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Touring Juli/August 2019

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UNTERWEGS MIT<br />

MARC ATALLAH<br />

Science-Fiction als<br />

Behüterin unserer Mobilität<br />

Marc Atallah, Experte für Science-Fiction an der Uni Lausanne,<br />

leitet in Yverdon-les-Bains das Science-Fiction-Museum<br />

«Maison d’Ailleurs». Er teilt uns seine Gedanken zum Verkehr<br />

von morgen mit. Ein Plädoyer für postliberale Reife.<br />

TEXT JÉRÔME LATHION | FOTO OLIVIER VOGELSANG<br />

Auf unsere Bitte, ein Bild<br />

von der Mobilität der Zukunft<br />

zu zeichnen, erwarteten<br />

wir, von fliegenden<br />

Autos und Überschallzügen zu hören.<br />

Und dann endet das Gespräch<br />

mit einem Loblied auf Bewegung<br />

zu Fuss und Tiergespanne!<br />

Worte aus dem Munde Marc Atallahs<br />

(41 Jahre) – seit 2011 ist er für<br />

das Maison d’Ailleurs in Yverdonsles-Bains<br />

verantwortlich – überraschen.<br />

Das Museum birgt mehr als<br />

100 000 Sammelstücke zu den Themen<br />

Science-Fiction (Sei-Fi), Utopie<br />

und aussergewöhnliche Reisen.<br />

Dazu kommen etwa 20 000 Dokumente<br />

rund um den französischen<br />

Schriftsteller Jules Verne (1828–<br />

1905). Der 2008 in Science-Fiction -<br />

Literatur promovierte Geisteswissenschaftler<br />

ist Lehr- und<br />

Forschungsbeauftragter an der<br />

Universität Lausanne (UNIL).<br />

Der Forscher betont vorab: «Sei-Fi<br />

regt zu Überlegungen über die Auswirkungen,<br />

die einer Gesellschaft<br />

zugrundeliegende Kräfte auf den<br />

Menschen haben, an. War die Mobilität<br />

in der Literatur des 19. Jahrhunderts<br />

sehr präsent, wie Jules<br />

Verne zeigt, sei das Thema in der<br />

gegenwärtigen Fachrichtung nicht<br />

mehr so «funky». Zwei Lehren<br />

zeichnen sich ab: «Zum einen wird<br />

die Verkehrsverdichtung thematisiert,<br />

zum andern der Mangel an<br />

Ressourcen. Das ist der sogenannte<br />

postapokalyptische Trend. Beide<br />

Strömungen sind für die Literatur<br />

interessant.»<br />

Fragwürdiges Modell<br />

Ihm zufolge kann die Mobilität<br />

nicht ohne sozioökonomischen<br />

Kontext betrachtet werden. Persönlich<br />

gibt sich Marc Atallah angesichts<br />

der Entwicklung unserer<br />

gedanklich liberal geprägten<br />

Gesellschaft pessimistisch: «Wir<br />

haben seit dem 19. Jahrhundert<br />

eine utopische, individualistische<br />

Welt geschaffen, die keine Grenzen<br />

kennt und auf sofortiger Bedürfnisbefriedigung<br />

beruht.» Und nichts<br />

deute darauf hin, dass man sich davon<br />

distanzieren möchte, trotz der<br />

technologischen Versprechen einer<br />

nahen Zukunft. Das Elektroauto?<br />

«Ja, es ist umweltfreundlich, doch<br />

es soll immer noch schnell, geräumig<br />

und vor allem individuell sein.»<br />

Autonome Mobilität? «Das Hauptargument<br />

besteht darin, dass der<br />

Nutzer seine Arbeitszeit verlängern<br />

kann, indem er telefoniert, seine<br />

E-Mails beantwortet und isst. Eine<br />

zusätzliche Entfremdung also.»<br />

Und ganz nebenbei fragt sich der<br />

Intellektuelle, ob es wirklich sinnvoll<br />

ist, dem Unmut der Stau verursachenden<br />

Autofahrer zu begegnen,<br />

indem man ihnen systematisch<br />

neue Verkehrsinfrastrukturen zur<br />

Verfügung stellt.<br />

«Man stellt die falschen Fragen,<br />

und stets mit dem gleichen Denkmuster»,<br />

bedauert er. Die Situation<br />

wird unhaltbar, doch man will es<br />

nicht sehen. Der Vorteil von Sei-Fi<br />

besteht darin, ihre Konsequenzen<br />

auf die Gesellschaft aufzuzeigen<br />

und eine andere Denkweise zu<br />

ermöglichen.» Ein Hoffnungsstrahl<br />

bleibt dennoch: «Seit Voltaire<br />

wissen wir, dass der Mensch in<br />

einer freien Gesellschaft fähig ist,<br />

sein Schicksal zu bestimmen.»<br />

Der Zeit neu entdecken<br />

Auf die Frage, in welches Fahrzeug<br />

der Zukunft er in seinen Träumen<br />

einsteigen würde, sagt Marc<br />

Atallah: «Es stünde im Einklang mit<br />

einer Welt der wiedergefunden<br />

Würde, die es einem erlaubt, den<br />

Fluss der Zeit zu spüren. In einer<br />

solchen Welt, die auch Frustration<br />

oder gar Langeweile zuliesse,<br />

würde man das Vergnügen am Gehen<br />

und – warum auch nicht – an<br />

Pferdekutschen neu entdecken.» ◆<br />

«Man stellt die falschen Fragen,<br />

und immer mit dem gleichen<br />

Denkmuster»<br />

Marc Atallah<br />

Direktor Maison d’Ailleurs, Lehr- und<br />

Forschungsrat an der Fakultät<br />

für Literatur der Universität Lausanne<br />

Der Sci-Fi-Experte träumt<br />

von einer Gesellschaft,<br />

die frei ist von der<br />

Tyrannei der Schnelligkeit<br />

94 touring | <strong>Juli</strong> / <strong>August</strong> <strong>2019</strong>

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