Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...
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DEBATTEN<br />
Italien geflohen und unter anderem über Tüb<strong>in</strong>gen<br />
und Heidelberg nach Oxford gelangt,<br />
wo er bis zu se<strong>in</strong>em Tod 1608 als Regius Professor<br />
for Civil Law tätig war. Gentilis Aufforderung<br />
„Silete theologi <strong>in</strong> munere alieno!“ ist<br />
<strong>in</strong> der Frühen Neuzeit ganz ungewöhnlich. In<br />
ihr kam e<strong>in</strong>e für die Entwicklung des Völkerrechts<br />
elementare Grundentscheidung <strong>zum</strong><br />
Ausdruck: Der von den Theologen getragene<br />
Streit religiös-unbed<strong>in</strong>gter Wahrheitsansprüche<br />
sollte durch von Juristen zu def<strong>in</strong>ierende<br />
Regeln e<strong>in</strong>gegrenzt bzw. entschärft werden.<br />
Man kann hier bei aller Vorsicht im Umgang<br />
mit dem schillernden Begriff von e<strong>in</strong>er säkularisierenden<br />
Dimension sprechen, <strong>in</strong>sofern<br />
als das menschliche Zusammenleben von der<br />
Konfliktträchtigkeit religiös-unbed<strong>in</strong>gter<br />
Wahrheitsansprüche entlastet werden sollte.<br />
Bezeichnend ist nun, dass der Satz e<strong>in</strong>en<br />
offensichtlichen konfessionellen H<strong>in</strong>tergrund<br />
hat. Denn Gentili hat sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en juristischen<br />
Schriften vielfach auf reformierte Theologen<br />
wie Johannes Calv<strong>in</strong>, Theodor Beza<br />
oder Petrus Martyr Vermigli bezogen. Er bezeichnet<br />
sie ausdrücklich als „nostri theologi“.<br />
Zudem hat Gentili den Satz <strong>in</strong> der im Jahr<br />
1601 gedruckten Schrift „Disputationum de<br />
nuptiis libri VII“ mit grundsätzlichen Erläuterungen<br />
zur Bibelauslegung begründet. In<br />
diesem Werk wird auf immerh<strong>in</strong> 800 Seiten<br />
ausgeführt, dass selbst im Eherecht das kanonische<br />
Recht konsequent durch das römische<br />
zu ersetzen sei. Gentili entfaltet hier die Theorie,<br />
dass die Theologen für die Auslegung der<br />
ersten Tafel des Dekalogs, also die Gebote, die<br />
das Gottesverhältnis betreffen, zuständig<br />
s<strong>in</strong>d, und die Juristen für die Auslegung der<br />
zweiten Tafel, also der Gebote, die das Zusammenleben<br />
der Menschen regeln, von dem Gebot,<br />
die Eltern zu ehren, bis h<strong>in</strong> zu dem Verbot,<br />
falsches Zeugnis zu reden. Zwar hätten<br />
die Theologen auch im Blick auf die zweite Tafel<br />
etwas zu sagen, aber e<strong>in</strong>e Autorität über die<br />
Juristen komme ihnen hier nicht zu.<br />
Denn diese verfügten über e<strong>in</strong>e spezifische<br />
Auslegungskompetenz wie <strong>zum</strong> Beispiel<br />
die Fähigkeit, die unterschiedlichen Formen<br />
von Diebstahl zu unterscheiden. Zu beachten<br />
ist, dass Gentili auch das zwischenmenschliche<br />
Recht und die Arbeit der Juristen an das<br />
Wort Gottes gebunden sieht. Insofern kann<br />
man nicht von Säkularisierung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />
Auflösung religiöser B<strong>in</strong>dungen sprechen.<br />
Gleichwohl wird der Eigenlogik juristischer<br />
Argumentation mehr Gewicht e<strong>in</strong>geräumt.<br />
Das zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass Gentili den Satz „Silete<br />
theologi <strong>in</strong> munere alieno!“ zur Veran-<br />
82<br />
Reformationsjubiläum 2017<br />
schaulichung se<strong>in</strong>er Zielsetzung, den Konflikt<br />
religiös-unbed<strong>in</strong>gter Wahrheitsansprüche<br />
völkerrechtlich zu begrenzen, heranzieht.<br />
Insbesondere zwei spezifisch reformatorische<br />
Grundentscheidungen werden hier<br />
wirksam. Zum e<strong>in</strong>en ist die signifikante Aufwertung<br />
der weltlichen Obrigkeit im Zuge<br />
der Unterscheidung der beiden Reiche oder<br />
Regimente gegenüber jeder geistlichen, <strong>in</strong>sbesondere<br />
päpstlichen, Bevormundung mit<br />
der Hochschätzung des zivilen Rechts verbunden.<br />
Zum anderen bedeutet Luthers<br />
Grundsatz des Priestertums aller Getauften,<br />
dass jeder, der aus der Taufe gekrochen ist,<br />
durch das Wirken des Heiligen Geistes auch<br />
die wesentlichen Inhalte der Bibel verstehen<br />
kann. „Dan was ausz der tauff krochen ist,<br />
das mag sich rumen, das es schon priester, Bischoff<br />
und Bapst geweyhet sey, […]“. Damit<br />
s<strong>in</strong>d die Nichttheologen bzw. Nichtkleriker<br />
<strong>in</strong> ihrer Bibelauslegungskompetenz erheblich<br />
aufgewertet. Im reformierten Protestantismus<br />
wirkt sich das tendenziell wohl noch<br />
stärker als im lutherischen aus. Im Unterschied<br />
zur lutherischen Reformation, wo das<br />
von Theologen wahrgenommene Predigtamt<br />
(wieder) im Zentrum stand, bildete sich im<br />
calv<strong>in</strong>isch-reformierten Protestantismus e<strong>in</strong>e<br />
Ämtervielfalt heraus, <strong>in</strong> der die Ältesten<br />
und Diakone den Pastoren relativ gleichwertig<br />
gegenüberstanden. Für e<strong>in</strong>en konfessionellen<br />
H<strong>in</strong>tergrund des <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit<br />
auffälligen Satzes Alberico Gentilis<br />
spricht e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Beobachtung. Beispiele<br />
solch selbstbewusster Bibelauslegung<br />
durch Juristen, auch im Konflikt mit den<br />
Theologen, lassen sich ebenso bei anderen reformierten<br />
Juristen wie Johannes Althusius<br />
feststellen, nicht jedoch, soweit ich sehe, im<br />
Bereich des lutherischen Protestantismus<br />
oder des trident<strong>in</strong>ischen Katholizismus.<br />
Muss man nun aus dem Gesagten schließen,<br />
dass reformatorische oder reformierte<br />
Grundentscheidungen e<strong>in</strong>en wesentlichen<br />
Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts geleistet<br />
haben, <strong>zum</strong>al ja auch der vielfach als<br />
Begründer des Völkerrechts bezeichnete Hugo<br />
Grotius e<strong>in</strong>em reformierten Milieu entstammt<br />
und früh als Autor theologischer<br />
Werke hervorgetreten ist?<br />
Dagegen spricht der Sachverhalt, dass andere<br />
reformierte Theologen und Juristen zwar<br />
die Aufwertung des Zivilrechts auf Kosten des<br />
kanonischen Rechts mitvollzogen haben,<br />
nicht jedoch die völkerrechtliche E<strong>in</strong>grenzung<br />
konfessioneller Wahrheitsansprüche.<br />
Zudem hat der französische Jurist Jean Bod<strong>in</strong><br />
bereits zwanzig Jahre vor Gentilis Schrift <strong>zum</strong><br />
Völkerrecht mit se<strong>in</strong>er Propagierung der<br />
staatlichen Souveränität <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> mancher<br />
H<strong>in</strong>sicht vergleichbaren Weise die Gefährdung<br />
des <strong>in</strong>nerstaatlichen Gewaltmonopols<br />
durch konfessionell begründete, unbed<strong>in</strong>gte<br />
Wahrheitsansprüche zu begrenzen gesucht.<br />
Und bei Bod<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>wendung zu protestantischem<br />
Gedankengut lediglich für die<br />
frühen Jahre anzunehmen. Schließlich wird<br />
<strong>in</strong> der jüngsten Forschung die Bedeutung der<br />
spanischen Spätscholastik für die Entwicklung<br />
des modernen Natur- und Völkerrechts<br />
betont. So hat man den spanischen Dom<strong>in</strong>ikaner-Theologen,<br />
Philosophen und Juristen<br />
Francisco de Vitoria (ca. 1492–1546), den Begründer<br />
der Schule von Salamanca, als „father<br />
of <strong>in</strong>ternational law“ bezeichnet.<br />
E<strong>in</strong>e wirklich vergleichende Analyse, die<br />
das Potential der verschiedenen Konfessionen<br />
für die Entwicklung des uns heute selbstverständlichen<br />
Völkerrechts klärt, ist noch nicht<br />
geleistet. Erst e<strong>in</strong>mal kann man nur feststellen,<br />
dass sich bei Alberico Gentili der protestantische<br />
Grundsatz des Priestertums aller Getauften<br />
und die damit verbundene Überzeugung<br />
e<strong>in</strong>er vom kirchlichen Amt unabhängigen<br />
Kompetenz der Bibelauslegung stimulierend<br />
auf die Entfaltung völkerrechtlicher Argumentationen<br />
ausgewirkt hat. Aus dem Mund e<strong>in</strong>es<br />
katholischen Juristen der zweiten Hälfte des 16.<br />
Jahrhunderts ist der Satz „Silete theologi <strong>in</strong><br />
munere alieno!“ jedenfalls kaum vorstellbar, alle<strong>in</strong><br />
schon weil <strong>zum</strong> Beispiel die herausragenden<br />
Vertreter der spanischen Spätscholastik<br />
sämtlich Klerikerjuristen waren.<br />
4. schluss<br />
Jeder Historiker wird die Orientierungskraft<br />
se<strong>in</strong>er Deutung der Geschichte bedenken<br />
müssen. E<strong>in</strong> <strong>Kirche</strong>nhistoriker, der nicht<br />
nur Historiker, sondern auch Theologe ist, tut<br />
das bewusst und eben auch ausgerichtet auf<br />
die Frage, welche Anregungen für die gegenwärtige<br />
Gestaltung von <strong>Kirche</strong> und Theologie<br />
möglicherweise zu gew<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d. Die erheblichen<br />
Fortschritte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em selbstverständlich<br />
gewordenen, respektvollen ökumenischen<br />
Mite<strong>in</strong>ander seit 1886 dürfen nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Relativismus enden. So bleibt als Erbe der Reformation<br />
der Impuls der kraftvollen Aufwertung<br />
des Amtes der Getauften auf Kosten der<br />
besonders Geweihten, und wie wir gesehen<br />
haben, auch der Impuls zur selbstbewussten<br />
Formulierung des Anspruchs der Juristen, an<br />
manchen Stellen die Bibel besser auslegen zu<br />
können als die Theologen. Aber zugleich ist es