Coverstory„Ich gehe davon aus, dass das Pensionssystemin Österreich grundsätzlichüberlebensfähig, aber auchstark überholungs- und reparaturbedürftigist“, sagt Univ.-Prof. Dr.Bernd Marin, Sozialforscher und Leiterdes Europäischen Zentrums fürWohlfahrtspolitik und Sozialforschung.Foto: Martin Draper/FotodienstJahre in Abhängigkeit, so sind wir inzwischen im Laufe des Lebensüber 48 Jahre Versorgungsempfänger und nur noch 35 Jahre am Arbeitsmarktund davon lediglich 31 Jahre Beitragsleistende zur Sozialversicherung“,rechnet der Sozialforscher und PensionsexperteBernd Marin vor. „Wir verbringen durchschnittlich ein Vierteljahrhundertim Ruhestand, mehr als 13 Jahre bei Männern und bis 18Jahre bei Frauen während des Erwerbslebens außerhalb der Arbeit,davon rund zwei Jahre in Arbeitslosigkeit, zwei Jahre im Krankenstand,knapp vier Jahre (9,8 bis 12,6 Jahre bei den betroffenen Menschen)in Invalidität bzw. Berufsunfähigkeit.“Dafür reicht „das größte Sparpaket aller Zeiten“ aus dem Jahr 2012keinesfalls, so die wenig optimistische Prognose von Marin. „Dennselbst bei wirtschaftlichem Wiederaufschwung und sogenannten,Schönwetter‘-Bedingungen stehen wir vor noch nie dagewesenenHerausforderungen. Allein die alterungsbedingten Mehrkosten imFiskus für Gesundheit, Pflege und Pensionen werden bis 2030 Jahrfür Jahr eine Konsolidierung in der Höhe der KonjunkturbelebungsundBankenrettungspakete nach Finanzcrash und weltweiter Rezessionab 2008 erfordern – also ein Zehn- bis Zigfaches der bisherigenKrisenkosten.“„Sicher sind die Pensionen nur mit einem stärkeren Wirtschaftswachstumund Beschäftigung“, erklärt der Sozialforscher und PensionsexperteBernd Marin. „Bereits 0,4 Prozent Rückgang im Wachstumbedeutet rund vier Jahre länger arbeiten. Es geht nicht um einUngleichgewicht zwischen Jung und Alt, sondern um eines zwischenArbeitenden und Nicht-Arbeitenden sowie zwischen bezahlter undunbezahlter Arbeit. Gerade in Österreich hat unbezahlte Arbeit beiFrauen Tradition und wird als selbstverständlich akzeptiert. Arbeitsollte jedoch immer honoriert werden. Das Hauptproblem Europassind die 27 Millionen Arbeitslosen und 100 Millionen Erwerbslosenim besten Alter.“Gesundheitspolitik: Der erste Schritt ist getanEines muss man der scheidenden Regierung sowie Ländern und Sozialversicherungzugutehalten, im Gesundheitsbereich hat sie zuwegegebracht, was jahrelang nicht geglückt ist: eine Gesundheitsreform,die 2014 umgesetzt werden wird. Die Verantwortung ist auf Bund,Länder und Kassen verteilt, eine bewährte österreichische Lösungalso, die Stabilität im Reformprozess ermöglichen könnte. „Bei allerEuphorie über das unter schwierigen Umständen Gelungene darfman aber nicht aus den Augen verlieren, dass dies zunächst nochkeine Reform des Gesundheitswesens ist“, wendet IHS- Experte ThomasCzypionka ein. „Es handelt sich hierbei um eine Reform derSteuerung des Gesundheitswesens im engeren Sinne und beispielsweisenoch nicht um eine Änderung der Art der Leistungserbringungund/oder der gesundheitlichen Voraussetzungen in Österreich. Dasmuss mithilfe der Steuerung erst erreicht werden.“Die Gesundheitsausgaben, die zuletzt stärker als das BIP gestiegensind, sollen durch eine neue Aufgabenverteilung auf ein leistbaresMaß reduziert werden. „Ich sorge mich weniger um die <strong>Ausgabe</strong>nin den kommenden fünf Jahren, vielmehr um die Finanzierung ab2020, denn wir sind keineswegs für den demografischen Wandel gerüstet.“Eines der Reformziele ist es, mehr Patienten in die Arztpraxen zu
Coverstory„Wenn typische medizinische Leistungen, die derzeit noch unnötigerweiseim Krankenhaus erbracht werden, in den ambulanten Sektor verlagertwerden, könnten mindestens 138,3 Millionen Euro pro Jahr eingespartwerden“, errechnet der Gesundheitsökonom des IHS, Dr. ThomasCzypionka.Foto: IHSbringen, um die Spitäler zu entlasten. „In Österreich liegt die Häufigkeitvon vermeidbaren Spitalsaufnahmen pro Jahr bei den Männernbei durchschnittlich 16,2 Fällen pro 1.000 Einwohner, bei den Frauenbei 15 Fällen (am höchsten in Oberösterreich mit 19,7 bzw. 17,9 Fällen,den niedrigsten Wert hat Salzburg bei den Männern 13,9 Fällepro 1.000, bei den Frauen 13; Wien liegt an zweitbester Stelle unterden Bundesländern). Insgesamt machen diese vermeidbaren stationärenAufnahmen immerhin bei den österreichischen Männerndurchschnittlich 7,4 und bei den Frauen 7,1 Prozent aller Krankenhausaufenthalteaus (am höchsten in Kärnten mit 8,5 bzw. 8,2 Prozent;den besten Rang belegt Salzburg mit 6,1 bzw. 5,8 Prozent).Czypionka rechnet weiter: „Hätten alle Bundesländer eine Rate wiedas ,beste‘ Bundesland, so wäre das langfristige Verschiebepotenzial138,3 Millionen Euro. Bei einer Annäherung an die besten deutschenWerte würde sich gar ein Potenzial von 214,6 Millionen Euro proJahr ergeben. Insgesamt entstehen für potenziell vermeidbare Krankenhausaufenthaltein Österreich gar 519,2 Millionen Euro.“Von der nächsten Regierung ist zu fordern, die Rahmenbedingungenin Hinblick auf das Ausprobieren neuer Möglichkeiten zu erweitern.„Es sollte die Möglichkeit geben, in einer Art von Modellregionenweitgehend vom bisherigen Usus abgehen zu können. Nicht ein neuesModell auf dem Reißbrett, sondern nur Erfahrung mit Neuem kannallen Beteiligten helfen, Vorbehalte abzulegen. Auf diese Weisekönnte die Reform der Governance die weitere Gesundheitsreformin Gang bringen.“Chefanalyst Peter Brezinschek für eine Staats- und Verwaltungsreformvor, „neben einer Abschaffung des Finanzausgleichs und derEinführung einer echten Steuerhoheit der Länder nach SchweizerVorbild. Immerhin tätigen Länder und Gemeinden 32 Prozent derstaatlichen <strong>Ausgabe</strong>n, haben aber nur fünf Prozent eigene Einnahmen.“„Hochqualifizierte Beamte auf Bundes- wie Landesebene sind primärdamit beschäftigt, Kompetenzfragen zu klären oder einfach nur mitzumischen,soweit die Verantwortungen geteilt sind“, meint Öhlinger.„Ihre Anzahl zu reduzieren oder sie für produktive Leistungen freizustellen,würde Kosten sparen. Im ,Österreich Konvent‘ im Jahr2004 war von 3,5 Millionen Euro die Rede, inzwischen ist dieseSumme in manchen Stellungnahmen bereits auf 1,8 Milliarden hinaufgeschnellt.“Ein interessierter Bürger, pensionierter Bankangestellter im mittlerenManagement, hat ein ganzes Jahr lang in Banken-, Landes- und Bundesstellenrecherchiert, mit dem Ergebnis, dass jeder Österreichertäglich mit 14,81 Euro für Personal- und Sachkosten aufkommt, wasim Jahr 5.361,22 Euro für jeden einzelnen Einwohner und somit rund44,7 Milliarden Euro Verwaltungsaufwand ausmacht.Für einen neuen Anlauf in Sachen Verwaltungsreform hat sich derVorarlberger Landeshauptmann Markus Wallner eingesetzt. Er pochtauf <strong>Ausgabe</strong>ndisziplin, was er als „absolute Notwendigkeit“ bezeichnet.Durch ein „Amt der Bundesregierung“, wo Zuständigkeiten vonBundesbehörden in der betreffenden Verwaltung eingegliedert werden,ergäben sich weitere Einsparungen. Er forderte außerdem, dassdie Regelung des Mietrechts in Länderkompetenz übergehen solle.Davon verspricht sich Wallner eine „massive Vereinfachung“ undeine „Stärkung des Subsidiaritätsgedankens“. Ebenso befürwortet erein „Anti-Bürokratie-Paket“ für die Wirtschaft, um das Regelungsdickichtdurchforsten zu können und die Unternehmen von bürokratischenLasten zu befreien. „Das könnte relativ rasch geschehen“,meint Wallner, „und wäre ein wichtiges Signal.“ÜVerwaltungsreform: Die Verteilungder Kompetenzen ist neu zu regeln„Der österreichische Föderalismus hat eine lange und eine kurze Geschichte“,behauptet der Verfassungsexperte Theo Öllinger. „Zu einemBundesstaat und damit zu einem föderal organisierten Staat imklassischen Sinn wurde Österreich erst durch das Gesetz vom 1. Oktober1920, ,womit die Republik Österreich als Bundesstaat eigerichtetwird‘, wie es laut Verfassungsgesetz heißt. Die Länder, derenZusammenschluss diesen Bundesstaat bildet, haben jedoch meisteine Geschichte, die tief in das Mittelalter zurückreicht. Das unterscheidetÖsterreich etwa von der Bundesrepublik Deutschland.“In der österreichischen Verwaltung arbeiten insgesamt rund 345.000Personen, Beamte sowie Vertragsbedienstete, die im öffentlichenDienst beschäftigt sind. Der Personalstand des Bundes umfasst davonrund 132.000 Bedienstete, jener der Bundesländer rund 140.000 undjener der Gemeinden – ohne Wien – rund 74.000.„Die Auflösung vieler Doppelgleisigkeiten und Kompetenzüberlagerungenzwischen den Gebietskörperschaften“ schwebt Raiffeisen-