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Materialien für den Unterricht 22 Naturwissenschaften sozial

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53 :82<br />

h) Schwerer Störfall in Biblis lange verschwiegen<br />

"Ein Szenario, von dem wir nicht wußten,<br />

daß es möglich war"<br />

Fast genau vor einem Jahr ereignete sich<br />

jener StörfaH im südhessischen Atomkraftwerk<br />

Biblis, der erst in dieser Woche<br />

durch einen Artikel im US-Branchenfachblatt<br />

.Nucleonics Week" bekannt wurde.<br />

Die FR dokumentiert <strong>den</strong> Artikel des<br />

Fachblattes, an dem neben dem Bonner<br />

Korrespon<strong>den</strong>ten Mark Hibbs auch vier<br />

US-Kollegen mitarbeiteten, mit Genehmigung<br />

des Verlages in einer von Hibbs und<br />

dem Verlag Me Graw-Hill autorisierten<br />

Übersetzung.<br />

Die nationale Atomaufsichtsbehörde<br />

(NRC) untersucht die Folgerungen aus<br />

einem unveröffentlichten Vorfall in<br />

einem deutschen Reaktor<br />

Die NRC überprüft die Verwundbarkeit<br />

(Anfälligkeit) von US-Kraftwerken durch<br />

einen seit langem postulierten sytemübergreifen<strong>den</strong><br />

Unfall mit Kühlmittelverlust<br />

(interfacing systems loss-of-cooling<br />

acci<strong>den</strong>t - LOCA), nachdem sich die ersten<br />

Schritte in Richtung auf ein solches<br />

Ereignis im vergangenen Jahr in einem<br />

deutschen Reaktor ereigneten. Das Ereignis<br />

führte zu Nachrüstungsmaßnahmen<br />

in deutschen Kraftwerken, aber NRC-Offizielle,<br />

die erst kürzlich von dem Vorfall<br />

erfuhren, sind sich uneinig über die Bedeutung<br />

des Ereignisses für US-Kraftwerke.<br />

. Der Störfall, der bisher noch nicht von<br />

westdeutschen Behör<strong>den</strong> veröffentlicht<br />

wurde, ereignete sich Mitte Dezember<br />

1987 in Biblis A, einem 1204-Megawatt-Kraftwerk.<br />

Obwohl es einen zu vernachlässigen<strong>den</strong><br />

Austritt von radioaktivem<br />

Primärdampf unterhalb meldepflichtiger<br />

Grenzwerte gab, wurde der Störfall<br />

als Vorläufer für einen systemübergreifen<strong>den</strong><br />

Unfall mit Kühlmittelverlust<br />

(LOCA) bewertet; ein Unfall ablauf jenseits<br />

der Auslegungsgrenzen, der zuerst<br />

in der 1975 erstellten "Wash-1400-Reaktorsicherheitsstudie"<br />

beschrieben wurde ,<br />

wo er unter Kraftwerks-Ablauf V aufgeführtwar.<br />

Nach diesem Ablauf kann ein Versagen<br />

der Prüfventile, die <strong>den</strong> Primärkreislauf<br />

vom Niederdruck-Einspritzsystem<br />

(low-pressure injection system - LPIS)<br />

des Reaktorkern-Notkühlsystems (emergency<br />

core cooling system - ECCS) trennen,<br />

einen Unfall mit Kühlmittelverlust<br />

(LOCA) verursachen, der auf das LPIS<br />

übergreift und <strong>den</strong> Reaktorsicherheitsbehälter<br />

(das Containment) verläßt. Nach<br />

der Wash-1400-Studie "könnte das LPIS,<br />

das für Niederdruck vorgesehen ist, wegen<br />

des Überdrucks oder dynamischer<br />

Abläufe jenseits seiner Auslegung versagen,<br />

was die Kernschmelze (und) <strong>den</strong><br />

Austritt von Radioaktivität weit außerhalb<br />

des Containments auslösen würde."<br />

Spätere NRC- und Industrie-Studien ergAben,<br />

daß die genauen Ergebnisse dieses<br />

Ablaufes kraftwerksspezifisch sind,<br />

weil die LPIS und die Schwächen des<br />

LPIS-Röhrensystems stark variieren.<br />

Die Auswirkungen des Ventilversagens<br />

hängen vom Zustand des Reaktorkerns<br />

und vom Druck im Primärsystem zum<br />

Zeitpunkt des Versagens ab. Wenn das<br />

Versagen beispielsweise auf einen Überdruck<br />

durch einen bereits schmelzen<strong>den</strong><br />

Reaktorkern zurückgeht, könnte ein Leck<br />

für ein schnelles Entweichen in die Umwelt<br />

sorgen, weil typischerweise ein Teil<br />

der LPIS-Röhren in einem Hilfsgebäude<br />

untergebracht sind. Da das Kühlmittel<br />

außerhalb des Containments ausläuft,<br />

sammelt sich das Wasser nicht im Containment-Bo<strong>den</strong>,<br />

und wenn der Kühlmittel-Tank<br />

geleert ist, verbleibt keine Kühlmittel-Quelle<br />

für Notkühlsysteme, um ein<br />

Durchschmelzen zu verhindern.<br />

Der Biblis-Störfall begann, als die Bedienungsmannschaft<br />

Biblis A nach einer<br />

unvorgesehenen Vier-Tage-Abschaltung<br />

in der Hälfte des jährlichen Brennstoff-Kreislaufes<br />

wieder anfuhr. Ein Abschlußventil<br />

am Verbindungsstück zwischen<br />

dem Primärkreislauf und dem<br />

LPIS war nicht, wie es sein sollte, geschlossen.<br />

Wenn der Reaktor abgeschaltet<br />

ist, sind die zwei Ventile, die die bei<strong>den</strong><br />

Systeme verbin<strong>den</strong>, vollständig geöffnet;<br />

aber sie sollen sich beim Betrieb<br />

schließen, um das Notsystem vom Primärkreislauf<br />

zu isolieren. Ein Reaktor­<br />

Techniker erkannte das Problem und<br />

versuchte das Ventil durch Druckmanipulationen<br />

zu schließen, indem er das zweite<br />

Prüf'lentilleicht öffnete. Dieses Vorgehen<br />

- korrekt nach dem Betreiber-Handbuch<br />

- war nicht erfolgreich, und der<br />

Techniker begann - ebenfalls korrekt<br />

nach <strong>den</strong> Prozeduren - das Kraftwerk<br />

herunterzufahren. Durch das Öffnen des<br />

zweiten Prüfventils öffnete der Techniker<br />

für 2-5 Sekun<strong>den</strong> einen Pfad vom Primärkreislauf<br />

aus dem Containment, und es<br />

gab einen kleinen Austritt von Primärkreislaufdampfin<br />

<strong>den</strong> Reaktorringraum<br />

und von dort über <strong>den</strong> Abluftkamin in die<br />

Atmosphäre.<br />

Offizielle enthüllen nicht, wieviel Radioaktivität<br />

entwich, bestehen aber darauf,<br />

daß es weit unterhalb der Grenzen<br />

war, die vom Betreiber, dem Rheinisch-Westfälischen<br />

Elektrizitätswerk<br />

(RWE), verlangt hätte, <strong>den</strong> Störfall allein<br />

aus Radioaktivitätsgrün<strong>den</strong> zu mel<strong>den</strong>.<br />

Nach dem Biblis-Störfall wurde nach<br />

Angaben von Offiziellen die Gesellschaft<br />

für Reaktorsicherheit (GRS) unmittelbar<br />

mit der Untersuchung des Vorfalls und<br />

der Erstellung einer grundsätzlichen Risikostudie<br />

des Problems beauftragt. Die<br />

Wochen nach dem Störfall vorgelegte<br />

Studie faßte zusammen, daß ein vergleichbares<br />

Leck im Dampfkreislauf in<br />

jedem Kraftwerk einen LOCA verursachen<br />

könnte, wenn einige zusätzliche Defekte<br />

eingetreten wären, was Kraftwerksbetreiber<br />

als "höchst unwahrscheinliche<br />

Situation" bezeichnen. Zu diesen Defekten<br />

gehörte ein Bruch der LPI5-Röhrenin<br />

dem Zehntel ihrer Länge, das sich außerhalb<br />

des Reaktorsicherheitsbehälters<br />

(Containment) befindet Der Vorfall in Biblis<br />

erfüllte "keineswegs" <strong>den</strong> Störfall-Ablauf<br />

für einen LOCA wie er von Reaktor­<br />

Experten definiert wird, sagte ein Offizieller.<br />

"Der Störfall in Biblis war der Anlaß,<br />

ein Szenario zu überprüfen von dem<br />

wir nicht wußten, daß es möglich war",<br />

sagte die GRS.<br />

Die Studie führte zu Veränderungen in<br />

allen deutschen Kraftwerken. Die Anfahr-Prozeduren<br />

wur<strong>den</strong> überarbeitet, so<br />

daß die Bedienungsmannschaften früher<br />

Frankfurter Rundschau vom 7.12.1988, S.4<br />

prüfen, ob die Ventile zum Reaktorkern­<br />

Notkühlsystem (emergency-core-cooling-system<br />

- eccs) geschlossen sind, und<br />

die Mannschaften wur<strong>den</strong> entsprechend<br />

geschult Zusätzlich wur<strong>den</strong> die Reaktorschutzsysteme<br />

modifiziert, um <strong>den</strong> Druck<br />

hinter <strong>den</strong> Schlüsselventilen zu messen<br />

und ein Hochfahren des Reaktors zu<br />

stoppen, wenn der Druck nicht korrekt<br />

ist "Wir entdeckten eine grundsätzliche<br />

Schwäche in unserem Kraftwerksbetrieb<br />

und im Reaktorschutzsystem", sagte ein<br />

Offizieller, "und wir räumten das Problemaus."<br />

Die westdeutschen Sicherheits be hör<strong>den</strong><br />

gaben Informationen über <strong>den</strong> Vorfall<br />

in das Störfallberichtsystem der<br />

A10menergiebehörde der OECD (Organisation<br />

-für wirtschaftliche Zusammenarbeit),<br />

aber deklarierten sie als Industriegeheimnis<br />

(stamped it proprietary). Nach<br />

Angaben von NRC-Offiziellen bedeutete<br />

dies, daß sie <strong>den</strong> Störfall nicht öffentlich<br />

diskutieren oder das Land und <strong>den</strong> betroffenen<br />

Reaktor benennen konnten.<br />

"Wir 'glauben nicht, daß wir darüber spre­<br />

Chen sollten, weil es unser Abkommen<br />

btechen würde", sagte NRC-Sprecher Robert<br />

Newlin. "Wir glauben nicht, daß wir<br />

überhaupt etwas sagen können."<br />

. per Vorfall, von dem die NRC erstmals<br />

im September erfuhr, wurde bei einem<br />

vertraulichen Treffen über Reaktor-Störfalle<br />

von NRC-Mitarbeitern am 29. November<br />

erörtert. Ein Tagesordnungspunkt<br />

sagte lediglich: "Ausländischer<br />

Reaktor - Reaktor-Kühlmittelverlust ausßerhalb<br />

des Containments - vertrauliche<br />

Information (Industriegeheimnis)."<br />

'. Thomas Murley, der Direktor des Büros<br />

für Nuklear-Reaktor-Richtlinien, sagte,<br />

daß es nicht unüblich ist, von Störfällen<br />

in ausländischen Reaktoren lange<br />

nachdem sie sich ereigneten, zu erfahren,<br />

weil die Betriebsstörfälle zuerst von <strong>den</strong><br />

Inspektoren des jeweiligen Landes analysiert<br />

und anschließend Spezialberichte<br />

erstellt und in die internationalen Berichtsnetze<br />

eingegeben wer<strong>den</strong>. Murlev<br />

erklärte, er sehe nichts "irgendwie Ala;­<br />

Illierendes" im Biblis-StörfalJ und sei<br />

nicht verärgert darüber, daß die NRC davon<br />

nicht eher erfahren habe.<br />

Ein NRC-Experte sagte aber, in <strong>den</strong><br />

USA wäre es als Ereignis von "höchster<br />

Bedeutung" für die Sicherheit eingestuft<br />

wor<strong>den</strong>, falls dort ein dem Biblis-Störfall<br />

vergleichbares Ereignis eingetreten wäre.<br />

"Wenn es in einem US-Kraftwerk passiert<br />

wäre, hätten wir ohne Zweifel innerhalb<br />

von Stun<strong>den</strong> ein erweitertes Inspektionsteam<br />

(ait - augmented inspection<br />

team) vor Ort gehabt," sagte der Experte.<br />

"Nach einem Fehler wie diesem wären<br />

sie für eine lange Zeit abgeschaltet geblieben.<br />

Wenn man mit einem Leck außerhalb<br />

des Containments dasteht und<br />

keine gute Nachschub-Quelle (für Kühlwasser)<br />

hat, kann man große Probleme<br />

bekommen. Wenn man ein definiertes<br />

Leck innerhalb des Containments hat,<br />

bleibt immer noch der (Containment)-<br />

Sumpf und die Möglichkeit des Wiederverwendung<br />

(des Kühlmittels). Aber ein<br />

Leck außerhalb des Containments ist außerhalb<br />

der Auslegung. Wir fassen<br />

zusammen: Wenn man einen Störfall jenseits<br />

der Auslegung hat, dann hat man<br />

Probleme." • • • (Copyright 1988 Mc Graw-Hill)

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