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Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...

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mationsbegriffs geht <strong>in</strong> der Regel damit<br />

e<strong>in</strong>her, Gesellschaft, Kultur und <strong>Kirche</strong>nwesen<br />

des späten Mittelalters als polyvalent zu<br />

beschrieben, d. h. als e<strong>in</strong> offenes System, das<br />

vielfältige Entwicklungen ermöglichte, die<br />

dann <strong>in</strong> den unterschiedlichen „Reformationen“<br />

<strong>zum</strong> Tragen gekommen seien. Die nach<br />

wie vor außerhalb der wissenschaftlichen Reformationsforschung<br />

verbreitete, <strong>in</strong> den historiographischen<br />

Traditionen der Reformationszeit<br />

selbst verankerte Vorstellung, die Reformation<br />

gründe <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er tiefgreifenden<br />

Krise der korrupten Papstkirche, ist <strong>in</strong> dieser<br />

Form nicht mehr haltbar. Auch der trident<strong>in</strong>isch<br />

modernisierte Katholizismus ersche<strong>in</strong>t<br />

heute weniger als e<strong>in</strong>e Reaktion auf die Reformation,<br />

also als Gegenreformation, denn<br />

vielmehr als Erneuerungsbewegung, die sich<br />

aus den historischen Tiefen spätmittelalterlicher<br />

Spiritualität speiste. Im Unterschied zu<br />

den seit den 1970er Jahren vor allem <strong>in</strong> der<br />

deutschen Reformationsgeschichtsschreibung<br />

herausgearbeiteten sozialgeschichtlichen<br />

Typologisierungen diverser Reformationen<br />

– der städtischen, der bäuerlichen, der<br />

Fürsten- und ritterschaftlichen Reformationen<br />

etc.– , die <strong>in</strong> der Regel e<strong>in</strong>e historische<br />

Priorität und Prägekraft der von Luther ausgehenden<br />

Entwicklung voraussetzten, ist mit<br />

der Pluralisierung des Reformationsbegriffs<br />

im skizzierten S<strong>in</strong>ne die Tendenz verbunden,<br />

die jeweiligen „Reformationen“ als relativ autonom<br />

darzustellen, also nicht aus e<strong>in</strong>em genu<strong>in</strong><br />

mit Wittenberg verbundenen ereignisgeschichtlichen<br />

Narrativ heraus zu entfalten.<br />

In Bezug auf die Frage e<strong>in</strong>es historisch e<strong>in</strong>heitlichen<br />

Zusammenhangs „Reformation“<br />

stellt die Pluralisierung des Reformationsbegriffs<br />

<strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong>e Herausforderung dar, als<br />

ihr epochaler Charakter fragwürdig geworden<br />

ist. Dies gilt auch vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

der e<strong>in</strong>flussreichen komparatistischen Konfessionalisierungsforschung,<br />

die unter dem<br />

Gesichtspunkt der gesellschaftsgeschichtlichen<br />

Langzeitwirkungen der christlichen Re-<br />

1806<br />

UNTERGANG DEs HEiLiGEN<br />

RömiscHEN REicHEs<br />

Auf Drängen von Napoleon legt Kaiser Franz II. 1806<br />

die Reichskrone nieder, damit endet das Heilige Römische<br />

Reich Deutscher Nation.<br />

ligion <strong>in</strong> ihren drei konfessionellen Varianten<br />

erst im späteren 16. Jahrhundert auf stabile<br />

Veränderungen stieß und <strong>in</strong> ihrem maßgeblichen<br />

Repräsentanten He<strong>in</strong>z Schill<strong>in</strong>g<br />

schließlich den historiographischen „Verlust“<br />

der Reformation konstatiert hat. 7 In der Regel<br />

wird „die“ Reformation also heutigentags –<br />

<strong>zum</strong>als außerhalb der protestantischen <strong>Kirche</strong>ngeschichtsschreibung<br />

– mehrheitlich als<br />

e<strong>in</strong> zweifellos wichtiges, aber eben doch nur<br />

als e<strong>in</strong> Element <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es breiteren<br />

Zeitstreifens des Übergangs vom Spätmittelalter<br />

zur Frühen Neuzeit begriffen. Das Reformationsjubiläum<br />

wird sich demnach im<br />

Horizont e<strong>in</strong>es periodisierungskonzeptionellen<br />

Dilemmas abspielen; es setzt e<strong>in</strong>e traditionelle<br />

Epochalität, bezogen auf e<strong>in</strong> strittiges<br />

Inaugurationsdatum, den sogen. Thesenanschlag,<br />

voraus, dessen wissenschaftliche Geltung<br />

hochgradig kontrovers ist. Die Gefahr,<br />

dass die Reformation denen, die dem Protestantismus<br />

fern stehen, als e<strong>in</strong> partikularistisches<br />

Phänomen konfessionalistischer Identitätspflege<br />

ersche<strong>in</strong>t, sche<strong>in</strong>t begründet, ja<br />

von der gegenwärtigen historiographischen<br />

Situation her gerechtfertigt zu se<strong>in</strong>.<br />

Reformationsforschung –<br />

Lutherforschung<br />

2. E<strong>in</strong>e weitere Schwierigkeit mit dem<br />

„Erbe“ der Reformation ergibt sich aus der <strong>in</strong><br />

der protestantischen Theologie weith<strong>in</strong> ungeklärten<br />

methodologischen Umgangsweise<br />

mit der Reformation. Die kirchenhistorische<br />

Reformationsforschung, die die Reformation<br />

<strong>in</strong> der Breite ihrer Ersche<strong>in</strong>ungen jenseits bestimmter<br />

theologischer Präferenzen und <strong>in</strong><br />

enger Tuchfühlung mit der Geschichtswissenschaft<br />

studiert, steht weitgehend unvermittelt<br />

neben e<strong>in</strong>er sogenannten „Lutherforschung“,<br />

deren wesentliches Anliegen dar<strong>in</strong><br />

besteht, die Theologie des Reformators <strong>in</strong> ihrem<br />

Werden und <strong>in</strong> ihrem Wesen zu erfassen.<br />

Die Lutherforschung arbeitet nach wie vor <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er spätestens durch die sogenannte „Lu-<br />

DEBATTEN<br />

therrenaissance“ <strong>in</strong>stallierten methodischen<br />

Beziehung zu systematisch-theologischen,<br />

gelegentlich auch zu praktisch-theologischen<br />

Bemühungen um e<strong>in</strong>e gegenwartsbezogene<br />

Aneignung der Theologie des Reformators.<br />

Auf die historische Reformationsforschung<br />

bezieht sie sich <strong>in</strong> aller Regel nicht. Das Reformationsjubiläum<br />

konfrontiert die protestantische<br />

Theologie mit e<strong>in</strong>er dilemmatischen,<br />

bisher noch kaum h<strong>in</strong>reichend thematisierten<br />

Methodendiversität, bei der es im Kern<br />

um die konkurrierenden Geltungsansprüche<br />

dogmatischer und historischer Arbeit geht.<br />

3. Die Aufgabe geschichtswissenschaftlicher<br />

Forschung besteht wesentlich <strong>in</strong> der Differenzierung<br />

verme<strong>in</strong>tlich e<strong>in</strong>deutiger historischer<br />

Sachverhalte. Memorialkulturelle<br />

Inszenierungen h<strong>in</strong>gegen basieren auf elementarisierenden<br />

S<strong>in</strong>nkonstruktionen, die<br />

e<strong>in</strong> vergangenes Ereignis <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung<br />

für die Gegenwart aktualisieren. Über die<br />

sich daraus ergebenden Spannungen und Interessensgegensätze<br />

sollte man sich ke<strong>in</strong>en Illusionen<br />

h<strong>in</strong>geben. Im Unterschied zu anderen<br />

Zeitaltern stellt sich unsere Gegenwartskultur<br />

– nicht zuletzt vor dem H<strong>in</strong>tergrund<br />

der Reformations- und Lutherjubiläen des<br />

20. Jahrhunderts – gegenüber vollmundigen<br />

Inanspruchnahmen vergangener Sachverhalte<br />

für Gegenwarts<strong>in</strong>teressen als außerordentlich<br />

skeptisch dar. Auch die von Dorgerloh<br />

subtil lancierte Idee 8 , die deutsche E<strong>in</strong>heit als<br />

neuartigen Erfahrungshorizont des global zu<br />

begehenden Jubiläums <strong>in</strong>s Spiel zu br<strong>in</strong>gen,<br />

bleibt problematisch. Denn die Reformation<br />

begründete <strong>in</strong> Deutschland – ungeachtet alles<br />

nationalprotestantischen Deutungspathos<br />

– die Geschichte e<strong>in</strong>er konfessionell gespaltenen<br />

Nationalkultur und <strong>in</strong>augurierte bzw.<br />

forcierte e<strong>in</strong>e europäische Konfliktgeschichte<br />

welthistorischen Ausmaßes. Für e<strong>in</strong>e protestantische<br />

Theologie und <strong>Kirche</strong>, die im Zuge<br />

der Reformation gleichsam aus der Universität<br />

hervorgegangen ist und die wie ke<strong>in</strong>e an-<br />

1811<br />

TALAR ALs AmTsKLEiDUNG<br />

Der preußische König Friedrich Wilhelm III. führt den Talar<br />

als Amtskleidung e<strong>in</strong>. Bis dah<strong>in</strong> predigten manche Pfarrer<br />

im Anzug, andere im Messgewand oder Talar. Das schwarze<br />

Gewand setzt sich nach und nach auch <strong>in</strong> anderen Teilen<br />

Deutschlands durch.<br />

Reformationsjubiläum 2017 71

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