Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
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POSITIONEN<br />
e<strong>in</strong>seitig ihre modernitätskritischen Züge herauszustellen.<br />
Die Moderne hat gern das um<br />
se<strong>in</strong>e Dialektik verkürzte Freiheitspathos der<br />
Reformation rezipiert, die antimodernen Bewegungen<br />
<strong>in</strong> der Moderne dagegen die pessimistischen<br />
Züge der reformatorischen Anthropologie<br />
und ihr Reden von Sünde wie<br />
Schuld herausgestrichen. In beiden Fällen<br />
wird das reformatorische Christentum vollkommen<br />
e<strong>in</strong>seitig an bestimmte bildungsbürgerliche<br />
Schichten der bürgerlichen Gesellschaft<br />
oder gar bestimmte Tendenzen <strong>in</strong><br />
solchen Schichten gekoppelt und dem landläufigen<br />
Bild e<strong>in</strong>er erdenschweren, wenig<br />
fröhlichen, über<strong>in</strong>tellektuellen zentraleuropäischen<br />
Spielart des Christentums ohne Not<br />
Vorschub geleistet. Es kommt viel darauf an,<br />
die Reformation als das zu präsentieren, als<br />
was sie sich selbst sah: Als e<strong>in</strong>en legitimen<br />
Teil der e<strong>in</strong>en katholischen <strong>Kirche</strong>, die wir im<br />
Glaubensbekenntnis jeden Sonntag nennen.<br />
Die reformatorische <strong>Kirche</strong> ist ke<strong>in</strong>e Gründung<br />
des frühen sechzehnten Jahrhunderts,<br />
die nun ihren fünfhundertsten Geburtstag zu<br />
feiern hätte, sondern e<strong>in</strong>e legitime Interpretation<br />
der e<strong>in</strong>en heiligen <strong>Kirche</strong>, die ihren<br />
Geburtstag auf e<strong>in</strong> Pf<strong>in</strong>gstereignis <strong>in</strong> Jerusalem<br />
zurückführt, die „katholische <strong>Kirche</strong>, die<br />
durch die Reformation gegangen ist“. Kurz<br />
gefasst: Die Reformation gehört weder <strong>in</strong>s<br />
späte Mittelalter noch bruchlos <strong>in</strong> die Neuzeit,<br />
sie steht „zwischen den Zeiten“ und<br />
kann <strong>in</strong>sofern auch „moderner als die Moderne“<br />
genannt werden, weil sie sich nicht <strong>in</strong><br />
der Moderne der Neuzeit erschöpft.<br />
Zweite Frage: Was wollen wir<br />
fünfhundert Jahre später feiern?<br />
8. Wir sollen feiern ke<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Schuldbekenntnis<br />
für die Spaltung der abendländischen<br />
<strong>Kirche</strong>, aber auch ke<strong>in</strong>e Verklärung<br />
dieser <strong>Kirche</strong>nspaltung . . .<br />
Die immer wieder von Amtsträgern der<br />
römisch-katholischen <strong>Kirche</strong> erhobene Forderung,<br />
das Reformationsjubiläum vor allem<br />
als Schuldbekenntnis für die abendländische<br />
<strong>Kirche</strong>nspaltung zu begehen, ist schon deswegen<br />
problematisch, weil sie im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>er päpstlichen Verfallstheorie der Theologie<br />
steht: Wenn der Protestantismus die religiöse<br />
Inkarnation des schädlichen neuzeitlichen<br />
Individualisierungsprozesses auf Kosten<br />
der Geme<strong>in</strong>schaft ist, träfe die Schuld an<br />
der abendländischen <strong>Kirche</strong>nspaltung, die<br />
von Benedikt XVI. als Individualisierung der<br />
evangelischen Theologie wie <strong>Kirche</strong> beschrieben<br />
wird, im Kern vor allem e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige<br />
Seite. Entsprechend gibt es römisch-<br />
62<br />
Reformationsjubiläum 2017<br />
katholische Tendenzen, im Vorfeld von 2017<br />
das „Pluriversum“ reformatorischer Geme<strong>in</strong>schaften<br />
(Przywara) und die Diskont<strong>in</strong>uitäten<br />
zu Gestalt wie Theologie der vorreformatorischen<br />
<strong>Kirche</strong> zu betonen; dem ist<br />
begründet entgegenzutreten. Schließlich haben<br />
die Dogmatisierungsprozesse der römisch-katholischen<br />
<strong>Kirche</strong> seit dem Konzil<br />
von Trient und dem ersten Vatikanischen<br />
Konzil samt den Dogmen des neunzehnten<br />
und zwanzigsten Jahrhunderts die Spaltung<br />
m<strong>in</strong>destens genauso vertieft und markieren<br />
Differenzen zur vorreformatorischen e<strong>in</strong>en<br />
<strong>Kirche</strong> der Christenheit. Es kann aber im<br />
Gegenzug auch nicht darum gehen, die<br />
abendländische <strong>Kirche</strong>nspaltung, „e<strong>in</strong> Ause<strong>in</strong>andertreten<br />
der westlichen <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />
Mehrzahl Widerspruch und Geme<strong>in</strong>samkeiten<br />
verb<strong>in</strong>dender Konfessionen“ ausschließlich<br />
positiv zu werten oder gar zu verklären<br />
als „religiös-kulturelle Differenzierung und<br />
Pluralisierung“ (Perspektiven des Wissenschaftlichen<br />
Beirates, Nr. O3). Dagegen stehen<br />
schon die vielfältigen Probleme konfessionsverb<strong>in</strong>dender<br />
Paare und Familien mit<br />
den Verhältnissen. Es geht also um e<strong>in</strong> nüchternes,<br />
ehrliches Bekennen von Schuld, aber<br />
auch um e<strong>in</strong> dankbares Bekenntnis zur Freiheit,<br />
die der <strong>Kirche</strong> durch die Reformation<br />
geschenkt worden ist.<br />
9. . . .e<strong>in</strong> Reformationsjubiläum nach fast<br />
hundert Jahren ökumenischer Bewegung . . .<br />
Zunächst e<strong>in</strong>mal kann man nach fast hundert<br />
Jahren ökumenischer Bewegung das Reformationsjubiläum<br />
nicht mehr nur deutsch,<br />
gleichsam im Dreieck Genf-Zürich-Wittenberg<br />
feiern. Wie weltweit lutherischer und reformierter<br />
Glaube formuliert wird, welche<br />
spezifischen Akzente Christenmenschen aus<br />
anderen Erdteilen bei ihren Beschreibungen<br />
des Reformatorischen der Reformation setzen,<br />
muss uns <strong>in</strong>teressieren – so, wie es <strong>in</strong> den<br />
Thesen der „Projektgruppe Reformationsjubiläum“<br />
der Bundesregierung heißt:<br />
„Deutschland lädt die Welt e<strong>in</strong>, das Reformationsjubiläum<br />
2017 <strong>in</strong> unserem Land geme<strong>in</strong>sam<br />
zu begehen“ (Nr. 9). Aber es muss beim<br />
Reformationsjubiläum auch deutlich werden,<br />
dass wir im Kontext e<strong>in</strong>er weltweiten Ökumene<br />
feiern: Dankbar für erreichte Fortschritte<br />
beispielsweise im geme<strong>in</strong>samen Verständnis<br />
der Rechtfertigungslehre, aber auch klar <strong>in</strong> der<br />
Beschreibung der verbliebenen, schmerzhaften<br />
Differenzen. Die Reformation <strong>in</strong>tendierte<br />
e<strong>in</strong>e gesamtkirchliche Reformation, und dieses<br />
Anliegen darf nach fünfhundert Jahren ungeachtet<br />
des se<strong>in</strong>erzeitigen Scheiterns nicht<br />
e<strong>in</strong>fach als teilkirchliche Selbstbeschränkung<br />
reformuliert werden. Insofern wäre es wünschenswert,<br />
nach Mitfeiernden auch unter den<br />
römisch-katholischen Christen zu suchen,<br />
selbst wenn deren <strong>Kirche</strong>nleitungen nicht<br />
wirklich mitfeiern wollen. Schließlich sollte<br />
bei den Reformations-Feiern auch deutlich<br />
werden, dass wir das erste große Reformationsjubiläum<br />
nach der Leuenberger Konkordie<br />
feiern, das heißt nach der Überw<strong>in</strong>dung der<br />
kirchentrennenden Wirkung <strong>in</strong>nerprotestantischer<br />
Lehrdifferenzen vor rund vierzig Jahren.<br />
Diese Konkordie sollte daher auch nicht<br />
zu schnell als Modell für e<strong>in</strong>e weitere Ökumene<br />
preisgegeben werden.<br />
10. . . .nach der Erfahrung des Holocaust . . .<br />
Genauso kann man das Jubiläum der Reformation<br />
nicht feiern, ohne wahrzunehmen,<br />
welche Anteile die Theologie e<strong>in</strong>zelner Reformatoren,<br />
<strong>in</strong>sbesondere Mart<strong>in</strong> Luthers an der<br />
weitgehenden Vernichtung des europäischen<br />
Judentums im zwanzigsten Jahrhundert und<br />
ihrer schon genug dramatischen Vorgeschichte<br />
hatte. Die seit 1945 erreichten theologischen<br />
Klärungen im Verhältnis <strong>zum</strong> Judentum,<br />
wie sie beispielhaft <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>schlägigen<br />
Passagen der Grundordnungen der<br />
Gliedkirchen der EKD festgehalten s<strong>in</strong>d,<br />
müssen als e<strong>in</strong> genu<strong>in</strong>er Teil unserer zeitgenössischen<br />
Interpretation reformatorischer<br />
Theologie begriffen und als solcher expliziert<br />
werden. Auch hier muss wieder deutlich werden,<br />
dass die Feier e<strong>in</strong>es Reformationsjubiläums<br />
nicht <strong>in</strong> der re<strong>in</strong>en unkritischen Wiederholung<br />
bestimmter reformatorischer Formeln<br />
(und nachreformatorischer Formeln<br />
über die Reformation) bestehen kann und<br />
erst recht nicht <strong>in</strong> der Wiederholung der<br />
Sichtweisen der Reformation auf „Papisten“,<br />
„Türken“ und „Schwärmer“.<br />
11. . . . e<strong>in</strong> Reformationsjubiläum ohne<br />
Angst . . .<br />
Reformatorischer Glaube führt auf fröhliche<br />
und freie Gewissheit der Glaubenden.<br />
Angesichts ungeheurer Ungewissheiten für<br />
e<strong>in</strong>zelne Individuen wie ganze Gesellschaften<br />
<strong>in</strong> verunsichernden Zeiten ist dies sowohl<br />
Chance wie Problem e<strong>in</strong>er jeden Darstellung<br />
des Reformatorischen an der Reformation:<br />
Ist evangelische Verkündigung so erlebbar,<br />
dass sie Menschen ent-ängstigt, aufrichtet,<br />
tröstet und befreit? Sie zu dankbarem Dienst<br />
an den Nächsten und der Gesellschaft beflügelt?<br />
Ist es möglich, den Hunger nach Spiritualität,<br />
nach Sicherheit und auch nach Gott<br />
auf diese Erfahrungen zu beziehen? Weil die<br />
reformatorische Botschaft Menschen im<br />
tiefsten Kern ihres Wesens frei und fröhlich