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DIE STRENGE<br />
SCHWESTER<br />
Wenn deine Eltern kaum Deutsch sprechen, musst du<br />
eben auf Elternsprechtage der Geschwister gehen,<br />
im Mitteilungsheft unterschreiben und auch auf den<br />
Tisch hauen. Aus dem Alltag unserer Redakteurin<br />
Aadilah Amin.<br />
Habt ihr etwas zum Unterschreiben?“,<br />
fragte ich<br />
meine beiden Schwestern.<br />
„Nein.“, sagte Naziah und<br />
verschränkte ihre Arme. Sabira antwortete<br />
mir erst gar nicht, weil sie schon<br />
wieder am Träumen<br />
war. Sie sprang auf<br />
und wuselte durch die<br />
ganze Wohnung. Währenddessen<br />
hatte sich<br />
mein älterer Bruder,<br />
Musti, in seinem Zimmer<br />
eingeschlossen.<br />
Aus der Küche roch es<br />
nach Koriander, Chili,<br />
Kardamon oder Zimt,<br />
die meine Mutter in<br />
einem afghanischen<br />
Essen verschmelzen<br />
ließ. Mein Vater<br />
schaute sich wie<br />
jeden Tag nach seiner<br />
harten Arbeit auf der<br />
Baustelle die Nachrichten an. Er machte<br />
das bevorzugt sehr laut, was mich dazu<br />
veranlasste, ihn zu bitten, den Fernseher<br />
leiser zu stellen.<br />
„WUSSTE NICHT, WIE<br />
MAN EINEN STIFT HÄLT“<br />
Ganz normaler Alltag in meiner Familie.<br />
Meine Geschwister besuchten die Volksschule<br />
in Simmering. Meine Eltern, beide<br />
aufgewachsen in einem kleinen Dorf in<br />
Afghanistan, gingen nie zur Schule. Mein<br />
Vater, der als Soldat in seinem Heimatland<br />
arbeitete, brachte sich das Lesen<br />
und Schreiben selbst bei. Meine Mutter<br />
war bis zu ihrem 35. Lebensjahr eine<br />
Analphabetin. „Ich wusste am Anfang<br />
nicht, wie man einen Stift richtig hält“,<br />
erinnert sie sich. Aus diesem Grund<br />
wussten meine Eltern gar nicht, was ein<br />
Mitteilungsheft ist. Geschweige denn,<br />
dass sie in das Heft auch ihre Signatur<br />
setzen mussten. Aus diesem Grund war<br />
mein Heft versehen mit vielen „Fehlzeichen“,<br />
darauf machte mich meine<br />
Lehrerin recht bald aufmerksam.<br />
Aufgrund dieser Ausgangslage war<br />
es nicht weiter verwunderlich, dass ich<br />
als Zweitälteste, aber beste Schülerin,<br />
„<br />
Es war nicht<br />
weiter verwunderlich,<br />
dass ich<br />
als Zweitälteste,<br />
aber beste<br />
Schülerin, die<br />
Erziehung meiner<br />
Geschwister<br />
in die Hand<br />
nehmen musste.<br />
“<br />
die Erziehung meiner Geschwister in die<br />
Hand nehmen musste. Dazu gehörte<br />
auch der Gang zum Elternsprechtag, an<br />
den sich die wenigsten Schüler positiv<br />
erinnern. Nur war ich dieses Mal auf<br />
der anderen Seite. Nicht die Schülerin,<br />
die was ausgefasst hat, sondern die<br />
besorgte Schwester, die die Kritik an<br />
ihren Geschwistern einstecken musste.<br />
Oft kam ich Naziah auf die Schliche, die<br />
vor meiner Mutter<br />
beteuerte, dass sie<br />
brav ist und überhaupt<br />
nicht zum Elternsprechtag<br />
kommen<br />
müsse. Ich wurde<br />
misstrauisch, weil ich<br />
wusste, dass sie Probleme<br />
in Mathe hatte.<br />
Naziah hasste mich<br />
dafür. Aber ich musste<br />
streng zu ihr sein. Als<br />
Erziehungsberechtigte.<br />
Manchmal habe ich<br />
aber ein Auge zugedrückt.<br />
„Bitte sag nicht<br />
Mama, dass ich einen<br />
Fünfer bekomme oder<br />
gefährdet bin. Sie wird traurig sein“,<br />
flehte mich Naziah an. Ich spielte oft<br />
mit. Wenn meine Mutter mich fragte:<br />
„Gut oder nicht?“,<br />
log ich sie an und<br />
sagte: „Du weißt wie<br />
gut sie in Mathe ist,<br />
unser Zahlengenie.“<br />
Meine Verantwortung<br />
ging so weit, dass ich<br />
sogar in die Rolle des<br />
Vormunds für meinen<br />
älteren Bruder schlüpfte.<br />
Ihr könnt euch<br />
sicher vorstellen, wie<br />
die Lehrer geschaut<br />
haben, als sie eine drei<br />
Jahre jüngere Schwester<br />
als Elternersatz sahen. Mein Bruder<br />
war 16, ich gerade 13. Irritationen waren<br />
vorprogrammiert.<br />
EINE STUNDE<br />
FUSSM<strong>AR</strong>SCH ZUR<br />
SCHULE<br />
Zu dieser Zeit musste ich nicht nur<br />
die strenge Schwester spielen und zu<br />
Elternsprechtagen gehen. Auch das<br />
Unterschreiben im Namen meiner Eltern<br />
„<br />
Natürlich wusste<br />
niemand<br />
außer mir, dass<br />
mein Bruder<br />
selbst seine Mitteilungshefte<br />
unterschrieb.<br />
“<br />
gehörte nun zu meinen Kompetenzen.<br />
Die Unterschrift meines Vaters zu<br />
fälschen – das hatte ich von meinem<br />
großen Bruder gelernt. Natürlich wusste<br />
niemand außer mir im Haus, dass mein<br />
Bruder selbst seine Mitteilungshefte<br />
unterschrieb. Er war abgebrüht und viel<br />
zu reif für sein Alter. Das kann auch<br />
daher kommen, dass er in Afghanistan<br />
über eine Stunde zur Schule marschieren<br />
musste. Ich sah mir seine Bewegungen<br />
genau an, wie er die Unterschrift meines<br />
Vaters nachzog, und hatte kurze Zeit<br />
später den Dreh raus. Zur Freude meiner<br />
Geschwister, die von nun an immer zu<br />
mir mit ihren schlechten Noten kamen.<br />
Sie schleimten sich sogar bei mir ein,<br />
damit ich nichts weitererzählte. „Wow,<br />
du kannst das so gut, dabei ist die<br />
Unterschrift des Vaters auf Persisch so<br />
schwer“, schwärmten meine Geschwister.<br />
Auch wenn ich wusste, dass es ein<br />
Teil ihres Plans ist, machten mich ihre<br />
Worte stolz und motivierten mich für<br />
weitere Elterntaten.<br />
Heute, rund zehn Jahre später, hat<br />
mein Bruder, Musti, die HTL abgeschlossen.<br />
Die Schwestern Naziah, Sabira und<br />
ich haben das Gymnasium erfolgreich<br />
absolviert. Ich muss zähneknirschend<br />
zugeben, dass die beiden Mädels sogar<br />
schneller mit ihrem<br />
Studium vorankommen<br />
als ich es tue.<br />
Naziah wird nächstes<br />
Jahr ihren Bachelor<br />
machen, Sabira<br />
paukt Tag und Nacht<br />
für ihr Studium der<br />
Rechtswissenschaften.<br />
Zuallerletzt sollte<br />
unser Jüngster, Mahdi,<br />
nicht unerwähnt bleiben.<br />
Er ist heute neun<br />
Jahre alt und geht<br />
in die vierte Klasse<br />
Volksschule. Heute kümmert sich meine<br />
Schwester Sabira um seine schulischen<br />
Angelegenheiten.<br />
Meine Geschwister sind der wichtigste<br />
Grund, wieso ich lebe. Früher<br />
war ich ihre Stütze, heute sind sie mein<br />
Anker im Leben. Sie sind alles, was ich in<br />
meinem Herzen festhalten möchte. ●<br />
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