Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
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PERSPEKTIVEN<br />
Neben den Menschen s<strong>in</strong>d es sodann die<br />
Geschichten, diese alten Erzählungen, die bis<br />
heute das Repertoire bilden, aus dem sich<br />
me<strong>in</strong>e Assoziationen, me<strong>in</strong> Denken, me<strong>in</strong>e<br />
Sprachbilder auch formen, es s<strong>in</strong>d die alten<br />
Geschichten, die mich nicht als Gottes Wort<br />
erreicht haben, sondern als Welt-Literatur,<br />
als Erzählungen eben, die mich bewegt, verwirrt,<br />
verärgert und beruhigt haben, Erzählungen,<br />
die me<strong>in</strong>e Vorstellungen von Hass<br />
und Freundschaft, Rachsucht und Güte, E<strong>in</strong>samkeit<br />
und Verbundenheit, Verrat und<br />
Treue geprägt haben und die für alle diese<br />
Empf<strong>in</strong>dungen und Werte vor allem Bilder<br />
geschaffen haben, die nie wieder vergehen:<br />
den brennenden Dornbusch, das L<strong>in</strong>sengericht<br />
und das Schafsfell über dem Körper, die<br />
langen Haare, die nicht geschnitten werden<br />
dürfen, der Bauch des Wals natürlich, die<br />
Schrift an der Wand, und die Gabe, das zu<br />
deuten, was die Gelehrten nicht zu entziffern<br />
wissen, das Wörtchen Schibboleth, die Leiter<br />
im Traum . . .<br />
All die Bilder und Erzählungen haben<br />
sich e<strong>in</strong>geschrieben und schreiben sich fort,<br />
als ob es echte Er<strong>in</strong>nerungen an <strong>in</strong>dividuelle<br />
Erfahrungen wären, sie werden weitergereicht<br />
wie e<strong>in</strong> Laib Brot, von dem sich jeder<br />
e<strong>in</strong> Stück bricht, und die nicht aufhören,<br />
mich zu nähren. Die biblischen Figuren und<br />
ihre Erfahrungen, ihre Schicksale und auch<br />
der Rhythmus ihrer Sprache s<strong>in</strong>d mir lebendige<br />
Zeitgenossen, sie s<strong>in</strong>d weder religiöse<br />
Idole noch literarische Charaktere, sondern<br />
Familienmitglieder wie die anderen verstorbenen<br />
Urgroßtanten oder Freunde, von denen<br />
sonst erzählt wurde.<br />
Ich habe es an anderer Stelle schon e<strong>in</strong>mal<br />
beschrieben: Als ich das erste Mal <strong>in</strong> den<br />
Irak reiste, stand ich irgendwann an e<strong>in</strong>em<br />
fremden grün-schlammigen Fluss, an dem<br />
ich noch nie <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Leben gestanden hat-<br />
100<br />
Reformationsjubiläum 2017<br />
Publizist<br />
und Schriftsteller<br />
Moritz R<strong>in</strong>ke<br />
te, und fühlte mich doch, als wäre ich endlich<br />
zu Hause angekommen: Es war der Tigris.<br />
Mitten im Krieg wollte ich unbed<strong>in</strong>gt nach<br />
Mossul, ganz gleich, wie gefährlich das war:<br />
weil ich das alte Tor zur Stadt N<strong>in</strong>ive sehen<br />
wollte. Abraham war <strong>in</strong> Ur aufgebrochen auf<br />
se<strong>in</strong>e Reise, im heutigen Irak.<br />
War mir der Irak, das Land, das ich nie<br />
zuvor gesehen hatte, fremd? Fühlte ich mich<br />
als Außenseiter? Ne<strong>in</strong>.<br />
Die alten Erzählungen s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach<br />
Erzählungen, sondern sie haben me<strong>in</strong>e<br />
Fähigkeit, mich e<strong>in</strong>zufühlen, geformt. Die<br />
Schmerzen der Figuren, ihre Hoffnungen,<br />
ihre Versäumnisse, all das hat mich zunächst<br />
<strong>in</strong> ästhetischer und moralischer H<strong>in</strong>sicht<br />
ausgebildet – und dann erst <strong>in</strong> religiöser.<br />
Warum dann, ließe sich fragen, b<strong>in</strong><br />
ich aus der <strong>Kirche</strong> ausgetreten?<br />
Weil über die Jahre, über all die Reisen<br />
nach Afghanistan, Irak, Pakistan, Gaza, Haiti,<br />
Libanon, Bolivien andere Prägungen, andere<br />
Bilder und Geschichten h<strong>in</strong>zugekommen<br />
s<strong>in</strong>d. Und schließlich, be<strong>in</strong>ahe unbe-<br />
Der Schriftsteller<br />
Navid Kermani<br />
merkt, ist mir die Exklusivität, ist mir die<br />
Vorstellung von Innen und Außen abhandengekommen.<br />
Durch das Reisen ist die Vertrautheit<br />
mit anderen Geschichten, mit anderen<br />
Assoziationen und Bezügen gewachsen.<br />
So s<strong>in</strong>d die Grenzen des Eigenen und des<br />
Fremden unscharf geworden. Nicht, weil ich<br />
nicht mehr gewusst hätte, wo ich herkomme,<br />
nicht, weil mir me<strong>in</strong>e alten Bezüge verloren<br />
gegangen wären, sondern weil mir die Behauptung<br />
der eigenen Andersartigkeit, der<br />
eigenen Partikularität, so wahr sie historisch-biographisch<br />
vielleicht se<strong>in</strong> mochte, so<br />
porös und unwirklich wurde sie auf e<strong>in</strong>mal.<br />
Etwas stimmte nicht mehr, wenn mich<br />
Menschen irgendwo auf der Welt nach me<strong>in</strong>er<br />
Religion fragten. Sie verbanden damit e<strong>in</strong><br />
gewisses Set an Praktiken und Überzeugungen.<br />
Und das war nicht mehr richtig.<br />
Ob mich das immer noch <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft<br />
hält, das weiß ich nicht. Wie viel<br />
Inklusion es braucht, um nicht fe<strong>in</strong>dselig<br />
und wie viel Exklusion es braucht, um nicht<br />
beliebig zu se<strong>in</strong>, das kann ich nicht entscheiden.<br />
Aber darüber zu diskutieren, das wäre<br />
me<strong>in</strong>e erste Anregung. 1489.<br />
Mir bleiben 538 Worte, um im zweiten<br />
Teil nachzudenken über das, was ich an Luther<br />
schätze. Worauf zu beziehen ich für unverzichtbar<br />
halte, im Er<strong>in</strong>nern an die Reformation:<br />
Das ist beides: die Fähigkeit, zu<br />
zweifeln, und die Pflicht, Gründe zu nennen.<br />
2. zweifeln und Rechtfertigen<br />
Andere bewundern an Luther se<strong>in</strong>en<br />
Mut, se<strong>in</strong>e Standfestigkeit, se<strong>in</strong>e Bereitschaft,<br />
für die eigene Überzeugung e<strong>in</strong>zustehen,<br />
andere preisen diese Gewissheit, mit<br />
Fotos: Andreas Schoelzel