Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Meine Mutter wurde<br />
aus dem Flüchtlingsbus<br />
in Bosnien gezerrt und<br />
stand mit der Waffe vor<br />
dem Kopf vor einem<br />
serbischen Soldaten.<br />
Erinnerungen aus dem<br />
Familienalbum<br />
bereitgestellt<br />
das Haus den Soldaten übergeben.<br />
Mein Vater wurde verhaftet<br />
und mit anderen muslimischen<br />
Männern in die Sporthalle der Stadt<br />
gebracht. „Früher spielte ich hier<br />
in der Volleyballmanschaft – heute<br />
bin ich ein Gefangener“, erinnert er<br />
sich nur ungern. „Das schlimmste<br />
war, wie Arkan vor mir stand und<br />
mich anschaute.“ Arkan - einer der<br />
bekanntesten Kriegsverbrecher, Vergewaltiger und Folterer<br />
im Krieg in Bosnien, der mit seiner Masse von männlichen<br />
Hooligans das Land unsicher machte, tausende Menschen<br />
auf dem Gewissen hat und bekannt war für die gewalttätigen<br />
und unmenschlichen Vergewaltigungen von jungen<br />
muslimischen Mädchen und Frauen. Mirjana flüchtete<br />
ebenso. Obwohl sie nicht in Gefahr war. Sie konnte in<br />
der Stadt bleiben und wäre beschützt gewesen – weil sie<br />
serbisch-orthodox war. Doch sie entschied sich anders und<br />
begleitete meine Großmutter und meinen Großvater mit<br />
uns Kindern. Sie war verantwortlich für einen Aufstand im<br />
Flüchtlingslager, da eine Frau dort in Panik ausbrach, als<br />
sie erfuhr, dass meine Mutter Serbin war. Meine Mutter<br />
wurde aus dem Flüchtlingsbus in Bosnien gezerrt und<br />
stand mit der Waffe vor dem Kopf vor einem serbischen<br />
Soldaten. Davor hatte er mehrere Menschen vor ihren<br />
Augen ermordet und verschonte sie, weil er uns Kinder<br />
sah, wie wir um ihr Leben bangten. Doch sie hat sich<br />
durchgesetzt, um ihren Weg der Gerechtigkeit zu leben –<br />
auch wenn ihr Leben auf dem Spiel stand.<br />
BAJRAM, WEIHNACHTEN<br />
UND OSTERN<br />
1992 flüchteten wir nach Österreich und meine Eltern<br />
versuchten, alles neu aufzubauen. Ohne Deutschkenntnisse,<br />
gezwungen, ihr Land zu verlassen – ohne zu wissen,<br />
ob sie es jemals wieder betreten dürfen. Und was passiert<br />
mit den Verwandten, die zurückbleiben? Was ist mit den<br />
Großeltern, die alt und krank sind? Was passiert mit ihren<br />
Geschwistern?<br />
Wie haben sie es geschafft, diese Verzweiflung, dieses<br />
Leid, diese Traumata zu verarbeiten und mir und meiner<br />
älteren Schwester ein Leben zu ermöglichen wie jedem<br />
anderen Kind in Österreich? Sie waren zielstrebig und leistungsorientiert.<br />
Ich durfte nur mit einem Einser Nachhause<br />
kommen – alles andere war inakzeptabel. Meine Eltern<br />
arbeiteten – wie die Eltern vieler Gastarbeiterkinder – viel<br />
und hart.<br />
Doch was uns besonders machte im Vergleich zu<br />
anderen Kindern, war die Tatsache, dass wir von klein auf<br />
mit verschiedenen Religionen aufwuchsen. Wir feierten<br />
das muslimische Bajram genauso daheim mit Geschenken<br />
und einer Party wie Weihnachten und Ostern. Aus Respekt<br />
Mein Vater wurde<br />
verhaftet und mit anderen<br />
muslimischen Männern in<br />
die Sporthalle der Stadt<br />
gebracht.<br />
vor den islamischen Riten trug<br />
meine Mama Kopftuch wenn es ein<br />
muslimisches Begräbnis gab. Wir<br />
färbten Eier und machten Baklava.<br />
Wir küssten die Hand unseres<br />
Vaters zum muslimischen Festtag<br />
und schmückten den Weihnachtsbaum<br />
mit der Mama. Das war<br />
natürlich für uns Kinder toll, da<br />
wir zu allen Anlässen Geschenke<br />
bekamen und so mit der Selbstverständlichkeit aufwachsen<br />
durften, dass der Mensch im Vordergrund steht –<br />
unabhängig von seiner Religion. Diese Erfahrung prägt<br />
mich bis heute und ist für mich ein Beweis, dass „es“<br />
geht. Wir können alle friedlich zusammenleben, ohne auf<br />
unsere religiöse Praxis verzichten zu müssen, ohne eine<br />
rechte Propaganda, die uns versucht zu spalten und ohne<br />
ein politisches Klima, das ausschließlich die Unterschiede<br />
unterstreicht und die Gemeinsamkeiten außer Acht lässt.<br />
MEINE MUTTER WIRD DIESEN<br />
ARTIKEL NIE ZU LESEN BEKOMMEN<br />
Meine Mutter wird diesen Artikel nie zu lesen bekommen.<br />
Nach den ganzen Traumata und den schwierigen<br />
Arbeitsbedingungen in Österreich erkrankte sie an<br />
Rheuma, begleitet von einer langjährigen Depression.<br />
Sie erkrankte an einer Lungenentzündung, danach folgte<br />
ein Schlaganfall und später die Diagnose Lungenkrebs.<br />
Halbseitig gelähmt, das Gehirn versagte, das Sprach- und<br />
Erinnerungsvermögen schwand dahin. Am 11. August<br />
2014 erlag sie ihrer schweren Krankheit in der Christian-<br />
Doppler-Klinik in Salzburg. Sie wurde in Bosnien begraben,<br />
jedoch weigerte sich der serbisch-orthodoxe Pfarrer sie<br />
zu beerdigen, da sie sich nie taufen lassen wollte, obwohl<br />
sie sich als Christin bezeichnete. Genauso wenig wollte<br />
der Vorsitzende der islamischen Glaubensgemeinschaft<br />
in Brčko das Begräbnis begleiten, da sie sich nie öffentlich<br />
zum Islam bekannt hatte. Wie so oft mussten wir uns<br />
selbst organisieren. Meine Mutter wurde am islamischen<br />
Friedhof beigesetzt, die Cousine meines Vaters hielt eine<br />
beeindruckende Rede über das Leben und die frohe und<br />
selbstbestimmte Lebensart meiner Mutter. Alles geschah<br />
im engsten Kreise der Familie und Freunde.<br />
Meine Mutter ist eine Heldin für mich, weil sie genau<br />
das tat, was sie für richtig empfand: Weder ihre Herkunft,<br />
andere Meinungen noch die großen Lebensgefahren konnten<br />
sie davon abhalten. ●<br />
Adis Šerifović, 26, lebt als Kinderbuchautor in Salzburg und sitzt im<br />
Vorsitz der MJÖ (Muslimische Jugend Österreichs)<br />
28 / POLITIKA /<br />
/ POLITIKA / 29