Humboldt-Blätter 15-2009_Aend - Humboldtianer.de
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hatten nichts auf <strong>de</strong>m Stuhle. Trotz<strong>de</strong>m<br />
verlangten sie die feinste Sei<strong>de</strong> und das<br />
prächtigste Gold, das steckten sie aber<br />
in ihre eigene Tasche und arbeiteten an<br />
<strong>de</strong>n leeren Stühlen bis spät in die Nacht<br />
hinein.<br />
Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Kaisers ehrlicher alter<br />
Minister die Klei<strong>de</strong>r lobte, obwohl er<br />
nichts sah, stimmte <strong>de</strong>r Kaiser im Bewusstsein,<br />
dass nur Dumme nichts sehen,<br />
in <strong>de</strong>n Lobgesang ein. Alle Menschen<br />
in <strong>de</strong>r Stadt sprachen von <strong>de</strong>m<br />
prächtigen Zeuge. „Es ist herrlich, niedlich,<br />
ausgezeichnet!“ ging es von Mund<br />
zu Mund.<br />
So ging <strong>de</strong>r Kaiser unter <strong>de</strong>m prächtigen<br />
Thronhimmel, und alle Menschen auf<br />
<strong>de</strong>r Straße und in <strong>de</strong>n Fenstern sprachen:<br />
„Wie sind <strong>de</strong>s Kaisers neue Klei<strong>de</strong>r<br />
unvergleichlich!“ Keiner wollte es<br />
sich merken lassen, dass er nichts sah.<br />
„Aber er hat ja gar nichts an!“ sagte<br />
endlich ein kleines Kind.<br />
Zurück in die Gegenwart. Sind nicht<br />
zahlreiche Fragen, die Wissen<strong>de</strong> von<br />
Unwissen<strong>de</strong>n unterschei<strong>de</strong>n sollen, und<br />
die Substanz von Talkrun<strong>de</strong>n und<br />
Streitgesprächen nicht aus jenem Stoff,<br />
aus welchen die Klei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Kaisers<br />
gefertigt wur<strong>de</strong>n?<br />
Wilhelm von <strong>Humboldt</strong> formuliert es<br />
mit <strong>de</strong>n Worten: „Wissen und Denken<br />
sollen immer gleichen Schritt halten.<br />
Das Wissen bleibt sonst unfruchtbar.“<br />
30<br />
Der Spiegel gibt als vierte Antwort:<br />
Herr Schuleiter, nur jener ist Abiturient<br />
weit und breit, <strong>de</strong>r mit Wissen und Denken<br />
<strong>de</strong>m Thema Be<strong>de</strong>utung verleiht.<br />
Ein neuer Versuch. Bildung bezeichnet<br />
die Formung <strong>de</strong>s Menschen im Hinblick<br />
auf sein „Menschsein“. Nach <strong>Humboldt</strong><br />
(1767 bis 1835) ist Bildung „die Anregung<br />
aller Kräfte <strong>de</strong>s Menschen, damit<br />
diese sich über die Aneignung <strong>de</strong>r Welt<br />
entfalten und zu einer sich selbst bestimmen<strong>de</strong>n<br />
Individualität und Persönlichkeit<br />
führen“.<br />
<strong>Humboldt</strong> stellte sich eine „Universitas<br />
litterarum“ vor, in <strong>de</strong>r die Einheit von<br />
Lehre und Forschung verwirklicht und<br />
eine allseitige humanistische Bildung<br />
<strong>de</strong>r Studieren<strong>de</strong>n ermöglicht wird. Dieser<br />
Gedanke erwies sich als erfolgreich,<br />
verbreitete sich weltweit und ließ in <strong>de</strong>n<br />
folgen<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rthalb Jahrhun<strong>de</strong>rten<br />
viele Universitäten gleichen Typs entstehen.<br />
Mit <strong>de</strong>r Übernahme <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>r<br />
Abteilung Kultus und Unterricht im<br />
Jahre 1808 brachte <strong>de</strong>r Bildungsreformer<br />
<strong>Humboldt</strong> zwei wesentliche Dinge<br />
zusammen. Für die Persönlichkeitsbildung<br />
verknüpfte er die allgemeine Menschenbildung<br />
und die Selbständigkeit,<br />
<strong>de</strong>n eigenen Antrieb beim Wissenserwerb.<br />
Seine Formulierung: „Das Kind<br />
hat dann ausreichend gelernt, wenn es<br />
selber zu lernen selber im Stan<strong>de</strong> ist“<br />
wur<strong>de</strong> zum pädagogischen Auftrag. Mit<br />
Forschung und Lehre stellt <strong>Humboldt</strong><br />
zwei weitere vorhan<strong>de</strong>ne Bereiche in<br />
Zusammenhang, in<strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>r Einheit