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Geschlechtsdifferenzierung und ihre Abweichungen - oapen

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Tatjana Hörnle<br />

schafft. 2 Auch in den Jahren danach wurde in mehreren großen Reformgesetzen,<br />

vor allem dem 4. Strafrechtsreformgesetz vom 23. November 1973, 3 das Sexualstrafrecht<br />

geändert. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für diese Änderungen:<br />

Erstens könnte nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch beim Strafgesetzgeber<br />

eine allgemeine, zentrale Einsicht zum Umfang angemessener Verhaltenskriminalisierung<br />

gewachsen sein: die Einsicht, dass strafrechtliche Normen nicht der Bekämpfung<br />

bloßer Moralverstöße dienen sollten (mit bloßen Moralverstößen sind<br />

solche gemeint, bei denen der „Unwert“ nur mit Bezug auf moralische Verhaltenserwartungen<br />

erklärt werden kann, nicht aber mit Schäden oder der Gefahr von<br />

Schäden für andere Menschen). 4 Ein Indiz für ein Umdenken ist die Umstellung in<br />

der Gesetzessprache: Der Sexualstraftaten geltende 13. Abschnitt des StGB trägt<br />

mittlerweile die Überschrift „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ statt<br />

– wie zuvor – „Verbrechen <strong>und</strong> Vergehen wider die Sittlichkeit“. Zweitens dürfte<br />

aber auch eine maßgebliche Rolle gespielt haben, dass Verschiebungen innerhalb des<br />

Moralsystems zu verzeichnen sind. Zu verweisen ist insbesondere auf die geänderte<br />

gesellschaftliche Bewertung von Homosexualität.<br />

Sucht man in der heute geltenden Fassung des StGB nach Normen, die auf eine<br />

Unterdrückung sexuell abweichenden Verhaltens zielen, so bedarf es zunächst des<br />

Nachdenkens darüber, was mit „sexuelle Abweichung“ gemeint ist. Eine Straftat<br />

stellt immer sozial abweichendes Verhalten dar – aber steckt in einem Sexualdelikt<br />

notwendigerweise auch eine sexuelle Abweichung? Es gäbe zwei Möglichkeiten, um<br />

„sexuell abweichend“ zu definieren: entweder tatbezogen oder täterbezogen. Täterbezogen<br />

hieße, dass auf hinreichend beständige Verhaltensdispositionen des<br />

Täters abgestellt <strong>und</strong> diese persönliche Prägung als „abweichend“ eingeordnet<br />

wird. Tatbezogen ist eine Wertung als „sexuell abweichend“, wenn schon der isolierte<br />

Blick auf den konkret zu bestrafenden Sexualakt ergibt, dass dieser von anerkannten<br />

gesellschaftlichen Normen abweicht, <strong>und</strong> zwar von Normen, die Sexualverhalten<br />

betreffen. Sieht man die Dinge so, ist die Antwort für einige Tatbestände<br />

vergleichsweise einfach: So bedarf es etwa beim Missbrauch von Kindern (§ 176<br />

StGB), wenn die Tat im sexuellen Körperkontakt mit einem Kind besteht, keiner<br />

Hintergr<strong>und</strong>analyse, um eine solche Abweichung festzustellen. Solche Handlungen<br />

verstoßen eindeutig gegen gesellschaftlich anerkannte Vorgaben zu sozialverträglichem<br />

Sexualverhalten. Sie sind deshalb bei einem „Blick von außen“ ohne weiteres<br />

als „abweichend“ zu erkennen. Ähnliches gilt für die von einem Mann begangenen<br />

exhibitionistischen Handlungen (§ 183 StGB), d.h. das Vorzeigen des entblößten<br />

2 Durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25. Juni 1969, BGBl. I S. 645.<br />

3 BGBl. I S. 1725.<br />

4 S. zum Umfang zulässiger Kriminalisierung Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006,<br />

§ 2 Rn. 17 ff.

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