Kapitel Titel CRUISER Edition <strong>Winter</strong> 14/15 40
CRUISER Edition <strong>Winter</strong> 14/15 Kolumne Es bleibt in der Familie Von Michi Rüegg Es war die Frage eines unschuldigen Kindes, das in den Fünfzigerjahren mit seinen Etern im Tessin ein paar Ferientage verbracht hat: «Was macht der Onkle Koni immer bei diesen WCs?» Das Kind war meine Mutter, und es hat einige Jahrzehnte gedauert, bis ihr klar geworden ist, was Onkel Koni tatsächlich im Toilettenhäuschen gesucht hat. Er war keinesfalls inkontinent, ein anderer Drang hat ihn an den Abort geführt. Und ich hoffe, er fand, was er suchte. Onkel Koni war einer von zwei schwulen Brüdern meines Grossvaters, wie sich herausstellte. Hätten meine Eltern und ich nicht ab und zu übers Schwulsein geredet, wären diese innerfamiliären historischen Randnotizen vermutlich für immer vergessen geblieben. Das waren interessante Gespräche. Mama war selber erstaunt, als sich in ihrer Erinnerung die Onkels Jahrzehnte später plötzlich posthum outeten. Es war halt nie ein Thema, man hat das erst ignoriert, dann vergessen. Mit der Zeit poppten auf beiden Seiten der Familie weitere Homo-Verwandte auf. Da war Tante Emmi, die eigentlich lesbisch war, und nicht bloss eine alte Jungfer, wie es sie früher häufig gab. Emmi war eines Nachmittags Gast bei unserer Nachbarin, Fräulein Brugger, als meine Mutter den Waschküchenschlüssel vorbeibrachte. Neulich fand Mama: «Ich glaube, die beiden hatten was miteinander.» Da war auch Emmis Pflegesohn, über den sich das halbe Dorf das Maul zerriss, wenn er sich sonntäglich perfekt herausgeputzt in den Zug nach Zürich setzte. Er hatte es nicht leicht, sein Vater und sein Grossvater waren ein und dieselbe Person. Ich kann nur erahnen, welche Geheimnisse meine Familiengeschichte birgt. Die meisten dieser Leute hatte ich nie gekannt, oder nur flüchtig, weil ich noch sehr klein war. Ihre Geschichten haben sie mit ins Grab genommen. Man ignorierte sie so gut man konnte. Trotzdem waren sie Familie. Ich brauchte einige Jahre, um meine verstorbenen schwulen und lesbischen Verwandten in Gedanken um mich zu scharen. Aber ich freute mich über jeden neuen Namen, der plötzlich im Gespräch auftauchte. Wäre Klappensex heute nicht derart verpönt, ich würde alle Toiletten des Landes aufsuchen und mich durch die Reihen vögeln, so wie Onkel Koni damals. Schliesslich gilt es, Familientraditionen aufrecht zu erhalten. Nicht nur Adel verpflichtet. Nun, es ist Weihnachtszeit, und man darf über die Festtage ein paar Gedanken an die Familie verschwenden. Vielleicht zünde ich eine Kerze an. Und ich stelle mir vor, wie meine Onkeln vögelten, wie Tante Emmi und Fräulein Brugger im zweiten Stock unseres Wohnhauses nackig auf einer Häkeldecke rummachten. Ich denke an all die Versteckten, Verborgenen und Verstorbenen im Dunkel der Vergangenheit, über deren wahre Bestimmungen niemand sprach und heute niemand mehr sprechen kann. Eine Antwort hat Mama übrigens auf ihre WC- Frage damals im Tessin vor bald sechzig Jahren nie erhalten. Man hat über diese Dinge den Mantel des Schweigens gehüllt. Anzeige Dein Jagdrevier für alle Tage von früh bis spät 28.11. BIS 23.12. WEIHNACHSMARKT am Hirschenplatz, mit Glühwein, Guetzli & Co., kommt vorbei und lasst die Glocken süss klingen… 31.12. SYLVESTER Dance-Party mit DJ Prince NYC come early, have fun, leave late… 23. & 24.1. WINTERBLUES & VITAMINES JEDEN MONTAG - PLATZKONZERT ab 18.00 h, Eintritt frei JEDEN MITTWOCH - BaY NIGHT Shots, Shakes & Happiness PLATZHIRSCH am Hirschenplatz Hotel & Bar Spitalgasse 3, 8001 Zürich www.platzhirsch.bar 41 Ins_PH_<strong>Cruiser</strong>_<strong>Winter</strong><strong>2014</strong>-15_195x95.indd 1 11.11.14 14:43