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Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...

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aus Frankreich geflohen, der wohl wichtigste<br />

frühe Systematiker des Zivilrechts), der Jurist<br />

Friedrich Justus Thibaut (1772–1840, dessen<br />

Vater aus e<strong>in</strong>er hugenottischen Flüchtl<strong>in</strong>gsfamilie<br />

stammte), der Historiker Friedrich<br />

Christoph Schlosser (1776–1861, der se<strong>in</strong>e<br />

akademische Laufbahn mit e<strong>in</strong>em Theologiestudium<br />

begann und sogar kurze Zeit Kandidat<br />

für das Predigeramt war), der Theologe<br />

Zacharias Urs<strong>in</strong>us (1534–1583, Hauptverfasser<br />

des Heidelberger Katechismus), Thomas<br />

Erastus (1524–1583, zwar e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>professor,<br />

aber <strong>in</strong> die illustre Schar nicht aufgenommen,<br />

weil er als Mediz<strong>in</strong>professor Besonderes<br />

geleistet hat, sondern weil der Leibarzt Kurfürst<br />

Friedrichs des Frommen als Laientheologe<br />

und Mitglied des <strong>Kirche</strong>nrats führend<br />

am Übergang der Kurpfalz <strong>zum</strong> reformierten<br />

Protestantismus beteiligt war).<br />

Der Blick auf das Stirnbild der Alten Aula<br />

zeigt e<strong>in</strong> erstaunliches protestantisches Übergewicht<br />

unter den dargestellten Gelehrten der<br />

Universität Heidelberg. Das ist zuerst e<strong>in</strong>mal<br />

daraus zu erklären, dass das Großherzogtum<br />

Baden im 19. Jahrhundert mit der Universität<br />

Heidelberg über e<strong>in</strong>e protestantisch orientierte<br />

und mit der Universität Freiburg i. Br. über<br />

e<strong>in</strong>e katholisch orientierte Universität und<br />

den jeweils entsprechend ausgerichteten<br />

Theologischen Fakultäten verfügte. Sodann<br />

kommt <strong>in</strong> der Darstellung von 1886 die protestantische<br />

Leitkultur des preußisch dom<strong>in</strong>ierten<br />

Kaiserreichs von 1870 <strong>zum</strong> Ausdruck;<br />

auch sichtbar an der vorangetragenen<br />

schwarz-weiß-roten Reichsfahne. Neben dem<br />

protestantischen Übergewicht fällt die Dom<strong>in</strong>anz<br />

der Geisteswissenschaften <strong>in</strong> der Darstellung<br />

auf. Die beiden Vertreter der Naturwissenschaften<br />

s<strong>in</strong>d gleichsam nur im<br />

H<strong>in</strong>tergrund zu sehen. Diese beiden Beobachtungen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> besonderem Maße aussagekräftig,<br />

wenn man sie mit der gegenwärtigen<br />

universitären Hagiographie vergleicht. Man<br />

kann das auf dem Treppenaufgang zur Alten<br />

Aula der Universität beobachten. Hier s<strong>in</strong>d<br />

Fotographien der Nobelpreisträger, die die<br />

Universität Heidelberg „hervorgebracht“ hat,<br />

zu sehen. Und diese zeigen nun alles andere<br />

als die Dom<strong>in</strong>anz der Geisteswissenschaften<br />

oder auch protestantischer Orientierung. Im<br />

Gegenteil, es s<strong>in</strong>d hier ausschließlich Naturwissenschaftler<br />

bzw. Mediz<strong>in</strong>er zu f<strong>in</strong>den.<br />

Selbstverständlich hat der <strong>Kirche</strong>nhistoriker<br />

als Geisteswissenschaftler dies nicht mit<br />

der ebenso larmoyanten wie falschen Bemerkung<br />

zu kommentieren, dass früher alles besser<br />

war. Vielmehr hat er zu deuten, was hier<br />

an augenfälligen Veränderungen <strong>zum</strong> Ausdruck<br />

kommt – auch welche Konsequenzen<br />

das für die Erforschung bzw. das Studium der<br />

Reformationsgeschichte hat. Zwei ganz gegensätzliche<br />

Folgerungen zu ziehen, wäre<br />

möglich: Zum e<strong>in</strong>en könnte man angesichts<br />

der tiefgreifenden Veränderungen und e<strong>in</strong>es<br />

damit verbundenen Bedeutungsverlusts zu<br />

dem Schluss kommen, dass es eben nicht<br />

mehr angemessen ist, die Erforschung der<br />

Reformationsgeschichte <strong>in</strong> dem bisherigen<br />

Umfang an den Universitäten zu betreiben<br />

bzw. zu f<strong>in</strong>anzieren (und es sich eben nicht<br />

mehr lohnt, dem se<strong>in</strong>e Lebensenergie zu widmen).<br />

Man kann aber auch die genau entgegengesetzte<br />

Folgerung ziehen. Gerade angesichts<br />

des rapiden Wandels sei es umso wichtiger,<br />

die Bedeutung der Reformation bzw.<br />

der Konfessionen für <strong>Kirche</strong> und Gesellschaft<br />

zu erforschen. Denn selbst den Eliten im<br />

Land s<strong>in</strong>d heute vielfach die Unterschiede<br />

zwischen lutherischer, reformierter und römisch-katholischer<br />

Konfession nicht mehr<br />

klar, e<strong>in</strong>fach weil sie <strong>in</strong> ihrer Lebenswelt nur<br />

mehr e<strong>in</strong>e marg<strong>in</strong>ale Rolle spielen. Man versteht<br />

aber die Vergangenheit bzw. das Werden<br />

unserer Kultur nicht ohne die Kenntnis<br />

der Reformation oder der Eigenart der Konfessionen,<br />

wie das Stirnbild der Alten Aula<br />

uns e<strong>in</strong>drücklich vor Augen stellt. Es sei nur<br />

darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass man <strong>zum</strong> Beispiel<br />

1871<br />

KRöNUNG DEs DEUTscHEN KAisERs<br />

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg,<br />

der unter der Parole „Für Gott und das<br />

Vaterland“ geführt wurde, wird Wilhelm I.<br />

<strong>in</strong> Versailles <strong>zum</strong> deutschen<br />

Kaiser gekrönt.<br />

DEBATTEN<br />

das für die westliche Rechtsentwicklung elementar<br />

wichtige Zivilrechtssystem des reformierten<br />

Glaubensflüchtl<strong>in</strong>gs Hugo Donellus<br />

nicht angemessen verstehen kann, ohne die<br />

hier wirksam gewordenen weltanschaulichkonfessionellen<br />

Grundentscheidungen herauszuarbeiten.<br />

Zugleich besteht aber <strong>in</strong> der<br />

gegenwärtigen Forschung ke<strong>in</strong>eswegs E<strong>in</strong>igkeit<br />

über die spezifischen Kulturwirkungen<br />

der Reformation bzw. der lutherischen oder<br />

reformierten Konfession im Vergleich zu denen<br />

der römisch-katholischen. Ja, die Frage<br />

ist, ob es überhaupt spezifische Kulturwirkungen<br />

der e<strong>in</strong>zelnen Konfessionen gibt.<br />

Hier besteht erheblicher Klärungsbedarf und<br />

hier werden <strong>in</strong> den kommenden Jahren kontroverse<br />

Debatten auszutragen se<strong>in</strong>.<br />

2. Zur Auflösung und Verwandlung<br />

traditioneller Kontroversen<br />

Manche Kontroversen um die Reformation<br />

haben sich <strong>in</strong> den letzten Jahrzehnten<br />

deutlich gewandelt. Dazu gehört <strong>in</strong>sbesondere<br />

auch die polemisch geführte Debatte um<br />

Luther als Zerstörer oder Erneuerer der<br />

Christenheit, welche die Diskussionen evangelischer<br />

und katholischer <strong>Kirche</strong>nhistoriker<br />

jahrhundertelang prägte. Nach dem Vorgang<br />

Joseph Lortz’ haben seit den sechziger Jahren<br />

mehrere katholische <strong>Kirche</strong>nhistoriker profilierte<br />

Beiträge zur Luther-Interpretation vorgelegt,<br />

<strong>in</strong>sbesondere Erw<strong>in</strong> Iserloh und Otto<br />

Hermann Pesch. Luthers theologische Anliegen<br />

wurden hier <strong>in</strong>sofern gewürdigt, als sie <strong>in</strong><br />

den Kontext spätmittelalterlicher Reformbemühungen<br />

gestellt wurden. Sie haben damit<br />

die weitere Erforschung der Wurzeln und des<br />

Profils der Theologie Luthers erheblich stimuliert,<br />

und umso bedauerlicher ist es, dass<br />

dieser Strom der katholischen Lutherforschung<br />

<strong>in</strong> der Gegenwart zu versiegen droht.<br />

So ist es gegenwärtig der Seebaß-Schüler Volker<br />

Lepp<strong>in</strong>, der – im Anschluß an Heiko A.<br />

Oberman und Berndt Hamm – am profilier-<br />

Reformationsjubiläum 2017 79

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