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Berliner Kurier 25.10.2018

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SEITE21<br />

BERLINER KURIER, Donnerstag, 25. Oktober 2018<br />

FahnderinvonKreuzberg<br />

Buket Arslan ist fast blind. Deshalb hat sie einen besonderen Tastsinn, der Brustkrebs früh erkennen hilft<br />

Von<br />

SUSANNE ROST<br />

Dass Buket Arslan (41)<br />

fast blind ist, fällt vermutlich<br />

niemandem<br />

auf, der ihr an diesem Morgen<br />

begegnet. Die Neuköllnerin<br />

steigt an der Haltestelle Pflügerstraße<br />

aus dem Bus. Sie hat<br />

keinen Blindenhund, sie tastet<br />

nicht mit einem Stock nach<br />

Hindernissen auf ihrem Weg.<br />

Arslan geht die Straße zum<br />

Landwehrkanal entlang. Hinter<br />

der Brücke biegt sie ohne<br />

Zögern in den Weg am Paul-<br />

Lincke-Ufer. Arslan sieht die<br />

Schwäne auf dem Kanal nicht.<br />

Jogger nimmt sie nur als groben<br />

Umriss wahr, sagt sie. Sie<br />

weiß, dass am Uferweg Bänke<br />

stehen. Die Frau kennt die Gegend<br />

aus der Zeit, als sie noch<br />

sehen konnte, bevor ihr eine<br />

Netzhaut-Krankheit das Augenlicht<br />

fast völlig nahm. 18<br />

Jahre ist das her.<br />

Arslan geht diesen Weg<br />

schon seit Wochen, immer<br />

mittwochs. Ihr Ziel ist eine<br />

Frauenarztpraxis am Paul-<br />

Lincke-Ufer. Frühmorgens<br />

geht sie hin, nachmittags zurück.<br />

Dazwischen rettet sie im<br />

besten Fall Leben. Denn Arslan<br />

hat einen Beruf, den hierzulande<br />

nur knapp 40 Frauen<br />

ausüben. Sie ist Medizinisch-<br />

Taktile Untersucherin (MTU).<br />

Nur blinde oder hochgradig<br />

sehbehinderte Frauen können<br />

diese Fortbildung machen. Ihr<br />

durch das Handicap besonders<br />

geschulter Tastsinn wird<br />

für die Brustkrebs-Früherkennung<br />

genutzt.<br />

Je früher ein Tumor in der<br />

Brust bemerkt wird, desto größer<br />

ist die Überlebenschance.<br />

Mehr als 70000 Mal im Jahr<br />

stellen bundesweit Ärzte die<br />

Diagnose Brustkrebs. An keiner<br />

anderen Krebsart erkranken<br />

Frauen häufiger. Mehr als<br />

17000 Patientinnen sterben<br />

jährlich daran. Dabei wären<br />

die meisten Fälle heilbar, wären<br />

sie rechtzeitig erkannt und<br />

behandelt worden.<br />

Der Duisburger Frauenarzt<br />

Frank Hoffmann war es, der<br />

2006 die Idee hatte, blinde<br />

und sehbehinderte Frauen mit<br />

ihrem besonders ausgeprägten<br />

Tastsinn für die Brustkrebsfrüherkennung<br />

fortzubilden.<br />

Daraus entstand die Initiative<br />

Discovering Hands.<br />

2007 fand der erste Kurs statt.<br />

Inzwischen ist die Initiative<br />

ein Unternehmen, das zusammen<br />

mit Berufsbildungswerken<br />

die Qualifikationzur MTU<br />

organisiert. 26 gesetzliche und<br />

alle privaten Krankenkassen<br />

zahlen die Kosten für die<br />

knapp 50 Euro teure Untersuchung.<br />

Arslan ist in der Kreuzberger<br />

Frauenarztpraxis. Aus ihrem<br />

Spind nimmt sie eine Tasche,<br />

nimmt daraus eine besondere<br />

Kette mit sechs unterschiedlich<br />

große Holzperlen hervor.<br />

Die größte hat vielleicht drei<br />

Zentimeter Durchmesser, die<br />

zweitgrößte ist minimal kleiner.<br />

„Tumore dieser Größe<br />

fühlen die Patientinnen<br />

selbst“, sagt Arslan.<br />

Ärzte würden bei der manuellen<br />

Untersuchung zumeist<br />

Veränderungen der mittleren<br />

Stärke –etwa so groß wie eine<br />

Murmel –feststellen. Professionell<br />

ausgebildete Tasterinnen<br />

seien in der Lage, Gewebeveränderungen<br />

in der Größe<br />

der beiden kleinsten Kugeln<br />

zu erfühlen – sie haben<br />

0,6 und 0,8 Zentimeter Durchmesser.<br />

Die blinden Profis ertasten<br />

30 Prozent mehr Gewebeveränderungen<br />

als Ärzte.<br />

„Die Nachfrage ist groß, Frau<br />

Arslans Sprechstunde ist immer<br />

relativ schnell voll“, sagt<br />

die Frauenärztin Anke Joachim.<br />

Seit September kommt<br />

die professionelle Brustuntersucherin<br />

einmal in der Woche<br />

in die Praxis. „Das Feedback<br />

der Patientinnen ist positiv“,<br />

sagt Anke Joachim, die Gynäkologin.<br />

Sie ist froh, dass sie<br />

nun auch jüngeren Patientinnen<br />

eine tiefergehende Untersuchung<br />

anbieten kann. Denn<br />

das Mammografie-Screening<br />

wird erst für Frauen ab 50 von<br />

den Kassen bezahlt. Dabei betrifft<br />

etwa jede fünfte Brustkrebs-Neuerkrankung<br />

Frauen<br />

unter 50 Jahren.<br />

Kämen Frauen zur Krebsvorsorge,<br />

sagt Anke Joachim, dann<br />

untersuchesiedenBusenderPatientinnen<br />

manuell. Eine Sache<br />

von wenigen Minuten. „Ich habe<br />

keine Zeit, jede Patientin eine<br />

Stunde langabzutasten“,sagt die<br />

Ärztin. Und so lange kann es<br />

dauern, wenn man es gründlich<br />

macht.<br />

So wie Buket Arslan. Vor ihr<br />

sitzt Sarah (34), die bei der<br />

normalen Vorsorgeuntersuchung<br />

von diesem besonderen<br />

Angebot erfuhr. Sie ist sensibilisiert<br />

für das Thema, seit ihre<br />

Oma mit Anfang 40 an Brustkrebs<br />

erkrankt ist. Deshalb<br />

will Sarah alle Vorsorgemöglichkeiten<br />

ausschöpfen.<br />

Buket Arslan erklärt der Patientin,<br />

dass sie als Erstes deren<br />

Brustkorb mit Klebestreifen in<br />

vier Zonen einteilen wird. Die<br />

Streifen habenpunktförmigeErhebungen.<br />

Sokanndie fastblinde<br />

MTU ertasten undgenau benennen,wosie<br />

beispielsweise eineVerhärtunggespürt<br />

hat. In einem<br />

solchen Fall würde sie die<br />

Ärztin darüber informieren, die<br />

dann die betreffende Stelle per<br />

Ultraschall überprüft.<br />

Sarah sitzt still auf der Liege,<br />

während Buket Arslan die Klebestreifen<br />

auf ihrem Oberkörper<br />

anbringt. Auch während<br />

des Abtastens ist Sarah ganz<br />

ruhig. Nicht alle Patientinnen<br />

schwiegen dabei, sagt Arslan.<br />

Manche wollen wissen, ob sie<br />

blind geboren wurde. Dann erzählt<br />

Buket Arslan von dem<br />

Urlaub im Jahr 2000, in dem<br />

plötzlich die Buchstaben vor<br />

An Torsi wird<br />

geübt,die<br />

Klebestreifen<br />

anzubringen,<br />

die helfen, Tumorezuorten.<br />

ihren Augen verschwammen.<br />

Als sie zum Arzt ging, glaubte<br />

sie, eine Brille könnte das<br />

Problem beheben. Doch dann<br />

stellte der Mediziner fest, dass<br />

bei der damals 23-Jährigen,<br />

die als Bürokauffrau arbeitete,<br />

eine Ader am Sehnerv geplatzt<br />

war. „Von heute auf morgen<br />

konnte ich nicht mehr sehen.<br />

Das war frustrierend“, sagt<br />

Arslan. Der zentrale Teil ihres<br />

Blickfeldes blieb schwarz.<br />

Seither sieht sie lediglich grobe<br />

Umrisse, erkennt Gesichter<br />

und Buchstaben nur noch,<br />

wenn sie ganz nah sind. Als sie<br />

den Tipp mit der Qualifikation<br />

zur MTU bekam, sei sie erst<br />

skeptisch gewesen: „Medizin<br />

war so gar nicht mein Ding.“<br />

Anfangs hatte sie Scheu davor<br />

gehabt, fremde Menschen anzufassen,<br />

noch dazu an so intimen<br />

Stellen. Trotzdem entschloss<br />

sie sich, an einem Eignungstest<br />

teilzunehmen.<br />

Für Buket Arslan war es ein<br />

Glück, dass sie von der Fortbildung<br />

erfahren hat. „Ich habe<br />

mich früher so nutzlos gefühlt.<br />

Jetzt kann ich durch meine<br />

Behinderung Menschen helfen“,<br />

sagt sie. Das Know-how<br />

dafür erwarb sie an der Discovering-Hands-Akademie<br />

in<br />

Karlshorst. Dort lernte Arslan<br />

auch an einem Torsi, wie man<br />

die Klebestreifen für die Untersuchung<br />

richtig an den Patientinnen<br />

anbringt. Das Bekleben<br />

ist nur ein Teil der sechs<br />

monatigen theoretischen Ausbildung.Genauso<br />

wichtig ist die<br />

spezielle Tast-Methode. „MTU-<br />

Walzer“ nennt man ihn, weil<br />

sichdie Finger in einerArt Dreier-Schritt<br />

über die Brust bewegen.<br />

Geübt wird dieser Walzer<br />

zunächstaufeinerSchaumstoffmatte,<br />

später am Menschen,<br />

auch anerkrankten Patientinnen.<br />

EinTeilder Abschlussprüfung<br />

besteht darin, in der<br />

Schaumstoffmatte versteckte<br />

Körnchen ausfindig zu machen.<br />

„Das war nicht einfach“, sagt<br />

Arslan. Im Juni erst hat sie die<br />

Qualifikation zur MTU beendet,<br />

zu der auch ein dreimonatiger<br />

Praxisteil gehört. Das<br />

Praktikum hat Arslan in der<br />

Praxis am Paul-Lincke-Ufer<br />

gemacht, in der sie jetzt praktiziert.<br />

Arslan, alleinerziehende<br />

Mutter eines 13-jährigen Sohnes,<br />

arbeitet noch in zwei anderen<br />

Frauenarztpraxen, im<br />

Oktober kommt eine weitere<br />

dazu. Insgesamt gibt es in Berlin<br />

sechs Praxen, die diesen besonderen<br />

Service anbieten,<br />

und elf ausgebildete MTU.<br />

Im Untersuchungszimmer in<br />

der Kreuzberger Arztpraxis<br />

tasten sich derweil Arslans<br />

Finger sorgsam durch das Gewebe<br />

–wer um den Rhythmus<br />

weiß, erkennt den Walzerschritt.<br />

Sarah liegt mit halb geschlossenen<br />

Augen da. Einmal<br />

zuckt sie zusammen, es tut<br />

weh. „Vermutlich verhärtetes<br />

Drüsengewebe“, sagt Arslan,<br />

„ein Tumor schmerzt nicht“.<br />

Nach 30 Minuten ist sie fertig,<br />

löst vorsichtig die Klebestreifen<br />

und sagt: „Alles in Ordnung.“<br />

Angenehm sei die Untersuchung<br />

gewesen, sagt Sarah.<br />

Man sieht ihr an, wie erleichtert<br />

sie ist.

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