretiert die zeitweilig rückläufige Zustimmung zur Äußerung „Der Staat sollte die Einkommen von<br />

den wohlhabenden zu den weniger wohlhabenden Menschen umverteilen“ in Westdeutschland als Reaktion auf<br />

die finanziellen Transferleistungen nach der deutschen Einheit <strong>und</strong> erklärt die seit 2006 wieder über 50 Prozent<br />

liegende Zustimmung in Westdeutschland (bei über 80 Prozent in Ostdeutschland) mit dem Bedeutungsverlustes<br />

des Ost-West-Gegensatzes (Lippl 2008: 19).<br />

47


Vester anspricht, dass es dazu erforderlich sei, „ein zusammenhängendes Bild der<br />

wünschenswerten sozialen Ordnung“ zu entwerfen (Vester 2009: 49), bleibt letztlich doch<br />

offen, wie aus den Solidaritätswerten, die er im „gemässigt-konservativen“, dem „sozialintegrativen“<br />

<strong>und</strong> einem „skeptisch-distanzierten Lager“ ausmacht, eine integrationsfähige, bestehende<br />

Gegensätze <strong>und</strong> Abgrenzungsbedürfnisse überbückende <strong>politische</strong> Orientierung werden<br />

könnte (Vester 2009: 54f.). 41<br />

5. Ausblick: Möglichkeiten der <strong>politische</strong>n Repräsentation der von Exklusion <strong>und</strong><br />

Prekarisierung betroffenen Gruppen<br />

Die referierten Ergebnisse der <strong>Ungleichheit</strong>sforschung führen zu keinem klaren Ergebnis<br />

hinsichtlich der Repräsentationsfähigkeit der von Exklusion <strong>und</strong> Unsicherheit betroffenen<br />

Gruppen. Auf der einen Seite stehen Bef<strong>und</strong>e, die auf der Interessenebene eine bis weit in die<br />

Mitte der Gesellschaft reichende Betroffenheit durch die negativen Effekte eines neuen kapitalistischen<br />

Produktionsregimes nahelegen, sowie auf eine hohe Stabilität gesellschaftlicher<br />

Solidaritätswerte <strong>und</strong> mehrheitliche Unterstützung für einen umverteilenden Sozialstaat<br />

verweisen. Demgegenüber stehen Diagnosen von einem Ende der „organischen Solidarität“<br />

<strong>und</strong> der auf ihr basierenden Gerechtigkeitsvorstellungen, der Auflösung der großen soziokulturellen<br />

Milieus zugunsten der Individualisierung in einer naturalisierten Wettbewerbsgesellschaft<br />

sowie der kulturellen Dominanz eines zwischen Gewinnern <strong>und</strong> Verlierern<br />

dichotomisierenden Gesellschaftsbildes.<br />

Was bedeutet dies für die oben entwickelte These einer „doppelten“, die Entkollektivierung<br />

gesellschaftlicher Kooperationsverhältnisse sowie die symbolische Ebene verallgemeinerbarer<br />

Werte betreffenden Abkoppelung? Wie wirkt sich das skizzierte widersprüchliche Bild auf die<br />

<strong>politische</strong> Konfliktfähigkeit der von Exklusion oder Abstieg <strong>und</strong> Unsicherheit Betroffenen<br />

aus?<br />

Wie oben bereits dargestellt, ist <strong>politische</strong> Repräsentation als Ausdruck oder bloßer Reflex<br />

gesellschaftlicher Interessen nicht adäquat verstanden. Auch die arbeitsgesellschaftliche Solidarität,<br />

die Robert Castel <strong>und</strong> andere Autoren 42 durch ein neues kapitalistisches Produktionsregime<br />

untergraben sehen, war nie ein unmittelbarer Reflex industriegesellschaftlicher Beziehungen,<br />

sondern bedurfte verallgemeinerbarer Begründungen auf der Ebene gesellschaftlicher<br />

Werte, Selbstbilder <strong>und</strong> Zukunftserwartungen.<br />

41 Vgl. dazu Thaa 2011.<br />

42 So etwa Castel 2000, Hofmann 2009.<br />

48


Politische Programme <strong>und</strong> Forderungen begründen Interessen mit Werten, die als allgemeingültig<br />

gelten, sie stellen eine Verbindung her zwischen der Gegenwart <strong>und</strong> einer für<br />

wünschenswert gehaltenen Zukunft , weshalb sie stets auch normative Selbstbilder des<br />

<strong>politische</strong>n Gemeinwesens entwerfen, für das sie artikuliert werden.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> greifen Appelle an die Politik zu kurz, die Kommunikation mit den<br />

Gruppen der Modernisierungsverlierer zu verbessern <strong>und</strong> gegenüber ihren Interessen mehr<br />

Responsivität zu zeigen. 43 Politische Repräsentation umfasst ein breites Spektrum von<br />

Funktionen, unter denen in unserem Kontext ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgende<br />

besonders hervorzuheben sind:<br />

• <strong>politische</strong> Repräsentation bildet eine Bühne der Artikulation gesellschaftlicher Interessen;<br />

• sie impliziert die symbolische Aufwertung der repräsentierten Interessen durch ihre<br />

Artikulation in verallgemeinerbaren Werten <strong>und</strong> ihre Integration in ein normativ wünschenswertes<br />

Zukunftsbild;<br />

• darüber vermittelt befördert <strong>politische</strong> Repräsentation die Identitätsbildung <strong>und</strong><br />

normative Aufwertung der mit diesen Interessen verb<strong>und</strong>enen Gruppen;<br />

• <strong>politische</strong> Repräsentation bündelt verschiedene Interessen <strong>und</strong> Perspektiven zu<br />

identifizierbaren, jeweils auf einer Seite einer Konfliktlinie oder eines Issues lokalisierbaren<br />

Handlungsalternativen <strong>und</strong> schafft damit erst unterscheidbare <strong>politische</strong><br />

Lager;<br />

• zugleich führt <strong>politische</strong> Repräsentation durch diese Einbettung von Interessen in<br />

gesamtgesellschaftliche Handlungsperspektiven zu ihrer Relativierung <strong>und</strong> ihrer<br />

Mäßigung.<br />

Diese allgemeinen Funktionen demokratischer <strong>politische</strong>r Repräsentation werden von unterschiedlichen<br />

Repräsentationsformen nicht in gleichem Ausmaß erfüllt. Es wäre deshalb<br />

genauer zu untersuchen, wie verschiedene Formen <strong>politische</strong>r Repräsentation diese Funktionen<br />

speziell für die zwei Gruppen der von Exklusion Betroffenen <strong>und</strong> der von Verunsicherung<br />

<strong>und</strong> Prekarisierung Bedrohten wahrnehmen bzw. welche Effekte von ihnen für die mögliche<br />

Herausbildung von neuen, beide Gruppen zusammenführenden Konfliktlinien ausgehen.<br />

Konkret wären folgende Formen <strong>politische</strong>r Repräsentation genauer anzuschauen:<br />

• Mitgliederparteien, Programme, Wahlen<br />

• Parlamentarische Prozesse<br />

• Expertenkommissionen<br />

43 Beispielhaft in diesem Sinn etwa Neugebauer 2007.<br />

49


• Deskriptive Repräsentationsformen benachteiligter Gruppen<br />

• Soziale Bewegungen, bürgergesellschaftliche Mobilisierung <strong>und</strong> Selbstorganisation<br />

von Betroffenen<br />

• Stark personalisierte, populistische Repräsentationsformen<br />

Zu diskutieren wäre beispielsweise genauer:<br />

• wie der medienvermittelte Wettbewerb von Parteien um Wählerstimmen die Artikulation<br />

der Interessen von Modernisierungsverlierern beeinflusst, welche Unterschiede da<br />

zwischen stärker wahlkampfbezogenen <strong>und</strong> anderen öffentlichen Äußerungen der<br />

Parteien bestehen;<br />

• ob, <strong>und</strong> wenn ja, wie Parteien die oben genannten Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber<br />

gesellschaftlichen Verlierern aufgreifen;<br />

• ob, <strong>und</strong> wenn ja, welche symbolischen Ressourcen die verschiedenen Repräsentationsformen<br />

nutzen können, um die angeführten Widersprüche zwischen verschiedenen,<br />

von Veränderungen des Produktionsregimes negativ betroffenen Gruppen zu einer<br />

gemeinsamen Perspektive zusammenzuführen;<br />

• wie weit sich in Bezug auf diese Fragen parlamentarische Prozesse von programmatischen<br />

<strong>und</strong> wahlkampfbezogenen Aktivitäten unterscheiden;<br />

• ob Formen deskriptiver Repräsentation zwar zur Identitätsbildung der entsprechenden<br />

Gruppen beitragen, zugleich aber ambivalente Auswirkungen hinsichtlich ihrer<br />

symbolischen Aufwertung haben;<br />

• worin, vor dem skizzierten Hintergr<strong>und</strong>, die Stärken personalisierter, populistischer<br />

Repräsentationsformen liegen;<br />

• wie selbstautorisierte Formen der Repräsentation durch Initiativen <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Mobilisierung auf partei<strong>politische</strong> Repräsentationsformen einwirken.<br />

Eine Gr<strong>und</strong>lage für die Bearbeitung dieser <strong>und</strong> ähnlicher weiterer Fragen können die<br />

Forschungsergebnisse der Teilprojekte C7 <strong>und</strong> C 9 des SFB bilden.<br />

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