Stadt der Zukunft - Deutscher Bundesjugendring
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3/2009<br />
12<br />
Lebensalltag und Lebensbiografie<br />
Freiräume sind fast unendlich groß – eigentlich immer zu groß<br />
Von Markus Etscheid-Sams<br />
Nie zuvor gab es so viele Fernsehprogramme,<br />
durch die sich <strong>der</strong> 16-jährige<br />
Devrim zappen konnte, während er seinem<br />
besten Freund Pascal eine SMS schreibt. Zur<br />
gleichen Zeit freut sich Carola wohl artikuliert<br />
über das gerade erschienene Werkverzeichnis des<br />
Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy mit<br />
über 400 neuen, bisher teils unbekannten Werken,<br />
<strong>der</strong>weil ihr Bru<strong>der</strong> Christopher Cello übt. Felix<br />
twittert gerade das Neueste aus <strong>der</strong> Bundestagsdebatte,<br />
die er live bei Phoenix verfolgt, bevor sein<br />
Gezwitscher zwischen den unzähligen Kurznachrichten<br />
und Blogs vermeintlich verloren geht. Er<br />
schlürft seinen fair gehandelten Kaffee, als sich<br />
Dennis und Nicole im Chat zum Online-Pokern in<br />
<strong>der</strong> Nacht verabreden. Zeitgleich steigt Marie aus<br />
dem Flugzeug in Edinburgh, um eine Freundin zu<br />
besuchen, ärgert sich, dass Schottland den Euro<br />
nicht hat und zahlt ihren Kaffee schließlich mit ihrer<br />
Visa-Card, indes Pia anruft, die gerade in Pisa<br />
studiert.<br />
Die jungen Frauen und Männer von heute sind<br />
unterschiedlich. Sie sind keine dichte soziale Einheit,<br />
die mit irgendeinem Catch-all-Begriff erfassbar<br />
wäre. Es gibt nicht die Generation Praktikum,<br />
nicht die Generation Doof. Es handelt sich<br />
we<strong>der</strong> um eine „Jugend ohne Charakter“ noch um<br />
eine durchweg und gleichermaßen „pragmatische<br />
Generation“ (Shell-Studie 2006). – Die Verschiedenheit<br />
scheint das Gemeinsame, das Unterscheidende<br />
das Verbindende!<br />
Dieser Entwicklung möchte ich nachgehen.<br />
Zuerst <strong>der</strong> Blick zurück: Es geht um eine Skizze<br />
gesellschaftlicher, soziologischer und entwicklungspsychologischer<br />
Ursachen. In vier Bereichen<br />
werden Pluralisierungsbewegungen beschrieben.<br />
Dann <strong>der</strong> Blick nach vorn: Welche Herausfor<strong>der</strong>ungen<br />
ergeben sich daraus? Dazwischen, in <strong>der</strong><br />
Mitte – die Jugendlichen! Denn jenseits je<strong>der</strong> Studie,<br />
je<strong>der</strong> These und (soziologischen) Schublade<br />
geht es um die Menschen. Dieses personale Prinzip<br />
gilt einmal mehr in <strong>der</strong> Situation, in <strong>der</strong> junge<br />
Menschen immer diffiziler von einan<strong>der</strong> abgegrenzte<br />
Individuen sind, sein müssen o<strong>der</strong> wollen.<br />
So geht es um die große Freiheit, auf die junge<br />
Menschen im angebrochenen 21. Jahrhun<strong>der</strong>t tref-<br />
fen. Eine Freiheit, die mal lebendig und kreativ<br />
macht, mal zögerlich-ängstlich und die neben den<br />
Gewinnern auch Randständige kennt.<br />
Wertepluralität<br />
Mit <strong>der</strong> Globalisierung fing vielleicht alles an:<br />
Die zugänglichen Wertekonstrukte werden quantitativ<br />
mehr und qualitativ differenzierter. Migration<br />
und schnellere Kommunikationswege unterstützen<br />
diese Pluralisierung <strong>der</strong> Werthaltungen.<br />
Die heutige Jugend teilt nicht das eine bündige<br />
Wertesystem miteinan<strong>der</strong>. Der einzelne junge<br />
Mensch wächst nicht mehr automatisch in ein bestehendes,<br />
gesellschaftlich breit getragenes Regelwerk<br />
hinein. Die Zeit solcher großen kollektiven<br />
Orientierungen – wie sie zum Beispiel durch<br />
die Volkskirchen gegeben waren – ist längst vorbei.<br />
Das Individuum ist zum „kulturellen Selbstversorger“<br />
(Niklas Luhmann) geworden.<br />
Doch geht diese Marginalisierung <strong>der</strong> klassischen<br />
Sozialisationsinstanzen wie Familie o<strong>der</strong><br />
Kirche nicht mit einem breiten Verlust von Anstand<br />
und Moral einher. Wer aufmerksam ist und<br />
bereit, den eigenen Standpunkt zu verlassen und<br />
einen an<strong>der</strong>en Blickwinkel einzunehmen, <strong>der</strong> stößt<br />
auf eine Pluralität von Wertorientierungen, die je<br />
nach eigenem Ausgangspunkt zunächst richtiger<br />
(im Sinne von wert-voller) und damit auch plausibler<br />
wirken – o<strong>der</strong> gerade nicht. Die Vielfalt ist<br />
hier das Spannende. Der „Selbstversorger“ hat<br />
die Möglichkeit, aus allen Kulturen, Regionen<br />
und Religionen zu wählen und zu rekombinieren,<br />
was ihm wichtig und richtig erscheint. So entstehen<br />
schier unbegrenzt viele individuelle Wertkomplexe.<br />
Pluralisierung <strong>der</strong> Lebensorte<br />
Gestiegene Wahlmöglichkeiten betreffen alle<br />
Bereiche des Lebens: Es geht nicht allein um<br />
grundsätzliche und abstrakte Fragen von Werten,<br />
Normen und Religiosität, son<strong>der</strong>n um ganz alltägliche,<br />
scheinbar belanglose Fragen. So kann<br />
ich lange vor einem Regal mit unzähligen Zahnpasta-Sorten<br />
stehen, bis ich zu einer Entscheidung<br />
komme, die mein Leben vermutlich wenig be-<br />
Jugend politik