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BIBER 11_18 DA_AR (1)

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Die Klasse auf diesem Foto<br />

ist nicht diejenige, die im<br />

Text behandelt wird. Danke<br />

für die Kooperation, 4d,<br />

WMS Loquaiplatz. Ihr seid<br />

mindestens genauso toll!<br />

ÜBER SOZIAL ST<strong>AR</strong>KE KINDER<br />

Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“ gehe es zu wie in der Bronx. Die Wahrheit ist<br />

aber: Ich habe nirgends so herzliche, liebevolle Kinder kennengelernt wie an diesen Schulen.<br />

Von Melisa Erkurt<br />

Marko Mestrović<br />

Neulich stand ich nach einem schlechten Morgen<br />

in einer Klasse. Ich versuchte alles, damit die Kids<br />

meine Laune nicht bemerken. Sie waren so lieb<br />

in der Stunde, arbeiteten fleißig mit, fragten, was<br />

ich am Wochenende vorhabe und brachten mich mit Erzählungen<br />

von ihrem letzten Wochenende zum Lachen. Am Ende<br />

der Stunde sagte ein Schüler aus der ersten Reihe ganz leise<br />

zu mir: „Heute waren Sie traurig. Geht’s Ihnen schon besser?“<br />

Ich war gerührt, was waren das bloß für empathische Kinder.<br />

Aber das dachte ich mir nicht zum ersten Mal. Immer, wenn<br />

mich die aktuelle Debatte rund um die Bildungspolitik frustriert,<br />

ich den Glauben daran verliere, dass wir dieses Zwei-Klassen-<br />

Schulsystem jemals überwinden werden, gibt mir die Arbeit<br />

mit Kindern und Jugendlichen Hoffnung. Denn an<br />

all diesen sozioökonomisch schwächeren Schulen,<br />

auch Brennpunktschulen genannt, habe ich<br />

Kinder und Jugendliche mit den größten Herzen<br />

und tollsten Charakteren kennengelernt. Kinder,<br />

die mir in der Pause ihre Jause angeboten haben.<br />

Kinder, die mir Baklava mitgebracht haben („Die<br />

hat meine Mama für Sie gemacht, nachdem ich<br />

ihr von Ihnen erzählt habe“). Kinder, die sich nicht<br />

wegen Äußerlichkeiten über den anderen lustig<br />

gemacht haben. Oftmals waren Kinder dabei, bei<br />

denen ich wusste, so traurig es klingt, dass sie<br />

in einer anderen Schule beispielsweise wegen ihrer Kleidung<br />

gemobbt werden würden. Oder Mario, der zwei Köpfe kleiner<br />

als alle anderen war, er wurde von keinem seiner Schulkollegen<br />

aufgrund seiner Größe gehänselt, im Gegenteil, er wurde von<br />

seinen Mitschülern im Park „beschützt“. „Normal, er ist unser<br />

Bruder.“ Kinder, die noch Ärmeren ihr Jausengeld schenken.<br />

Kinder, die vor Freude weinen, weil sie sich so für ihre Freundin<br />

freuen, deren Mutter nach drei Jahren in Syrien endlich nach<br />

Österreich nachkommen darf. Kinder, die sich bei schlechten<br />

Noten trösten, die einander beim Elternabend nicht auslachen,<br />

weil der Papa nicht so gut Deutsch spricht, sondern füreinander<br />

dolmetschen. Kinder, die sich vor den anderen nicht schämen<br />

zuzugeben, dass sie gerade kein Geld fürs Kino haben,<br />

weil sie wissen, keiner wird sie deshalb schief anschauen.<br />

Melisa Erkurt tourt<br />

mit dem biber-Projekt<br />

„Newcomer“<br />

seit drei Jahren<br />

durch Wiener<br />

Schulklassen und<br />

berichtet regelmäßig<br />

über ihre<br />

Erfahrungen aus<br />

den Schulen.<br />

„HEISST <strong>DA</strong>S, <strong>DA</strong>SS WIR DUMM<br />

UND ASOZIAL SIND?“<br />

Ich weiß von vielen Lehrer*innen, dass sie aufgrund dieser<br />

Herzlichkeit der Kinder und deren Eltern viel lieber an solchen<br />

Schulen unterrichten, als an Schulen, an denen die Kinder auf<br />

sie herabsehen, weil sie „nur“ Lehrer sind und die eigenen<br />

Eltern etwas viel Besseres. Sie werden von den Eltern nicht in<br />

Frage gestellt, sie sprechen ihnen nicht ihre Kompetenzen ab<br />

und drohen bei einem „Nicht Genügend“ nicht mit Anwälten.<br />

Schulen, an denen den Kindern verboten wird, sich zu umarmen,<br />

so wie im Theresianum in Eisenstadt. Das ist natürlich ein<br />

Einzelfall und es gibt überall großartige Kinder und Jugendliche,<br />

aber diese Herzlichkeit, diese Dankbarkeit, das Mitgefühl<br />

und die Akzeptanz - das alles habe ich an diesen<br />

Schulen viel stärker als sonst wo erlebt. Und als<br />

mich Milan aus der 4b fragt, ob seine Schule denn<br />

eine dieser Brennpunktschulen sei, von denen<br />

alle immer reden und ob sozial schwach bedeutet,<br />

dass er und die anderen dumm sind, wird<br />

mir plötzlich ganz anders. Auch als die 13-jährige<br />

Kübra ihm erklärt, dass sozial schwach bedeute,<br />

dass sie nicht sozial sind, bin ich schockiert. Mir<br />

war nicht klar, was solche Begriffe bei den Kindern<br />

auslösen. Seitdem kläre ich diese riesengroßen<br />

Missverständnisse in jeder Klasse ganz schnell auf.<br />

Weil wenn diese Kinder und Jugendlichen etwas nicht sind,<br />

dann dumm und asozial. Tatsächlich sind sie so großartig, dass<br />

ich nach der gemeinsamen biber Newcomer-Woche mit ihnen<br />

nicht glauben mag, dass ich sie nicht mehr wiedersehe. Einmal<br />

sind sogar Tränen geflossen – bei den Schüler*innen und mir<br />

nachdem unsere gemeinsame Woche um war. Mit einigen bin<br />

ich dann durch Social-Media und telefonisch in Kontakt geblieben.<br />

Und weil ich das Schulprojekt schon seit über drei Jahren<br />

leite, bekomme ich mit, was aus vielen dieser Schülerinnen<br />

geworden ist – manche erfüllen sich ihren Traum, von dem<br />

sie mir damals erzählt haben und machen eine Lehre, andere<br />

besuchen eine weiterführende Schule, aber egal, was aus ihnen<br />

beruflich wird, eines sind sie jetzt schon: Wundervolle Persönlichkeiten,<br />

die großen Eindruck bei mir hinterlassen haben. ●<br />

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