Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
wachsen b<strong>in</strong>, dann hat das zunächst e<strong>in</strong>mal<br />
mit ke<strong>in</strong>er Institution, mit ke<strong>in</strong>em theologischen<br />
Kanon zu tun, sondern – und ich vermute,<br />
das geht manchem so: mit Menschen.<br />
Wenn ich an das denke, was geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> mit<br />
christlichen Werten bezeichnet wird: Barmherzigkeit,<br />
Nächstenliebe, Mitgefühl, dann<br />
hat das nichts mit den Predigten zu tun, denen<br />
ich gefolgt wäre, sondern mit Menschen:<br />
me<strong>in</strong>er Mutter und me<strong>in</strong>er Großmutter. 538.<br />
Der Glaube me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit war zunächst<br />
und zuletzt gelebter Glaube dieser beiden<br />
Frauen, ke<strong>in</strong>e Lehre, ke<strong>in</strong> Bekenntnis,<br />
wenn ich an die eher stille Art me<strong>in</strong>er Mutter<br />
und die resolute me<strong>in</strong>er Großmutter denke,<br />
dann war der Glaube noch nicht e<strong>in</strong>mal besonders<br />
wortreich, sie erläuterten sich und<br />
das, was sie forderten, von sich oder uns,<br />
nicht groß, sie priesen sich schon gar nicht,<br />
vielleicht hätten sie nicht e<strong>in</strong>mal deren christliche<br />
Ursprünge zu benennen gewusst, aber<br />
sie lebten <strong>in</strong> dieser metaphysischen Gewissheit<br />
derer, die sich angenommen fühlen.<br />
Wenn ich sagen sollte, was <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />
K<strong>in</strong>dheit me<strong>in</strong>e Vorstellung der Liebe Gottes<br />
gewesen ist, so würde ich sagen, diese durch<br />
me<strong>in</strong>e Mutter h<strong>in</strong>durchsche<strong>in</strong>ende Gnade<br />
des Aufgehobense<strong>in</strong>s, der Zuversicht auch,<br />
bei allen kle<strong>in</strong>en Fehlern und Schwächen, al-<br />
1961<br />
oRThoDoxE KIRchEN TRETEN<br />
öKuMENISchEM RaT DER KIRchEN bEI<br />
Auf der dritten Vollversammlung <strong>in</strong> Neu-Delhi treten der<br />
Internationale Missionsrat und die orthodoxen <strong>Kirche</strong>n<br />
dem Ökumenischen Rat der <strong>Kirche</strong>n bei.<br />
lem Versagen und Unvermögen, dass ich<br />
trotzdem angenommen sei. Hätte me<strong>in</strong>e<br />
Mutter mich ohne Luther, ohne die tiefgreifende<br />
Verschiebung des Schuld- und Gnadenbegriffs<br />
durch die Reformation, derart<br />
frei erziehen können?<br />
Was vielleicht für me<strong>in</strong> späteres Leben<br />
noch wichtiger war: Beide, me<strong>in</strong>e Großmutter<br />
und me<strong>in</strong>e Mutter, lebten im Vertrauen,<br />
im Vertrauen auf Gott, vermute ich, auch<br />
wenn sie das beide nie gesagt haben, dieses<br />
Vertrauen übersetzte sich im Alltag <strong>in</strong> Zutrauen,<br />
weniger <strong>in</strong> sich, sondern als Zutrauen<br />
<strong>in</strong> andere Menschen, K<strong>in</strong>der, Enkel, Freunde,<br />
Im Bild v. li.: Carol<strong>in</strong><br />
Emcke, der Regisseur<br />
Jürgen Flimm, der<br />
SPD-Politiker Frank<br />
Walter Ste<strong>in</strong>meier und<br />
EKD-Synodenpräses<br />
Katr<strong>in</strong> Gör<strong>in</strong>g-Eckardt<br />
Aufmerksames Zuhören<br />
beim Forum <strong>in</strong> der<br />
St.-Elisabeth-<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong><br />
Berl<strong>in</strong>-Mitte<br />
PERSPEKTIVEN<br />
Bekannte, aber auch gänzlich Fremde, <strong>in</strong> diesem<br />
Zutrauen gab es ke<strong>in</strong> Innen oder Außen,<br />
manche der heutigen Debatten um den Islam<br />
hätte me<strong>in</strong>e Mutter schlicht nicht verstanden,<br />
weil ihr die Zugehörigkeit zur e<strong>in</strong>en Geme<strong>in</strong>schaft,<br />
weil Humanität ihr so selbstverständlich<br />
erschien, weil ihr diese Unterscheidung<br />
von „wir“ und „sie“ fremd war, von ihr habe<br />
ich e<strong>in</strong>e Form der Angstfreiheit geerbt, die<br />
Fähigkeit, anzunehmen, was nicht <strong>in</strong> unserer<br />
Hand liegt, das Unverfügbare auszuhalten,<br />
Liebe und Glaube, wie Krankheit und Tod.<br />
Seit mittlerweile 13 Jahren reise ich <strong>in</strong><br />
Kriegs- und Krisengebiete, <strong>in</strong> Landschaften<br />
aus Tod und Zerstörung, nicht, weil ich mutig<br />
wäre, wie es oftmals suggeriert wird, sondern<br />
weil ich <strong>in</strong> den meisten der Situationen, die<br />
gefährlich se<strong>in</strong> könnten, ke<strong>in</strong>e Angst verspüre.<br />
Das ist ke<strong>in</strong> Mut. Das ist e<strong>in</strong>fach nur e<strong>in</strong><br />
irrationales Gefühl des Aufgehobense<strong>in</strong>s, des<br />
tief <strong>in</strong> mir verwobenen Fadens Fesselrest, der<br />
mich hält <strong>in</strong> dem Wissen, dass es nicht an mir<br />
ist zu entscheiden, dass es Unverfügbares<br />
gibt, dass me<strong>in</strong> Leben dazugehört, und dass<br />
es gut so ist.<br />
Das ist nicht vernünftig, das ist<br />
noch nicht e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> wirklicher Gedanke.<br />
Das ist e<strong>in</strong>fach da.<br />
Reformationsjubiläum 2017 99