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BIBER 10_17-2

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Meine Mutter wurde<br />

aus dem Flüchtlingsbus<br />

in Bosnien gezerrt und<br />

stand mit der Waffe vor<br />

dem Kopf vor einem<br />

serbischen Soldaten.<br />

Erinnerungen aus dem<br />

Familienalbum<br />

bereitgestellt<br />

das Haus den Soldaten übergeben.<br />

Mein Vater wurde verhaftet<br />

und mit anderen muslimischen<br />

Männern in die Sporthalle der Stadt<br />

gebracht. „Früher spielte ich hier<br />

in der Volleyballmanschaft – heute<br />

bin ich ein Gefangener“, erinnert er<br />

sich nur ungern. „Das schlimmste<br />

war, wie Arkan vor mir stand und<br />

mich anschaute.“ Arkan - einer der<br />

bekanntesten Kriegsverbrecher, Vergewaltiger und Folterer<br />

im Krieg in Bosnien, der mit seiner Masse von männlichen<br />

Hooligans das Land unsicher machte, tausende Menschen<br />

auf dem Gewissen hat und bekannt war für die gewalttätigen<br />

und unmenschlichen Vergewaltigungen von jungen<br />

muslimischen Mädchen und Frauen. Mirjana flüchtete<br />

ebenso. Obwohl sie nicht in Gefahr war. Sie konnte in<br />

der Stadt bleiben und wäre beschützt gewesen – weil sie<br />

serbisch-orthodox war. Doch sie entschied sich anders und<br />

begleitete meine Großmutter und meinen Großvater mit<br />

uns Kindern. Sie war verantwortlich für einen Aufstand im<br />

Flüchtlingslager, da eine Frau dort in Panik ausbrach, als<br />

sie erfuhr, dass meine Mutter Serbin war. Meine Mutter<br />

wurde aus dem Flüchtlingsbus in Bosnien gezerrt und<br />

stand mit der Waffe vor dem Kopf vor einem serbischen<br />

Soldaten. Davor hatte er mehrere Menschen vor ihren<br />

Augen ermordet und verschonte sie, weil er uns Kinder<br />

sah, wie wir um ihr Leben bangten. Doch sie hat sich<br />

durchgesetzt, um ihren Weg der Gerechtigkeit zu leben –<br />

auch wenn ihr Leben auf dem Spiel stand.<br />

BAJRAM, WEIHNACHTEN<br />

UND OSTERN<br />

1992 flüchteten wir nach Österreich und meine Eltern<br />

versuchten, alles neu aufzubauen. Ohne Deutschkenntnisse,<br />

gezwungen, ihr Land zu verlassen – ohne zu wissen,<br />

ob sie es jemals wieder betreten dürfen. Und was passiert<br />

mit den Verwandten, die zurückbleiben? Was ist mit den<br />

Großeltern, die alt und krank sind? Was passiert mit ihren<br />

Geschwistern?<br />

Wie haben sie es geschafft, diese Verzweiflung, dieses<br />

Leid, diese Traumata zu verarbeiten und mir und meiner<br />

älteren Schwester ein Leben zu ermöglichen wie jedem<br />

anderen Kind in Österreich? Sie waren zielstrebig und leistungsorientiert.<br />

Ich durfte nur mit einem Einser Nachhause<br />

kommen – alles andere war inakzeptabel. Meine Eltern<br />

arbeiteten – wie die Eltern vieler Gastarbeiterkinder – viel<br />

und hart.<br />

Doch was uns besonders machte im Vergleich zu<br />

anderen Kindern, war die Tatsache, dass wir von klein auf<br />

mit verschiedenen Religionen aufwuchsen. Wir feierten<br />

das muslimische Bajram genauso daheim mit Geschenken<br />

und einer Party wie Weihnachten und Ostern. Aus Respekt<br />

Mein Vater wurde<br />

verhaftet und mit anderen<br />

muslimischen Männern in<br />

die Sporthalle der Stadt<br />

gebracht.<br />

vor den islamischen Riten trug<br />

meine Mama Kopftuch wenn es ein<br />

muslimisches Begräbnis gab. Wir<br />

färbten Eier und machten Baklava.<br />

Wir küssten die Hand unseres<br />

Vaters zum muslimischen Festtag<br />

und schmückten den Weihnachtsbaum<br />

mit der Mama. Das war<br />

natürlich für uns Kinder toll, da<br />

wir zu allen Anlässen Geschenke<br />

bekamen und so mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen<br />

durften, dass der Mensch im Vordergrund steht –<br />

unabhängig von seiner Religion. Diese Erfahrung prägt<br />

mich bis heute und ist für mich ein Beweis, dass „es“<br />

geht. Wir können alle friedlich zusammenleben, ohne auf<br />

unsere religiöse Praxis verzichten zu müssen, ohne eine<br />

rechte Propaganda, die uns versucht zu spalten und ohne<br />

ein politisches Klima, das ausschließlich die Unterschiede<br />

unterstreicht und die Gemeinsamkeiten außer Acht lässt.<br />

MEINE MUTTER WIRD DIESEN<br />

ARTIKEL NIE ZU LESEN BEKOMMEN<br />

Meine Mutter wird diesen Artikel nie zu lesen bekommen.<br />

Nach den ganzen Traumata und den schwierigen<br />

Arbeitsbedingungen in Österreich erkrankte sie an<br />

Rheuma, begleitet von einer langjährigen Depression.<br />

Sie erkrankte an einer Lungenentzündung, danach folgte<br />

ein Schlaganfall und später die Diagnose Lungenkrebs.<br />

Halbseitig gelähmt, das Gehirn versagte, das Sprach- und<br />

Erinnerungsvermögen schwand dahin. Am 11. August<br />

2014 erlag sie ihrer schweren Krankheit in der Christian-<br />

Doppler-Klinik in Salzburg. Sie wurde in Bosnien begraben,<br />

jedoch weigerte sich der serbisch-orthodoxe Pfarrer sie<br />

zu beerdigen, da sie sich nie taufen lassen wollte, obwohl<br />

sie sich als Christin bezeichnete. Genauso wenig wollte<br />

der Vorsitzende der islamischen Glaubensgemeinschaft<br />

in Brčko das Begräbnis begleiten, da sie sich nie öffentlich<br />

zum Islam bekannt hatte. Wie so oft mussten wir uns<br />

selbst organisieren. Meine Mutter wurde am islamischen<br />

Friedhof beigesetzt, die Cousine meines Vaters hielt eine<br />

beeindruckende Rede über das Leben und die frohe und<br />

selbstbestimmte Lebensart meiner Mutter. Alles geschah<br />

im engsten Kreise der Familie und Freunde.<br />

Meine Mutter ist eine Heldin für mich, weil sie genau<br />

das tat, was sie für richtig empfand: Weder ihre Herkunft,<br />

andere Meinungen noch die großen Lebensgefahren konnten<br />

sie davon abhalten. ●<br />

Adis Šerifović, 26, lebt als Kinderbuchautor in Salzburg und sitzt im<br />

Vorsitz der MJÖ (Muslimische Jugend Österreichs)<br />

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