Geschlechtsdifferenzierung und ihre Abweichungen - oapen
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Andreas Hill<br />
bei 2 %, beim fünftgeborenen Sohn schon bei 6 % (Blanchard 2001). Von Seiten<br />
der kanadischen Forschergruppe, die diese Untersuchungen maßgeblich vorangetrieben<br />
hat, wird eine biologische Hypothese für diesen Bef<strong>und</strong> angeboten: Die<br />
Mutter entwickelt während der Schwangerschaft mit einem männlichen Fötus eine<br />
Immunreaktion (Antikörper) gegen dessen „fremdes“ Geschlecht, die sich mit<br />
jeder weiteren Schwangerschaft mit einem Jungen verstärkt. Diese Antikörper<br />
sollen dann eine typisch männliche, d.h. heterosexuelle Entwicklung des Fötus<br />
bzw. Jungen beeinträchtigen <strong>und</strong> z.B. zu einer Feminisierung des Gehirns führen.<br />
Allerdings konnten bisher weder eine solche spezifische Immunreaktion noch<br />
entsprechende Antikörper nachgewiesen werden. Es sind aber auch psychologische<br />
Erklärungen dieses Bef<strong>und</strong>es plausibel: So könnten Mütter, die mehrere Söhne<br />
haben, bei weiteren Söhnen ein geschlechtsrollen-atypisches, d.h. feminines<br />
Verhalten – quasi als Ersatz für eine Tochter – fördern <strong>und</strong> somit zu einer homosexuellen<br />
Entwicklung beitragen, möglicherweise kommt eine solche, die entsprechende<br />
sexuelle Orientierung fördernde Wirkung auch dem engen, brüderlichen<br />
Kontakt zu gleichgeschlechtlichen Geschwistern zu.<br />
Von kognitiv-behavioraler Seite wurde u.a. ein Lernen am Modell als mögliche<br />
Ursache für Homosexualität diskutiert. Allerdings werden Kinder, die bei homosexuellen<br />
Eltern aufwachsen, nicht häufiger homosexuell, sie zeigen aber eine höhere<br />
Toleranz gegenüber gleichgeschlechtlicher Sexualität <strong>und</strong> Partnerwahl <strong>und</strong> eine<br />
geringere Geschlechtsrollentypisierung (Stacey <strong>und</strong> Biblartz 2001, Tasker 2005,<br />
Patterson 2009). Auch werden homosexuelle Männer <strong>und</strong> Frauen nicht häufiger als<br />
<strong>ihre</strong> heterosexuellen Geschlechtsgenossen in der Kindheit oder Adoleszenz sexuell<br />
missbraucht, <strong>und</strong> es findet sich keine erhöhte Prävalenz von Homosexualität in<br />
liberaleren, toleranten Gesellschaften, wohl aber ist dort Homosexualität in der<br />
Öffentlichkeit sichtbarer. Untersuchungen des Hamburger Sexualwissenschaftlers<br />
Gunter Schmidt zeigten im Gegenteil, dass in Deutschland bei jugendlichen Männern<br />
<strong>und</strong> Frauen homosexuelles Verhalten im Laufe der letzten Jahrzehnte abgenommen<br />
hat (Schmidt <strong>und</strong> Mitarbeiter 1994). Das hängt möglicherweise damit<br />
zusammen, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Kontakte, z.B. auch als Ausprobieren<br />
<strong>und</strong> Finden der eigenen sexuellen Identität, in der Adoleszenz schwieriger<br />
geworden sind in einer Gesellschaft, in der mit einem homosexuellen Kontakt sehr<br />
viel schneller eine umfassendere schwule oder lesbische Identität verknüpft wird,<br />
die der oder die Jugendliche als Zuschreibung <strong>und</strong> Festlegung vermeiden will.<br />
3. Geschlechtsrollen-Nonkonformität bei Homosexuellen<br />
Einer der eindeutigsten <strong>und</strong> stabilsten Bef<strong>und</strong>e zur Entwicklung von sexueller<br />
Orientierung ist das geschlechtsrollen-atypische bzw. -nonkonforme Verhalten <strong>und</strong><br />
Empfinden von prä-homosexuellen Jungen <strong>und</strong> Mädchen bzw. Männern <strong>und</strong><br />
Frauen. So konnte die schon zitierte Arbeitsgruppe um den Psychoanalytiker Bieber<br />
(Bieber <strong>und</strong> Mitarbeiter 1962) in <strong>ihre</strong>r retrospektiven Untersuchung an Patienten<br />
zeigen, dass homosexuelle Männer deutlich häufiger „effeminiert“ waren als