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Auf den Spuren des Reformators<br />
In erfurt kann man − wie einst Luther auf dem Weg in die Universität<br />
− über die Krämerbrücke schlendern <strong>und</strong> eine der schönsten<br />
mittelalterlichen Städte Deutschlands bestaunen.<br />
oder um in den Kirchen Mitteldeutschlands zu predigen, unter anderem<br />
auch in der Marktkirche in Halle, wo heute Luthers Totenmaske<br />
zu sehen ist.<br />
Inzwischen bin ich auf Seite zwei der Trefferliste angelangt <strong>und</strong><br />
langsam schwindet meine Lust an der Internetrecherche. Schließlich<br />
will ich doch Luther erleben, ihn „zum Anfassen“ haben. Darum<br />
ändere ich meine Strategie <strong>und</strong> rufe Stefan Rhein an. Er ist Vorstand<br />
<strong>und</strong> Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt<br />
<strong>und</strong> so etwas wie der Marketingchef des Reformators. Wir verabreden<br />
uns zu einem Interview in Wittenberg. Bis dahin sind jedoch noch<br />
einige Tage Zeit. Und ich beschließe <strong>für</strong>s Erste, vor meiner eigenen<br />
Haustür hier in Leipzig nach Luther zu suchen.<br />
Der Reformator war einige Male in der Stadt. Zu seinen wichtigsten<br />
Besuchen zählt jedoch sein Aufenthalt vom 27. Juni bis zum 15.<br />
Juli 1519. In diesem Zeitraum stritt er gemeinsam mit seinen Wittenberger<br />
Kollegen Andreas Karlstadt <strong>und</strong> Philipp Melanchthon gegen<br />
den katholischen Theologen Johannes Eck über die zeitgenössische<br />
Kirche. Das Streitgespräch in der Hofstube der herzoglich sächsischen<br />
Pleißenburg ging als Leipziger Disputation in die Geschichtsbücher<br />
ein. Heute sieht man in Leipzig von der Pleißenburg nichts mehr. 1897<br />
wurde sie abgerissen. An ihrer Stelle stehen nun das Neue Rathaus<br />
mit dem Burgplatz <strong>und</strong> das Gebäude der Deutschen Bank.<br />
Von Luther <strong>und</strong> Co. fehlt jede Spur. Fast zumindest. Einige<br />
h<strong>und</strong>ert Meter entfernt, in der Hainstraße, zeugt noch eine kleine<br />
Steintafel mit der Aufschrift „An dieser Stelle stand das Wohnhaus<br />
des Buchdruckers Melchior Lotter, in dem Martin Luther zusammen<br />
mit Philipp Melanchthon waehrend der Leipziger Disputation 1519<br />
wohnte“ von dem Ereignis. Viele Leser hat die Gedenktafel aber<br />
höchstwahrscheinlich nicht. Keine 20 Zentimeter rechts neben ihr<br />
läuft eine Regenrinne entlang, der Putz bröckelt von der Hausfassade.<br />
Mein Blick wandert fast wie von selbst in das große Schaufenster<br />
links. Es gehört zu einem Antiquitätenladen. In der Hoffnung, zwischen<br />
all dem Porzellan <strong>und</strong> Trödel etwas aus Luthers Zeit zu entdecken,<br />
gehe ich hinein. Aus der hintersten Ecke des Ladens kommt die<br />
Verkäuferin hervor. Auf meine Frage nach einem Lutherrelikt reagiert<br />
sie ein wenig überrascht, überlegt einen Moment <strong>und</strong> entschuldigt<br />
sich dann: „Nein, da haben wir leider nichts da.“<br />
Etwas enttäuscht kehre ich von meinem Ausflug aus dem Leipzig<br />
des frühen 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zurück nach Hause. Was ich suche, ist<br />
mehr Authentizität. Ich möchte Luthers Aura spüren. Die Wartburg<br />
– so nehme ich an – muss hier<strong>für</strong> der richtige Ort sein. Stefan Rhein<br />
erzählt mir später, dass ich mit diesem Gedanken nicht allein bin.<br />
Die Burg bei Eisenach ist mit über 400.000 Besuchern jährlich der<br />
beliebteste Lutherpilgerort. (Fotos: Seite 58/59) Dabei verbrachte<br />
der Reformator nur 300 Tage dort. Am 17. April 1521 hatte Kaiser<br />
Karl V. in Worms über Luther die Reichsacht verhängt, nachdem<br />
dieser den Widerruf seiner Ideen wiederholt verweigert hatte. Auf<br />
dem Rückweg nach Wittenberg wurde der nun Vogelfreie auf Befehl<br />
regjo LeIPZIg/HALLe geSellScHaft 63<br />
seines Gönners – dem sächsischen Kur<strong>für</strong>st Friedrich dem Weisen –<br />
entführt <strong>und</strong> auf die Wartburg gebracht. Am Abend des 4. Mai 1521<br />
erreichte er sein Schutzquartier. Von nun an lebte Luther unter dem<br />
Namen Junker Jörg in einer kleinen Stube in der Vogtei, trug ritterliche<br />
Kleidung <strong>und</strong> ließ sich Haar <strong>und</strong> Bart wachsen. Ihn, der es<br />
gewohnt war, viele Fre<strong>und</strong>e um sich zu scharen, quälte hier vor allem<br />
die Einsamkeit. Den einzigen Ausweg aus seiner Krise sah Luther<br />
in unermüdlicher Arbeit. Den Höhepunkt erreichte sein gewaltiges<br />
Schaffen mit der Übersetzung des Neuen Testaments der Bibel ins<br />
Deutsche. Nur zehn Wochen benötigte er da<strong>für</strong> – ein außerordentliches<br />
Werk, wenn man bedenkt, dass ihm da<strong>für</strong> auf der Wartburg<br />
sämtliche wissenschaftlichen Hilfsmittel fehlten. Ein halbes Jahr nach<br />
einen halben gulden kostete ein exemplar der ersten Lutherbibel 1522 −<br />
genauso viel wie ein halbes Kalb.<br />
Luthers Rückkehr nach Wittenberg, im September 1522, erschien das<br />
sogenannte September-Testament in einer Auflage von 3.000 Stück<br />
im Druck. Trotz des hohen Preises von einem halben Gulden – da<strong>für</strong><br />
bekam man ein halbes Kalb – waren die Exemplare in kürzester Zeit<br />
ausverkauft.<br />
Schon seit Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde Luthers Stube auf<br />
der Wartburg zum Ziel vieler seiner Anhänger. Oft ritzten sie Namen<br />
<strong>und</strong> Jahreszahlen in die Bohlen <strong>und</strong> nahmen Teile des Mobiliars als<br />
Souvenir mit. Das einzige im original erhaltene Einrichtungsstück ist<br />
ein Walwirbel, den Luther vermutlich als Schemel nutzte.<br />
Nun stehe auch ich an diesem historischen Ort. Ein dickes<br />
Absperrseil hält mich auf gebührendem Abstand zu den Ausstellungsstücken.<br />
Eigentlich würde ich auch gern meinen Namen hier<br />
im Holz hinterlassen. Aber das geht natürlich nicht. Stattdessen blicke<br />
ich andächtig in das spärlich eingerichtete Zimmer. Diffuses Licht fällt<br />
durch zwei kleine Holzfenster auf einen über 400 Jahre alten Kastentisch.<br />
Darauf liegt, durch die einfallenden Sonnenstrahlen fast von<br />
einem heiligen Schimmern umgeben, aufgeschlagen ein Faksimile<br />
des September-Testaments. Von der Wand schaut Martin Luther in<br />
den Raum. Hier ist also der Geburtsort unserer modernen deutschen<br />
Sprache. Noch einen Moment bleibe ich gedankenversunken stehen,<br />
dann drängt sich eine Horde Schüler an mir vorbei in das kleine<br />
Stübchen <strong>und</strong> holt mich zurück ins 21. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />
„Willkommen in Wittenberg“, Stefan Rhein begrüßt mich im<br />
Lutherhaus mit einem kräftigen Händedruck <strong>und</strong> führt mich in sein<br />
geräumiges, helles Büro. Seit 1998 ist er Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten<br />
in Sachsen-Anhalt, die er mit aufbaute <strong>und</strong> zu der<br />
neben dem Lutherhaus auch noch das Melanchthonhaus in Wittenberg<br />
sowie in Eisleben das Geburts- <strong>und</strong> das Sterbehaus des Reformators<br />
gehören. Der Mann mit der Halbglatze, dem grauen Schnauzer<br />
<strong>und</strong> der schwarzen, eckigen Brille ist Wissenschaftler, ein klassischer<br />
Philologe. Seine Doktorarbeit schrieb er über die griechischen