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UNTERWEGS MIT<br />
MARC ATALLAH<br />
Science-Fiction als<br />
Behüterin unserer Mobilität<br />
Marc Atallah, Experte für Science-Fiction an der Uni Lausanne,<br />
leitet in Yverdon-les-Bains das Science-Fiction-Museum<br />
«Maison d’Ailleurs». Er teilt uns seine Gedanken zum Verkehr<br />
von morgen mit. Ein Plädoyer für postliberale Reife.<br />
TEXT JÉRÔME LATHION | FOTO OLIVIER VOGELSANG<br />
Auf unsere Bitte, ein Bild<br />
von der Mobilität der Zukunft<br />
zu zeichnen, erwarteten<br />
wir, von fliegenden<br />
Autos und Überschallzügen zu hören.<br />
Und dann endet das Gespräch<br />
mit einem Loblied auf Bewegung<br />
zu Fuss und Tiergespanne!<br />
Worte aus dem Munde Marc Atallahs<br />
(41 Jahre) – seit 2011 ist er für<br />
das Maison d’Ailleurs in Yverdonsles-Bains<br />
verantwortlich – überraschen.<br />
Das Museum birgt mehr als<br />
100 000 Sammelstücke zu den Themen<br />
Science-Fiction (Sei-Fi), Utopie<br />
und aussergewöhnliche Reisen.<br />
Dazu kommen etwa 20 000 Dokumente<br />
rund um den französischen<br />
Schriftsteller Jules Verne (1828–<br />
1905). Der 2008 in Science-Fiction -<br />
Literatur promovierte Geisteswissenschaftler<br />
ist Lehr- und<br />
Forschungsbeauftragter an der<br />
Universität Lausanne (UNIL).<br />
Der Forscher betont vorab: «Sei-Fi<br />
regt zu Überlegungen über die Auswirkungen,<br />
die einer Gesellschaft<br />
zugrundeliegende Kräfte auf den<br />
Menschen haben, an. War die Mobilität<br />
in der Literatur des 19. Jahrhunderts<br />
sehr präsent, wie Jules<br />
Verne zeigt, sei das Thema in der<br />
gegenwärtigen Fachrichtung nicht<br />
mehr so «funky». Zwei Lehren<br />
zeichnen sich ab: «Zum einen wird<br />
die Verkehrsverdichtung thematisiert,<br />
zum andern der Mangel an<br />
Ressourcen. Das ist der sogenannte<br />
postapokalyptische Trend. Beide<br />
Strömungen sind für die Literatur<br />
interessant.»<br />
Fragwürdiges Modell<br />
Ihm zufolge kann die Mobilität<br />
nicht ohne sozioökonomischen<br />
Kontext betrachtet werden. Persönlich<br />
gibt sich Marc Atallah angesichts<br />
der Entwicklung unserer<br />
gedanklich liberal geprägten<br />
Gesellschaft pessimistisch: «Wir<br />
haben seit dem 19. Jahrhundert<br />
eine utopische, individualistische<br />
Welt geschaffen, die keine Grenzen<br />
kennt und auf sofortiger Bedürfnisbefriedigung<br />
beruht.» Und nichts<br />
deute darauf hin, dass man sich davon<br />
distanzieren möchte, trotz der<br />
technologischen Versprechen einer<br />
nahen Zukunft. Das Elektroauto?<br />
«Ja, es ist umweltfreundlich, doch<br />
es soll immer noch schnell, geräumig<br />
und vor allem individuell sein.»<br />
Autonome Mobilität? «Das Hauptargument<br />
besteht darin, dass der<br />
Nutzer seine Arbeitszeit verlängern<br />
kann, indem er telefoniert, seine<br />
E-Mails beantwortet und isst. Eine<br />
zusätzliche Entfremdung also.»<br />
Und ganz nebenbei fragt sich der<br />
Intellektuelle, ob es wirklich sinnvoll<br />
ist, dem Unmut der Stau verursachenden<br />
Autofahrer zu begegnen,<br />
indem man ihnen systematisch<br />
neue Verkehrsinfrastrukturen zur<br />
Verfügung stellt.<br />
«Man stellt die falschen Fragen,<br />
und stets mit dem gleichen Denkmuster»,<br />
bedauert er. Die Situation<br />
wird unhaltbar, doch man will es<br />
nicht sehen. Der Vorteil von Sei-Fi<br />
besteht darin, ihre Konsequenzen<br />
auf die Gesellschaft aufzuzeigen<br />
und eine andere Denkweise zu<br />
ermöglichen.» Ein Hoffnungsstrahl<br />
bleibt dennoch: «Seit Voltaire<br />
wissen wir, dass der Mensch in<br />
einer freien Gesellschaft fähig ist,<br />
sein Schicksal zu bestimmen.»<br />
Der Zeit neu entdecken<br />
Auf die Frage, in welches Fahrzeug<br />
der Zukunft er in seinen Träumen<br />
einsteigen würde, sagt Marc<br />
Atallah: «Es stünde im Einklang mit<br />
einer Welt der wiedergefunden<br />
Würde, die es einem erlaubt, den<br />
Fluss der Zeit zu spüren. In einer<br />
solchen Welt, die auch Frustration<br />
oder gar Langeweile zuliesse,<br />
würde man das Vergnügen am Gehen<br />
und – warum auch nicht – an<br />
Pferdekutschen neu entdecken.» ◆<br />
«Man stellt die falschen Fragen,<br />
und immer mit dem gleichen<br />
Denkmuster»<br />
Marc Atallah<br />
Direktor Maison d’Ailleurs, Lehr- und<br />
Forschungsrat an der Fakultät<br />
für Literatur der Universität Lausanne<br />
Der Sci-Fi-Experte träumt<br />
von einer Gesellschaft,<br />
die frei ist von der<br />
Tyrannei der Schnelligkeit<br />
94 touring | <strong>Juli</strong> / <strong>August</strong> <strong>2019</strong>