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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 76 · M ontag, 1. April 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
„Rufmord“: Prämierter<br />
ZDF-Film über Cybermobbing<br />
in der Schule<br />
Seite 23<br />
„Die Grenze zwischen West und Ost war nicht die Oder.“<br />
Arno Widmannzum 90. Geburtstag des mitteleuropäischen Schriftstellers Milan Kundera Seite 22<br />
Verstrickung<br />
Ein Brief an<br />
Wolf Biermann<br />
PetraKohse<br />
hat Daniel Krugs<br />
bittere Vorwürfe gelesen.<br />
Daniel Krug hat einen Brief geschrieben.<br />
Einen offenen. An<br />
Wolf Biermann. „Es wirddir wurscht<br />
sein, aber meinen Respekt hast du<br />
verspielt!“, schreibt der Sohn von<br />
Manfred Krug darin als ersten Satz.<br />
Es gab also einmal Respekt, aber einen,<br />
von dem der Schreiber nicht<br />
annimmt, dass er je erwidertworden<br />
wäre. Hier spricht einer, der schon<br />
lange gekränkt ist. Anlass des Schreibens<br />
ist Biermanns Buch „Barbara“,<br />
ein Band mit Novellen, in denen er<br />
Begegnungen und Personen literarisch<br />
überformt, und in dem es auch<br />
einen Text über Manfred Krug gibt.<br />
In bitterem Tonkritisiert Daniel<br />
Krug, dass Biermann seinen vor<br />
zweieinhalb Jahren verstorbenen<br />
Vater im Buch als „Freund“ bezeichne,<br />
obwohl es kaum Kontakt<br />
zwischen beiden Künstlern gegeben<br />
habe.Und obwohl er ihn gleichzeitig<br />
um einer Pointe willen ans Messer<br />
liefereund als„protzenden Angeber“<br />
und „prügelnden Primitivling“ schildere.<br />
Außerdem kolportiere Biermann<br />
zwar korrekt, dass Krug Freunden<br />
gegenüber einmal verkündet<br />
habe„Ich bin jetzt Millionär!“, unterschlage<br />
dabei aber, dass dies ironisch<br />
gemeint gewesen sei.<br />
DasAndenken Manfred Krugs,so<br />
sein Sohn, sei durch Biermann beschädigt.<br />
Und dies aus „Neid“ und<br />
als „Retourkutsche für zu wenig erwiderte<br />
Aufmerksamkeit und Liebe“.<br />
Warum habe er den Text der Familie<br />
nicht wenigstens vorher gezeigt? „Da<br />
ich ja kein Anfänger bin, lüge ich<br />
nicht mit Lügen, sondern nur mit<br />
Wahrheiten“, sagte Wolf Biermann<br />
über sein Buch am 16. März inder<br />
<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>. Andererseits endet<br />
die künstlerische Freiheit dort, wo<br />
Persönlichkeitsrechte verletzt werden.<br />
Ist Daniel Krug an einer juristischen<br />
Klärung interessiert? Oder<br />
reicht es ihm, dass sein Protest jetzt<br />
eine Fußnote des Biermann-Buches<br />
ist? Mit etwas Glück wird umgekehrt<br />
auch dieser auf eine Anzeige wegen<br />
Beleidigung verzichten. Die Verstrickung<br />
würde durch jeden Schritt voneinanderwegjanur<br />
immer größer.<br />
Der Spielverderber<br />
Deutsches Theater: Anne Lenk inszeniert Molières „Menschenfeind“ mit Ulrich Matthes in der Titelrolle<br />
VonUlrich Seidler<br />
So richtig lustig ist die Humorlosigkeit<br />
dieses Alceste<br />
nicht. Molières titelgebender<br />
Menschenfeind wird eigentlich<br />
zur Lachnummer, weil er<br />
von einem Ehrlichkeitsfimmel erfasst<br />
ist und jegliche Höflichkeit als<br />
Lüge ablehnt. Ob in der höfischen<br />
Kultur des 17. Jahrhunderts oder in<br />
der Kommunikation über soziale<br />
Medien heute: Wersich nicht an die<br />
Spielregeln eines öffentlichen Miteinanders<br />
hält, über den macht man<br />
sich lustig –schon um sich so einen<br />
übergriffigen Prinzipienreiter vom<br />
Leibe zu halten.<br />
In dem Stück –esgilt als eines der<br />
zu Molières Lebzeiten weniger erfolgreichen<br />
und zugleich als sein autobiografischstes<br />
–ist der Spielverderber<br />
Alceste von Gefühlen für<br />
Célimène ergriffen, von seinen Gefühlen<br />
wohlbemerkt, weniger von<br />
Célimène persönlich. Ihre Hingabe<br />
soll exklusiv und bedingungslos sein<br />
und seine Liebe ihr alles auf der Welt<br />
ersetzen können. Als sie sich weigert,<br />
mit ihm die Einsamkeit zu suchen,<br />
den Menschen den Rücken zu kehren,<br />
ist er bis ins Tiefste verletzt und<br />
stößt sie vonsich.<br />
Käfig ohne Narren<br />
Wiewohl Célimène am Anfang nicht<br />
abgeneigt ist, bringt sie sich vor diesem<br />
emotionalen Totalitarismus<br />
hinter zahlreichen Verehrern inDeckung.<br />
Gerade findet die junge<br />
Witwe zurück ins Leben, was im<br />
Deutschen Theater in der Inszenierung<br />
von Anne Lenk nicht so leicht<br />
ist. Hier ist die Welt ein schwarzer<br />
tür- und fensterloser Käfig mit Gitterwänden<br />
aus Gummilitzen<br />
(Bühne: Florian Lösche), durch die<br />
man auf die Bühne schlüpfen und in<br />
alle Richtungen wieder entschwinden<br />
kann. Draußen lauert das<br />
schwarze Nichts.<br />
Alles in dieser farblosen Leere<br />
steht und fällt mit dem durchaus eher<br />
flachen Humor der Mitinsassen –sie<br />
sind, wenn auch nur in Grautönen, so<br />
doch extravagant und betont dreidimensional<br />
gekleidet (Kostüme: Sibylle<br />
Wallum). Sie scheinen sich damit<br />
gegen das brutale weiße Kunstlicht<br />
wehren zu wollen. Es zerschneidet<br />
die Kastenwelt zuweilen in<br />
vertikale Streifen, sodass die Figuren<br />
Werden kein Paar:Alceste und Célimène (Ulrich Matthes, Franziska Machens).<br />
sich in barcodeartige körperlose Gestalten<br />
auflösen, die nur aus in Reimen<br />
gebundener Sprache bestehen.<br />
Werwollte da mit einem wie Alceste<br />
allein sein? Undwas würde der überhaupt<br />
noch sagen, wenn er niemanden<br />
hätte, über den er sich aufregen<br />
und erheben könnte?<br />
Ulrich Matthes tut, wofür man ihn<br />
sonst feiert, also alles,umseine Figur<br />
nicht für ein paar Pointen zu denun-<br />
ARNO DECLAIR<br />
zieren. Diese Art, mit der er dem<br />
leicht zu habenden Humor ausweicht,<br />
um der Figur Wahrhaftigkeit<br />
zu verleihen, erhebt ihn auf eine moralisch<br />
höhere Stufe der schauspielerischen<br />
Eitelkeit: sehr löblich und<br />
passend zum Spielverderber Alceste –<br />
aber eben doch Spielverderberei. „In<br />
IhremKampf gegen die menschliche<br />
Natur /Werden Sie selbst schon zur<br />
komischen Figur“, warnt Philinte<br />
(Manuel Harder) seinen Freund Alceste.Und<br />
was antwortet unser Menschen-<br />
und also auch Zuschauerfeind?„Das<br />
will ich ja. Dasist ein gutes<br />
Zeichen./ Das freut mich. Genau das<br />
wollte ich erreichen.“ Humorlosigkeit,<br />
die absichtlich komisch sein will<br />
statt unfreiwillig? Nö, so macht es keinen<br />
Spaß,jemanden auszulachen.<br />
DasZuschauerherzgehörtden gockelhaften<br />
Kavalieren, die mit Alceste<br />
um Célimène konkurrieren – was<br />
Matthes’ Kollegen mit herzerfrischend<br />
niedriger schauspielerischer<br />
Eitelkeit vorführen: Elias Arens wirft<br />
als ausgezehrter Clitandre seine langen<br />
Fettsträhnen, Jeremy Mockridge<br />
flötet als weggetreten durchleuchteterNarziss<br />
denFrauenhinterher, und<br />
allen voran wirft sich Timo Weisschnur,der„dicke<br />
Dichter“ Oronte,in<br />
einem Blouson-Anzug und zierlichen<br />
Wappen-Pantoletten in Pose. Erlässt<br />
weich das Becken kreisen und glättet<br />
das Gesicht zueinem sonnigen Lächeln,<br />
das seiner bescheidenen Meinung<br />
nach alle Welt für ihn einnehmen<br />
müsste.Alle Welt spielt mit –außer<br />
Alceste, der Orontes Sonett auf<br />
ehrabschneidendeWeise kritisiertund<br />
für diesen Verriss vor das Schiedsgericht<br />
geladen wird (glücklich überwundene<br />
Praxis,Anm. d. Kritikers).<br />
Diplomatin im Parkett<br />
Diese Gockeleien sind fröhliche Karikatur;<br />
richtig ernst und verletzend<br />
wirdeserst in der Liebe.DreiFrauen<br />
macht Alceste mit seinem Moral-Ego<br />
unglücklich: die verlangend tugendhafte,<br />
von der Männerwelt enttäuschte<br />
Arsinoé (Judith Hofmann);<br />
die ihm offenherzig nacheifernde<br />
Éliante (Lisa Hrdina), die Alceste nur<br />
als Mittel zur Rache an Célimène zu<br />
missbrauchen versucht, und eben<br />
Célimène, gespielt von Franziska<br />
Machens. DasEntsetzen, das ihr Gesicht<br />
entstellt, als sie am Ende bemerkt,<br />
wem sie da gerade noch von<br />
derSchippe springt, bleibt haften.<br />
Das Publikum –die diplomatisch<br />
durchtrainierte Angela Merkel saß in<br />
der Premiere, um Alceste zu belächeln<br />
–war wohl glücklich über den<br />
ästhetisch übersichtlichen, auf die<br />
Kraft der Sprache vertrauenden<br />
Abend. Man applaudierte lang und<br />
freudig –auf wessen Kosten?<br />
DerMenschenfeind 4., 16., 20.April,19.30Uhr,<br />
DeutschesTheater,Karten: 28441225<br />
NACHRICHTEN<br />
Kirill Serebrennikow erhält<br />
russischen Filmpreis<br />
Derunter Hausarrest stehende russische<br />
Regisseur Kirill Serebrennikow<br />
ist für seinen Kinofilm „Leto“ mit einem<br />
der wichtigsten Filmpreise des<br />
Landes ausgezeichnet worden. „Ich<br />
hoffe ernsthaft, dass es das letzte Mal<br />
ist, dass Kirill Serebrennikowseinen<br />
eigenen Preis nicht abholen kann“,<br />
sagte der Produzent, Ilja Stewart, bei<br />
der Verleihung der „Nika“ für die<br />
beste Regiearbeit am Sonnabend in<br />
Moskau. Serebrennikowwurde im<br />
Sommer 2017 wegen angeblicher<br />
Unterschlagung vonFördergeldern<br />
festgenommen. (dpa)<br />
Ernest-Hemingway-Archiv<br />
in Kuba eröffnet<br />
DerNachlass vonErnest Hemingway<br />
(1899–1961) wirdkünftig im<br />
ehemaligen Anwesen des US-<br />
Schriftstellers in Kuba gepflegt. Ein<br />
Archiv mit Beständen des Literatur-<br />
Nobelpreisträgers wurde am Sonnabend<br />
in seinem einstigen Wohnsitz<br />
in der Hauptstadt Havanna eröffnet,<br />
wie die nach dem Anwesen benannte<br />
Stiftung Finca Vigía mitteilte.<br />
Beider Eröffnung übte der US-Kongressabgeordnete<br />
James McGovern<br />
heftige Kritik an der Kuba-Politik der<br />
Regierung vonUS-Präsident Donald<br />
Trump: Es gebe „keinen guten und<br />
vernünftigen Grund“, warum die<br />
beiden Staaten keine normalen Beziehungen<br />
unterhalten sollten. Gladys<br />
Collazo, Leiterin des kubanischen<br />
Rats für Kulturerbe,bezeichnete<br />
die Einrichtung des Archivs als<br />
Resultat der Zusammenarbeit zwischen<br />
„Menschen guten Willens,die<br />
jedem Druck standhalten“. (AFP)<br />
Chöre und Orchester gründen<br />
gemeinsamen Dachverband<br />
Diebeiden Dachverbände der Chöre<br />
und der Amateurorchester in<br />
Deutschland haben sich in Gotha zu<br />
einem gemeinsamen Dachverband<br />
zusammengeschlossen. DerBundesmusikverband<br />
Chor &Orchester<br />
e.V. vertritt etwa drei Millionen Musiker<br />
in rund 100 000 Ensembles,wie<br />
das Unternehmen Kultourstadt Gotha<br />
mitteilte.Geschäftsstellen soll es<br />
in Berlin und Trossingen (Baden-<br />
Württemberg) geben. (dpa)<br />
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