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Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...

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DEBATTEN<br />

Diskreditierung e<strong>in</strong>er biblisch legitimierten<br />

Lebensform – der Ehe – für ihre vornehmlichen<br />

Amtsträger; an e<strong>in</strong>em potentiell jederzeit<br />

aktivierbaren autoritären Traditionspr<strong>in</strong>zip;<br />

an der Tendenz zur sakralhierarchischen<br />

Selbstverabsolutierung – <strong>in</strong> Bezug auch auf<br />

die heutige römisch-katholische Konfessionskirche<br />

– unbeschadet alles e<strong>in</strong>drucksvollen<br />

Aggiornamentos –, nach wie vor gültig.<br />

E<strong>in</strong>en Anlass zu triumphalistischen Attitüden<br />

kann es also alle<strong>in</strong> deshalb nicht geben.<br />

Insofern sollte man das bevorstehende Reformationsjubiläum<br />

auch <strong>in</strong> deutliche Diskont<strong>in</strong>uität<br />

zu den Centenarfeiern seit 1617 stellen,<br />

<strong>in</strong> denen der Protestantismus vor allem sich<br />

selbst und se<strong>in</strong> historisches Bestehen feierte.<br />

c) Gegenläufig zu den durch Lutherrenaissance<br />

und Dialektische Theologie gleichermaßen<br />

evozierten Geltungsansprüchen<br />

e<strong>in</strong>er sogenannten „reformatorischen Theologie“<br />

gilt es grundlegend anzuerkennen,<br />

dass der Protestantismus seit dem 16. Jahrhundert<br />

fundamentale Umformungen vollzogen<br />

hat, die es als abwegig ersche<strong>in</strong>en lassen,<br />

die „Reformation“ bzw. e<strong>in</strong>zelne ihrer<br />

doktr<strong>in</strong>alen Gehalte als irreversible Normgestalt<br />

evangelischen Christentums auszuweisen.<br />

Die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er EKD-Pressemitteilung unlängst<br />

zu lesende normative Behauptung,<br />

„wirkliche Veränderung“ erwachse unserer<br />

<strong>Kirche</strong> „aus dem Glutkern der Reformation“<br />

12 , <strong>in</strong>s<strong>in</strong>uiert, dass „die Reformation“ e<strong>in</strong>e<br />

gleichsam statisch verfügbare Ressource und<br />

nicht etwa das Ergebnis unserer Konstruktionen<br />

und Aneignungen sei. Zugleich lässt sie<br />

außer Acht, dass wir die Reformation immer<br />

nur <strong>in</strong> und durch die Vermittlung e<strong>in</strong>er<br />

500-jährigen Geschichte des Protestantismus<br />

„haben“, die uns mit ihr ebenso verb<strong>in</strong>det wie<br />

von ihr trennt. Auch sollten wir uns den erheblichen<br />

und irreversiblen theologischen<br />

Differenzen zwischen uns und der Reformation<br />

stellen. Insbesondere <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

Umgang mit der Bibel s<strong>in</strong>d die Differenzen<br />

zwischen e<strong>in</strong>er historisch-kritischen Exegese<br />

und der Schriftauslegung der Reformatoren<br />

fundamental. Auch bei dem Problem „Luther<br />

und die Juden“ geht es im Kern um christologische<br />

Auslegungen des Alten Testaments,<br />

die nach neuzeitlichen exegetischen Standards<br />

obsolet s<strong>in</strong>d. Das Reformationsjubiläum<br />

<strong>zum</strong> Anlass zu nehmen, die grundlegende<br />

Bedeutung und die theologischen Konsequenzen<br />

der Differenzen zwischen den<br />

reformatorischen Schriftauslegungen und<br />

den neuzeitlichen Exegesen <strong>in</strong> aller Schärfe<br />

<strong>in</strong> den Blick zu nehmen, wäre den Schweiß<br />

der Edlen wert. Insofern gehört die herme-<br />

74<br />

Reformationsjubiläum 2017<br />

<strong>Kirche</strong>nfenster<br />

der Stadtkirche<br />

Wiesloch mit<br />

Porträts der<br />

Reformatoren<br />

Mart<strong>in</strong> Luther<br />

(1483–1546, li.)<br />

und Johannes<br />

Calv<strong>in</strong><br />

(1509–1564).<br />

neutische Frage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er historisch radikalisierten<br />

Form auf die Agenda der Theologie.<br />

d) Das religionsmonopolistische Basismodell<br />

der reformationszeitlichen Vergesellschaftung<br />

von Religion, <strong>in</strong> dem religiöse und<br />

theologische Alternativen notorisch perhorresziert,<br />

marg<strong>in</strong>alisiert und ausgegrenzt wurden,<br />

steht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em grundsätzlichen Gegensatz<br />

zu den Inkulturationsbed<strong>in</strong>gungen von<br />

Religion <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em religionstoleranten Verfassungsstaat<br />

der Moderne. Die religionsrechtlichen<br />

Errungenschaften der Neuzeit s<strong>in</strong>d<br />

nicht als unmittelbare Folge der Reformation<br />

zu identifizieren, sondern das Ergebnis e<strong>in</strong>er<br />

komplexen rechtlich-politischen Konstellation;<br />

durch den Augsburger Religionsfrieden<br />

und den Westfälischen Frieden wurde e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zigartige und im Ergebnis dauerhafte Pazifizierung<br />

des Konfessionskonfliktes im Alten<br />

Reich realsiert. Die die eigenen konfessionellen<br />

Wahrheitsansprüche zugleich sistierende<br />

und begrenzende Konzeption des<br />

frühneuzeitlichen Reichsreligionsrechts<br />

wurde von Seiten der Lutheraner ab 1555,<br />

von Seiten der Reformierten ab 1648 affirmiert,<br />

während <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>flussreichen<br />

Strang des vormodernen Katholizismus die<br />

Vorstellung leitend blieb, dass e<strong>in</strong>e Relativierung<br />

der eigenen Wahrheitsansprüche und<br />

e<strong>in</strong> Friedensarrangement mit Ketzern nicht<br />

akzeptabel seien. Das Erbe der Reformation<br />

ist ohne diese komplexen rechtlich-politischen<br />

Zusammenhänge nicht zu haben.<br />

e) Wesentliche Aspekte reformatorischer<br />

Theologie wie ihr Verständnis der Freiheit<br />

oder des Priestertums aller Gläubigen gehören<br />

zu den historisch unabgegoltenen Traditionsbeständen<br />

der Reformation. Seit der<br />

Mitte der 1520er Jahre war e<strong>in</strong> laikales Engagement<br />

<strong>in</strong>nerhalb der evangelischen <strong>Kirche</strong>nwesen<br />

be<strong>in</strong>ahe e<strong>in</strong> ausschließliches Privileg<br />

der „praecipua membra“, also der politischen<br />

Obrigkeiten. Der Protestantismus<br />

verdankt se<strong>in</strong> historisches Überleben e<strong>in</strong>er<br />

tiefgreifenden und notorischen Staatsverbundenheit.<br />

In Bezug auf die Freiheit und das<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Priestertum stellt sich das Erbe<br />

der Reformation demnach weniger als e<strong>in</strong> zu<br />

bewahrender Schatz, denn als e<strong>in</strong>e traditionspolitische<br />

Ressource dar, die unter bestimmten<br />

historischen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> Anspruch<br />

genommen wurde und die zu prüfen<br />

und zu erproben auch unserer Gegenwart<br />

aufgegeben ist.<br />

f) Im Horizont religionspolitischer und<br />

-kultureller Herausforderungen unserer Tage<br />

ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> verfremdender Rückblick auf<br />

die Reformation hilfreich. Denn er offenbart,<br />

dass es sich bei der Beschwörung e<strong>in</strong>es<br />

„christlichen Abendlandes“ gegen den Erbfe<strong>in</strong>d<br />

der Christenheit, den Türken, um e<strong>in</strong>e<br />

ideologische Chimäre der Neuzeit handelt. In<br />

der Reformationszeit hielt man den konfessionellen<br />

Gegner, ja Fe<strong>in</strong>d, für m<strong>in</strong>destens so<br />

schrecklich wie die Türken, ja man „turkisierte“<br />

sich und bezichtigte e<strong>in</strong>ander gegenseitig,<br />

heimlich mit ihm zu paktieren. Und<br />

man nutzte protestantischerseits die militärische<br />

Bedrückung Habsburgs durch die Osmanen<br />

ungeniert um religionspolitischer<br />

Vorteile willen. Me<strong>in</strong>e These „Ohne Türken<br />

ke<strong>in</strong>e Reformation!“ 13 ist reformationskonzeptionell<br />

durchaus anspruchsvoll geme<strong>in</strong>t.<br />

g) Für die von e<strong>in</strong>em Theologieprofessor<br />

<strong>in</strong>itiierte, aus der Universität hervorgegangene<br />

Reformation ist e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensiver Interakti-<br />

Foto: epd-bild / Mathias Ernert

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