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Lesebuch zum Schwerpunktthema - Evangelische Kirche in ...

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che am Pf<strong>in</strong>gstsonntag die EXPO-Plaza beleben<br />

könnten. Es war <strong>in</strong> der Tat ke<strong>in</strong> Problem:<br />

evangelische Chöre, evangelische Posaunenchöre,<br />

es gibt sie allerorten! Hochengagierte<br />

<strong>Evangelische</strong>, die <strong>Kirche</strong>ngeme<strong>in</strong>den und<br />

<strong>Kirche</strong>ntage prägen, können <strong>in</strong> kürzester Zeit<br />

e<strong>in</strong>en solchen Platz mit Leben und Lebenslust<br />

füllen. Dazu noch e<strong>in</strong>e ökumenische Dimension<br />

durch römisch-katholische Beteiligung<br />

und den anglikanischen Erzbischof Tutu als<br />

Prediger: „Und das Leben war das Licht der<br />

Menschen.“ An diesem Tag wurde Spiritualität<br />

<strong>in</strong> der Tat vom abstrakten Begriff zur lebendigen<br />

Erfahrung mitten auf e<strong>in</strong>em Platz,<br />

der ke<strong>in</strong>erlei kirchliche Ausstrahlung hatte.<br />

Der Kern der Leiblichkeit des Protestantismus<br />

aber ist noch e<strong>in</strong> anderer: die Kreuzestheologie!<br />

Sie stellt sich radikal, so der<br />

Theologe Michael Welker <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em jüngsten<br />

Buch zur Christologie, „gegen Formen von<br />

Religiosität, die von Gottes Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit dem Leiden, der Not und der vielfältigen<br />

Selbstgefährdung der Welt und der<br />

Menschen absehen“. 5 Die Kreuzestheologie<br />

ist wohl e<strong>in</strong>er der Gründe, warum der Protestantismus<br />

als so lebensunlustig angesehen<br />

wird. Wer macht sich schon gern Gedanken<br />

über Leiden, Sterben und Tod, gar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Spaßgesellschaft, der von Soziologen e<strong>in</strong>e<br />

schleichende Karnevalisierung besche<strong>in</strong>igt<br />

wird? Gerade diese Theologie aber ist lebenstauglich.<br />

Sie muss Leid nicht aussparen, sie<br />

kann stille Zeiten ertragen, sie hat die Kraft,<br />

nicht „wird schon“ zu sagen, sondern h<strong>in</strong>zusehen<br />

und mit auszuhalten, wo Verzweiflung,<br />

Kummer gar Tod das Leben zeichnen.<br />

Theologie braucht S<strong>in</strong>nlichkeit, Worte,<br />

die Fleisch werden <strong>in</strong> Tönen, Berührungen,<br />

Farben und Bildern. E<strong>in</strong> solches Bild ist für<br />

mich das Bild „Tante Marianne“, das <strong>in</strong> der<br />

Richter-Ausstellung <strong>in</strong> der Neuen Nationalgalerie<br />

hier <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zu sehen ist. Am Anfang<br />

hat mich das Bild schlicht fasz<strong>in</strong>iert, e<strong>in</strong>e so<br />

1542<br />

GRüNDuNG DER RöMIScHEN INQuISITION<br />

Mit Hilfe der Inquisition bekämpft die römisch-katholische<br />

<strong>Kirche</strong> nach außen das neue naturwissenschaftliche Weltbild.<br />

Nach <strong>in</strong>nen sollen Reformbestrebungen bekämpft werden.<br />

zarte Pose e<strong>in</strong>es jungen Mädchens und e<strong>in</strong>es<br />

Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>des, verschwommen wirkend wie<br />

viele Richter-Bilder. Aber dann habe ich Jürgen<br />

Schreibers Buch „E<strong>in</strong> Maler aus Deutschland“<br />

gelesen. Richter malte se<strong>in</strong>e Tante Marianne,<br />

die jüngste Schwester se<strong>in</strong>er Mutter,<br />

ohne zu wissen, dass sie für das Grauen der<br />

Euthanasieprogramme der Nazizeit steht. Bei<br />

ihr, dieser hübschen, aufgeschlossenen, offensichtlich<br />

<strong>in</strong>telligenten jungen Frau wurde<br />

mit 20 Schizophrenie diagnostiziert. Es folgt<br />

e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>weisung, e<strong>in</strong> furchtbarer Leidensweg<br />

durch verschiedene E<strong>in</strong>richtungen, Zwangssterilisation,<br />

am Ende Vergasung . . .<br />

Marianne Schönfelder, die <strong>in</strong> Dresden<br />

die Höhere Mädchenschule besuchte, war –<br />

wie so manche jüngste Tochter – ganz offensichtlich<br />

Augapfel ihrer Eltern. Sie wird Opfer<br />

e<strong>in</strong>er Ideologie, die e<strong>in</strong>e Lehre von „Deutschem<br />

Blut und Kulturerbe“ predigt. 6<br />

„Unwertes Leben“, „unnütze Esser“, „Kostgänger“<br />

im Herrenvolk. Mariannes Bild steht<br />

für e<strong>in</strong>e Zerstörung, die Worte kaum mitteilen<br />

können. Gerhard Richter hat erst spät begriffen,<br />

dass se<strong>in</strong> Schwiegervater, SS-Obersturmbannführer<br />

He<strong>in</strong>rich Euf<strong>in</strong>ger, den er<br />

mehrfach gemalt hat, Zwangssterilisierungen<br />

verantwortet und zu Hunderten selbst durchgeführt<br />

hat. Mit 73 Jahren begreift er, was er<br />

da mit 33 gemalt hat. 7 E<strong>in</strong> Bild, das nun so<br />

viele Worte <strong>in</strong> sich vere<strong>in</strong>igt. E<strong>in</strong> Bild, das erzählt.<br />

Anrührend. E<strong>in</strong> Bild, das auch kritisch<br />

e<strong>in</strong>e unkritische Lutherrezeption herausfordert,<br />

die se<strong>in</strong>e unsäglichen und menschenverachtenden<br />

Äußerungen über Juden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Lethargie der Anpassung e<strong>in</strong>schläferte,<br />

wo Widerstand gefordert war.<br />

Ich kann Ihnen allen, die Sie heute zu Besuch<br />

<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d oder hier wohnen, e<strong>in</strong>en<br />

Besuch der Ausstellung nur empfehlen. Das<br />

H<strong>in</strong>-Sehen, das Richters Bilder wie viele andere<br />

Bilder großer Künstler ermöglichen,<br />

macht immer wieder die Fleischwerdung<br />

DIMENSIONEN<br />

von Wort erfahrbar. Ganz besonders bei<br />

„Tante Marianne“. So kann ich nachvollziehen,<br />

dass <strong>in</strong> Luthers Zählung der Zehn Gebote<br />

das Bilderverbot nicht vorkommt. Zu<br />

komplex ist der Gedanke des „Nicht e<strong>in</strong> Bildnis<br />

machen“, als dass er die reale Verachtung<br />

oder gar Zerstörung von Bildern mit sich<br />

br<strong>in</strong>gen dürfte!<br />

Das Wort ward Fleisch. Nach all den<br />

Worten. Das Wort ward Fleisch und wir können<br />

solche Bilder ertragen, weil wir als<br />

Christ<strong>in</strong>nen und Christen glauben, dass die<br />

Ideologie mit ihren Worten, die oberflächlichen<br />

Betroffenheitsbekundungen, die Irreführungen<br />

des Fundamentalismus weniger<br />

Kraft haben als das Wort, das Fleisch wurde<br />

und das wir sterbend am Kreuz erkennen.<br />

Da ist Gott. Da leidet Gott mit. Mit dir. Mit<br />

mir. Mit den Gedemütigten und Verletzten,<br />

den Leidenden und den Sterbenden der<br />

Menschheit.<br />

Und weil sie dieses Wort erleben, erfahren,<br />

erkennen, werden Christ<strong>in</strong>nen und<br />

Christen immer wieder aufstehen gegen Demütigung,<br />

Zerstörung, Worte, die Menschen<br />

degradieren. In Jesu Namen. Amen. ◀<br />

Prof. Dr. Margot Käßmann ist Botschaf ter<strong>in</strong><br />

des Rates der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Kirche</strong> <strong>in</strong><br />

Deutschland für das Reformationsjubiläum.<br />

Quelle: Predigt bei der E<strong>in</strong>führung von Margot<br />

Käßmann als Botschafter<strong>in</strong> des Rates der <strong>Evangelische</strong>n<br />

<strong>Kirche</strong> <strong>in</strong> Deutschland für das Reformationsjubiläum,<br />

Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-<strong>Kirche</strong> Berl<strong>in</strong>,<br />

27. April 2012<br />

1 Der Neutestamentler Klaus Wengst schreibt: „Er setzt<br />

offenbar bewusst am Anfang se<strong>in</strong>er jüdischen Bibel an,<br />

beim schöpferischen Wort Gottes, das er deshalb mit Jesus<br />

identifizieren kann, weil <strong>in</strong> ihm wiederum e<strong>in</strong> schöpferisches<br />

Handeln Gottes geschieht.“ Klaus Wengst, Das Johannesevangelium,<br />

THKNT Stuttgart 2000, S. 39.<br />

2 Wengst, a. a. O., S. 46.<br />

3 Frank Hofmann, Marathon zu Gott, Gütersloh 2011.<br />

4 Ebd. S. 9.<br />

5 Michael Welker, Gottes Offenbarung, Neukirchen 2012,<br />

S. 135.<br />

6 Ebd. S. 69.<br />

7 Vgl. ebd. S. 164.<br />

15.03.1545<br />

ERöffNuNG DES KONzILS VON TRIENT<br />

Unter der Leitung von Papst Paul III. sollen auf dem Konzil Antworten<br />

gefunden werden auf die Herausforderung der Reformation. So wird<br />

die Siebenzahl der Sakramente bestätigt: Taufe, Firmung, Buße,<br />

Abendmahl, Ehe, Priesterweihe und letzte Ölung. Das Konzil endet<br />

erst 1563.<br />

Reformationsjubiläum 2017 39

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