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Die Klasse auf diesem Foto<br />
ist nicht diejenige, die im<br />
Text behandelt wird. Danke<br />
für die Kooperation, 4d,<br />
WMS Loquaiplatz. Ihr seid<br />
mindestens genauso toll!<br />
ÜBER SOZIAL ST<strong>AR</strong>KE KINDER<br />
Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“ gehe es zu wie in der Bronx. Die Wahrheit ist<br />
aber: Ich habe nirgends so herzliche, liebevolle Kinder kennengelernt wie an diesen Schulen.<br />
Von Melisa Erkurt<br />
Marko Mestrović<br />
Neulich stand ich nach einem schlechten Morgen<br />
in einer Klasse. Ich versuchte alles, damit die Kids<br />
meine Laune nicht bemerken. Sie waren so lieb<br />
in der Stunde, arbeiteten fleißig mit, fragten, was<br />
ich am Wochenende vorhabe und brachten mich mit Erzählungen<br />
von ihrem letzten Wochenende zum Lachen. Am Ende<br />
der Stunde sagte ein Schüler aus der ersten Reihe ganz leise<br />
zu mir: „Heute waren Sie traurig. Geht’s Ihnen schon besser?“<br />
Ich war gerührt, was waren das bloß für empathische Kinder.<br />
Aber das dachte ich mir nicht zum ersten Mal. Immer, wenn<br />
mich die aktuelle Debatte rund um die Bildungspolitik frustriert,<br />
ich den Glauben daran verliere, dass wir dieses Zwei-Klassen-<br />
Schulsystem jemals überwinden werden, gibt mir die Arbeit<br />
mit Kindern und Jugendlichen Hoffnung. Denn an<br />
all diesen sozioökonomisch schwächeren Schulen,<br />
auch Brennpunktschulen genannt, habe ich<br />
Kinder und Jugendliche mit den größten Herzen<br />
und tollsten Charakteren kennengelernt. Kinder,<br />
die mir in der Pause ihre Jause angeboten haben.<br />
Kinder, die mir Baklava mitgebracht haben („Die<br />
hat meine Mama für Sie gemacht, nachdem ich<br />
ihr von Ihnen erzählt habe“). Kinder, die sich nicht<br />
wegen Äußerlichkeiten über den anderen lustig<br />
gemacht haben. Oftmals waren Kinder dabei, bei<br />
denen ich wusste, so traurig es klingt, dass sie<br />
in einer anderen Schule beispielsweise wegen ihrer Kleidung<br />
gemobbt werden würden. Oder Mario, der zwei Köpfe kleiner<br />
als alle anderen war, er wurde von keinem seiner Schulkollegen<br />
aufgrund seiner Größe gehänselt, im Gegenteil, er wurde von<br />
seinen Mitschülern im Park „beschützt“. „Normal, er ist unser<br />
Bruder.“ Kinder, die noch Ärmeren ihr Jausengeld schenken.<br />
Kinder, die vor Freude weinen, weil sie sich so für ihre Freundin<br />
freuen, deren Mutter nach drei Jahren in Syrien endlich nach<br />
Österreich nachkommen darf. Kinder, die sich bei schlechten<br />
Noten trösten, die einander beim Elternabend nicht auslachen,<br />
weil der Papa nicht so gut Deutsch spricht, sondern füreinander<br />
dolmetschen. Kinder, die sich vor den anderen nicht schämen<br />
zuzugeben, dass sie gerade kein Geld fürs Kino haben,<br />
weil sie wissen, keiner wird sie deshalb schief anschauen.<br />
Melisa Erkurt tourt<br />
mit dem biber-Projekt<br />
„Newcomer“<br />
seit drei Jahren<br />
durch Wiener<br />
Schulklassen und<br />
berichtet regelmäßig<br />
über ihre<br />
Erfahrungen aus<br />
den Schulen.<br />
„HEISST <strong>DA</strong>S, <strong>DA</strong>SS WIR DUMM<br />
UND ASOZIAL SIND?“<br />
Ich weiß von vielen Lehrer*innen, dass sie aufgrund dieser<br />
Herzlichkeit der Kinder und deren Eltern viel lieber an solchen<br />
Schulen unterrichten, als an Schulen, an denen die Kinder auf<br />
sie herabsehen, weil sie „nur“ Lehrer sind und die eigenen<br />
Eltern etwas viel Besseres. Sie werden von den Eltern nicht in<br />
Frage gestellt, sie sprechen ihnen nicht ihre Kompetenzen ab<br />
und drohen bei einem „Nicht Genügend“ nicht mit Anwälten.<br />
Schulen, an denen den Kindern verboten wird, sich zu umarmen,<br />
so wie im Theresianum in Eisenstadt. Das ist natürlich ein<br />
Einzelfall und es gibt überall großartige Kinder und Jugendliche,<br />
aber diese Herzlichkeit, diese Dankbarkeit, das Mitgefühl<br />
und die Akzeptanz - das alles habe ich an diesen<br />
Schulen viel stärker als sonst wo erlebt. Und als<br />
mich Milan aus der 4b fragt, ob seine Schule denn<br />
eine dieser Brennpunktschulen sei, von denen<br />
alle immer reden und ob sozial schwach bedeutet,<br />
dass er und die anderen dumm sind, wird<br />
mir plötzlich ganz anders. Auch als die 13-jährige<br />
Kübra ihm erklärt, dass sozial schwach bedeute,<br />
dass sie nicht sozial sind, bin ich schockiert. Mir<br />
war nicht klar, was solche Begriffe bei den Kindern<br />
auslösen. Seitdem kläre ich diese riesengroßen<br />
Missverständnisse in jeder Klasse ganz schnell auf.<br />
Weil wenn diese Kinder und Jugendlichen etwas nicht sind,<br />
dann dumm und asozial. Tatsächlich sind sie so großartig, dass<br />
ich nach der gemeinsamen biber Newcomer-Woche mit ihnen<br />
nicht glauben mag, dass ich sie nicht mehr wiedersehe. Einmal<br />
sind sogar Tränen geflossen – bei den Schüler*innen und mir<br />
nachdem unsere gemeinsame Woche um war. Mit einigen bin<br />
ich dann durch Social-Media und telefonisch in Kontakt geblieben.<br />
Und weil ich das Schulprojekt schon seit über drei Jahren<br />
leite, bekomme ich mit, was aus vielen dieser Schülerinnen<br />
geworden ist – manche erfüllen sich ihren Traum, von dem<br />
sie mir damals erzählt haben und machen eine Lehre, andere<br />
besuchen eine weiterführende Schule, aber egal, was aus ihnen<br />
beruflich wird, eines sind sie jetzt schon: Wundervolle Persönlichkeiten,<br />
die großen Eindruck bei mir hinterlassen haben. ●<br />
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