Geschlechtsdifferenzierung und ihre Abweichungen - oapen

Begrenzte Toleranz des Rechts gegenüber individueller sexueller Identität
Die Rechtspolitik wurde mit dem Thema Intersexualität bereits Mitte der 1990er
Jahre befasst. Die erste parlamentarische Kleine Anfrage stammt aus dem Jahr
1996, die letzte aus dem Jahr 2009. 57 Rechtspolitischen Handlungsbedarf hat keine
der Bundesregierungen der 13., 14. und 16. Legislaturperiode gesehen, obwohl sie
unterschiedlich zusammengesetzt waren. 58 Eine genaue Analyse der Fragen und
Antworten wäre eine eigene Abhandlung wert. Bemerkenswert ist jedoch ein Satz
aus der letzten Antwort:
„Spezifische Aufklärungsarbeiten über die Existenz intersexueller Menschen
hält die Bundesregierung zurzeit nicht für erforderlich.“ 59
Bemerkenswert ist dies auch vor dem Hintergrund, dass die auf der Grundlage von
§§ 25 ff. AGG 60 eingerichtete Antidiskriminierungsstelle des Bundes auch „intersexuellen
Menschen offen [steht] und … von ihnen in Anspruch genommen wird“ 61
– eine Analyse dieser Fälle scheint – jedenfalls derzeit – nicht beabsichtigt. 62
IV. Voraussetzungen und Grenzen einer größeren Toleranz
Beim rechtlichen Umgang mit der sexuellen Identität Intersexueller ist die Toleranz
also immer noch begrenzt, das Thema selbst immer noch stark tabuisiert, wenn
auch etwas weniger als noch vor zehn Jahren. Hier befinden wir uns in einer Identitätsfalle
63, indem wir Identitäten immer wieder in ein Entweder-Oder pressen und
57 Kleine Anfrage der PDS vom 30. 9. 1996, „Genitalanpassungen in der Bundesrepublik Deutschland“,
BT-Drs. 13/5757, mit Antwort der Bundesregierung vom 29. 10. 1996, BT-Drs. 13/5916;
Kleine Anfrage der PDS vom 1. 3. 2001, „Intersexualität im Spannungsfeld zwischen tatsächlicher
Existenz und rechtlicher Unmöglichkeit“, BT-Drs. 14/5425 mit Antwort der Bundesregierung vom
20. 3. 2001, BT-Drs. 14/5627; Kleine Anfrage der Linken vom 5. 2. 2007, „Rechtliche Situation
Intersexueller in Deutschland“, BT-Drs. 16/4147, mit Antwort der Bundesregierung vom 14. 2. 2007,
BT-Drs. 16/4322; Kleine Anfrage der Linken vom 5. 2. 2007, „Situation Intersexueller in Deutschland“,
BT-Drs. 16/4287 mit Antwort Bundesregierung vom 22. 3. 2007, BT-Drs. 16/4786; Kleine
Anfrage der Linken vom 22. 4. 2009, „Zur Situation intersexueller Menschen in der Bundesrepublik
Deutschland – Rechtliche und statistische Aspekte“, BT-Drs. 16/12769 mit Antwort der Bundesregierung
vom 2. 6. 2009, BT-Drs. 16/13269; Kleine Anfrage der Linken vom 23. 4. 2009, „Zur Situation
intersexueller Menschen in der Bundesrepublik Deutschland – Medizinische Aspekte und die
Förderung Betroffener“, BT-Drs. 16/12770, mit Antwort der Bundesregierung vom 2. 6. 2009, BT-
Drs. 16/13270.
58 13. Legislaturperiode: Koalition aus CDU/CSU und FDP; 14. Legislaturperiode: Koalition aus
SPD und Bündnis 90/ Die Grünen; 16. Legislaturperiode: Koalition aus CDU/CSU und SPD.
59 BT-Drs. 16/13270, S. 5.
60 Oben Fn. 17.
61 BT-Drs. 16/13269, S. 2: Bis Ende März 2009 bezogen sich „zehn Fälle“ der 638 Anfragen wegen
Geschlechtsdiskriminierungen „auf Benachteiligungen wegen oder im Zusammenhang mit Intersexualität;
das entspricht 1,5 %.
62Vgl. zu den Forschungsprojekten der Antidiskriminierungsstelle
http://www.antidiskriminierungsstelle.de/ADS/root,did=132408.html (30.6.2010).
63 So der sehr treffende Titel der deutschen Übersetzung des Buches „Identity and Violence“ von
Amartya Sen: Die Identitätsfalle: Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, München: Beck, 2007.
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