Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
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DIMENSIONEN<br />
wem gehört die Reformation?<br />
In Deutschland heißt die Reformationsdekade (noch) Lutherdekade. Diese Konzentration lässt<br />
das Calv<strong>in</strong>-Jahr 2009 <strong>zum</strong> Apéro verkommen und hat für das Zw<strong>in</strong>gli-Jubiläum 2019 ke<strong>in</strong>en Platz.<br />
Unklar ist zudem, worum es geht, wenn von „Reformation“ gesprochen wird. Von Serge fornerod<br />
Reliefs der Reformatoren Johann Calv<strong>in</strong> (li.) und<br />
Ulrich Zw<strong>in</strong>gli am weltgrößten Lutherdenkmal <strong>in</strong> Worms.<br />
2017 und 2019 . . . Mit dem Näherrücken der<br />
500-Jahr-Jubiläen wird die Frage „Wem gehört<br />
die Reformation?“ überraschend aktuell.<br />
Doch bereits das Calv<strong>in</strong>-Jubiläum 2009 hat es<br />
vor Augen geführt: Es g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie darum,<br />
den Genfer<strong>in</strong>nen und Genfern – und<br />
den frankophonen Christ<strong>in</strong>nen und Christen<br />
– e<strong>in</strong>en Teil ihrer verkannten, von Falsch<strong>in</strong>formationen,<br />
Vorurteilen und Klischees<br />
überlagerten Geschichte auf ungewohnt neue<br />
Art zu präsentieren. Wiederentdeckt haben<br />
wir bei dieser Gelegenheit auch die weltweite<br />
Ausstrahlung Calv<strong>in</strong>s und se<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss <strong>in</strong><br />
Bereichen weit über die Theologie im strikten<br />
S<strong>in</strong>n h<strong>in</strong>aus. Zahlreiche Menschen überall <strong>in</strong><br />
der Welt beriefen sich plötzlich auf Calv<strong>in</strong>.<br />
Damit wurde deutlich, dass die Reformation<br />
zuallererst e<strong>in</strong>e vielgestaltige Bewegung mit<br />
zahlreichen Schwerpunkten ist, <strong>in</strong> deren Mittelpunkt<br />
die Suche nach dem S<strong>in</strong>n des Lebens,<br />
der E<strong>in</strong>heit der <strong>Kirche</strong> und der gesellschaftlichen<br />
Wirkmacht des Evangeliums steht. Namentlich<br />
das weltweite Echo auf das Erbe Calv<strong>in</strong>s<br />
veranlasste 2009 den <strong>Kirche</strong>nbund zur<br />
Aussage: „Ohne Calv<strong>in</strong> wäre die Reformation<br />
deutsch geblieben.“<br />
24<br />
Reformationsjubiläum 2017<br />
Nun, da <strong>in</strong> Deutschland die Vorbereitungen<br />
für „Luther 2017“ <strong>in</strong> vollem Gang s<strong>in</strong>d,<br />
mag es s<strong>in</strong>nvoll se<strong>in</strong>, sich ernsthaft mit der<br />
e<strong>in</strong>gangs gestellten Frage zu befassen – nicht<br />
zuletzt mit Blick auf den 2019 zu feiernden<br />
Beg<strong>in</strong>n von Zw<strong>in</strong>glis Wirken vor 500 Jahren.<br />
Wenn wir beobachten, wie die Verantwortlichen<br />
<strong>in</strong> Deutschland 2017 planen, fallen zwei<br />
e<strong>in</strong>ander widerstrebende Tendenzen auf: Die<br />
e<strong>in</strong>e will alles auf Luther und se<strong>in</strong>e Person<br />
zentrieren. 2017 wird <strong>zum</strong> Höhepunkt e<strong>in</strong>er<br />
Lutherdekade, wor<strong>in</strong> das Calv<strong>in</strong>-Jahr im besten<br />
Fall den Apéro bildet und das Zw<strong>in</strong>gli-<br />
Jubiläum 2019 ke<strong>in</strong>en Platz mehr f<strong>in</strong>det. Als<br />
würde 2017 die Zeit stillstehen. Die weltweite<br />
Dimension kommt nur 2016 <strong>zum</strong> Zug; die<br />
ursprünglich für 2013 vorgesehene ökumenische<br />
Dimension ist aus der Planung verschwunden<br />
und hat e<strong>in</strong>em Jahr der Toleranz<br />
Platz gemacht.<br />
Die andere Tendenz fokussiert auf die von<br />
Luther aktualisierte befreiende Botschaft und<br />
deren S<strong>in</strong>n, den es für die <strong>Kirche</strong> von heute<br />
neu zu entdecken gilt; sie r<strong>in</strong>gt aber auch um<br />
e<strong>in</strong> mehrwertiges, <strong>in</strong>ternationales und poly-<br />
zentrisches Verständnis der Reformation.<br />
Doch trotz all diesen Anstrengungen und Versprechungen<br />
der Vertreter der <strong>Evangelische</strong>n<br />
<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> Deutschland (EKD) h<strong>in</strong>sichtlich e<strong>in</strong>er<br />
„Reformationsdekade“ figurieren „Luther<br />
2017“ und „Lutherdekade“ nach wie vor als<br />
offizielle Bezeichnungen. In den nächsten Monaten<br />
sollte deutlicher werden, was die deutschen<br />
Veranstalter, <strong>Kirche</strong>n und Staat, tatsächlich<br />
geme<strong>in</strong>sam feiern wollen und wie die<br />
übrigen aus der Reformation hervorgegangenen<br />
<strong>Kirche</strong>n dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Platz f<strong>in</strong>den werden.<br />
was ist die Reformation?<br />
Diese Situation wirft e<strong>in</strong> Schlaglicht auf<br />
die mangelnde Klarheit, wenn es um das Verständnis<br />
des Begriffs «Reformation» damals<br />
und heute geht. Für die e<strong>in</strong>en: alle<strong>in</strong> die Figur<br />
Luther. Für die anderen: e<strong>in</strong> Prozess mit immenser<br />
Auswirkung auf das Denken, die Kultur<br />
und die Geschichte Europas. Für die Katholiken:<br />
e<strong>in</strong> Drama und e<strong>in</strong>e noch immer<br />
nicht verwundene Spaltung. Für die Protestanten:<br />
der Anfang e<strong>in</strong>er langen Reihe von<br />
Spaltungen <strong>in</strong> konfessionelle Unterabteilungen.<br />
Aber auch der Anfang e<strong>in</strong>er eigenen <strong>in</strong>stitutionellen<br />
und theologischen Existenz,<br />
die dem protestantischen Selbstverständnis<br />
nach Gott alle<strong>in</strong> Rechenschaft schuldig ist.<br />
Gerne aber überspr<strong>in</strong>gen die Protestanten<br />
leichten Fußes fünfzehn Jahrhunderte christlicher<br />
Geschichte und Traditionen.<br />
Ganz klassisch formuliert ist die evangelische<br />
<strong>Kirche</strong> „die katholische <strong>Kirche</strong>, die<br />
durch die Reformation h<strong>in</strong>durchgegangen<br />
ist“. Aber sie ist vor allem „nicht katholisch“<br />
oder genauer „nicht römisch“. Unter Ausblendung<br />
der geschichtlichen Realität stehen<br />
zwei statische <strong>in</strong>stitutionelle Sichtweisen e<strong>in</strong>ander<br />
gegenüber. Die Protestanten ignorieren<br />
die Kont<strong>in</strong>uität zwischen dem, was Luther,<br />
Zw<strong>in</strong>gli oder Calv<strong>in</strong> im ausgehenden Mittelalter,<br />
aus dem sie hervorgegangen s<strong>in</strong>d,<br />
schrei ben und denken konnten. Sie ignorieren<br />
aber auch die Kont<strong>in</strong>uität der Reformatoren,<br />
auf die sie sich berufen, mit anderen erfolgreichen<br />
oder gescheiterten Reformbestrebungen<br />
<strong>in</strong>nerhalb der katholischen <strong>Kirche</strong><br />
Fotos: S. 24: epd-bild / Andrea, S. 25: epd-bild / Norbert Neetz