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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 189 · F reitag, 16. August 2019 3 *<br />
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Seite 3<br />
Nächste Abfahrt<br />
Einsamkeit<br />
IM OSTEN GEHT DER<br />
SOMMER AUF<br />
Die Sommerserie der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,Teil 9<br />
Auf der Suche nach dem Sommer –wir starten in Berlin und reisen in den<br />
nahen Osten. Das neunte Ziel unserer Serie: Lederhose in Thüringen.<br />
Ein durchaus verheißungsvolles Schild an der Autobahn nach München –<br />
und ein Ort, dessen Namen schon viele Vorbeifahrende gelesen haben.<br />
Wiesieht es denn aus, das Städtchen? Und wie lebt es sich dort?<br />
Text:Marcus Weingärtner;Fotos: Volkmar Otto<br />
Ach, Lederhose, kenne ich. Das hörte ich oft,<br />
wenn ich von meinem geplanten Sommer-<br />
Trip nach Thüringen erzählte. Anfangs erwartete<br />
ich noch erhellende Anekdoten<br />
über den Ort. Doch schon bald hatte ich begriffen,<br />
dass niemand jemals in Lederhose war. Alle kannten<br />
den Namen nur von dem Schild an der A9, der Autobahn,<br />
die Berlin mit München verbindet. Immer<br />
schon habe man dort abfahren und sich Lederhose<br />
ansehen wollen, wurde mir versichert.<br />
Auf nach Lederhose also, einer muss es ja tun. Mit<br />
dem Auto benötigt man vonBerlin aus rund drei Stunden<br />
für die 217 Kilometer, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
ein wenig länger. Esgeht über Leipzig<br />
nach Gera und vondortaus dann mit dem Linienbus<br />
durchs Grüne nach Großebersdorf, das ist ein Ortsteil<br />
von Harth-Pöllnitz, der Gemeinde, die an Lederhose<br />
grenzt und mit rund 2800 Einwohnernrund zehnmal<br />
so groß ist wie das Ausflugsziel.<br />
Lederhose,das zum Landkreis Greiz gehört, ist also<br />
eher klein, und es gibt dort leider keine Übernachtungsmöglichkeiten<br />
für Gäste, also habe ich in Großebersdorf,<br />
ein Ort mit einem ebenfalls sehr interessanten<br />
Namen, ein Zimmer in einem Tagungshotel reserviert,<br />
dessen einziger Gast ich sein werde, wie ich<br />
erfahre. Aber das sei gar kein Problem, sagt man mir<br />
am Telefon, und wann ich denn frühstücken wolle.<br />
Ichbeginne zu ahnen, dass ich in eine stille Region<br />
reisen werde, vielleicht sogar an einen Ort, den sich der<br />
gehetzte Großstädter immer so sehr wünscht, ein<br />
Sehnsuchtsziel der Ruhe. Und dass der Ortsname Lederhose<br />
so gar nichts zu tun hat mit einer Artder lauten<br />
Raubeinigkeit, wie man sie vielleicht in Bayern erwartet,<br />
das Thüringen nah und ja nicht so unähnlich ist.<br />
Wunderbar sanfthügelig<br />
Die Fahrt beginnt früh und laut und ist das Gegenteil<br />
zu kontemplativer Ruhe: DerZug nach Leipzig ist voll<br />
mit Ausflüglern, Studenten und Reisegruppen. Im<br />
Großraum sitzt eine Abordnung aus China, nach Leipzig<br />
will man, um sich schweres Gerät zum Eisenbahnbau<br />
anzusehen. DieGruppe aus Fernost sieht sich auf<br />
einem Tablet Eisenbahn-Erklärvideos an. Es fallen Begriffe<br />
wie Stopfaggregat, Schwellenwechsler und<br />
Schienenknacker. Von Leipzig aus geht es dann mit<br />
der Regionalbahn in Richtung Gera, die Orte am Weg<br />
tragen Namen wie Zwenkau-Großdalzig, Wetterzeube<br />
und Bad-Köstritz. Das kennt der <strong>Berliner</strong>, Köstritzer,<br />
so heißt das Bier.Keine Frage,man ist auf dem Land.<br />
Der Bahnhof in Gera ist blitzsauber, der Busbahnhof<br />
gefegt. Die Sparkasse hat ihre Filiale geräumt bis<br />
auf einen einsamen Automaten. Ein Matratzendiscounter<br />
wirbt mit Wasserbetten, und man kann sich<br />
die Haare schneiden lassen bei den „Hairchitekten“<br />
oder bei „Haireinspaziert“, bevor man den Bus nach<br />
Großebersdorfbesteigt.<br />
Der Busfahrer hat keine Ahnung, wie viele Stationen<br />
es bis nach Großebersdorfsind, er hält aber ohnehin<br />
nur nach Aufforderung. Der vorletzte Teil der<br />
Etappe führt durch den Wald, vorbei an Feldern und<br />
einem Großklinikum, das auf der Hälfte zwischen<br />
Großebersdorfund Gera liegt, einer Stadt mit 100 000<br />
Einwohnern, der drittgrößten Thüringens.<br />
DasHotel liegt an einer Hauptstraße,die befahren<br />
zu nennen eine wirkliche Untertreibung ist, unablässig<br />
rasen Autos vorbei, von Kleinwagen bis zum Lkw.<br />
Werhier wohnt, braucht starke Nerven, doch das Zimmer<br />
liegt nach hinten und ist ruhig, hier kann man<br />
schon durchatmen und bekommt einen ersten Eindruck<br />
davon, was Thüringen und besonders diese Region<br />
zu einem beliebten Ausflugsziel macht: die wunderbar<br />
sanfthügelige Landschaft Thüringens, Stille,<br />
Grün und–ich vermutemal –Ruhe.<br />
„Sehr viel Ruhe“, bestätigt Gerd Focken Schmidt<br />
ein halbe Stunde später meinen Gedanken. Schmidt,<br />
der mich mit dem Auto in Großebersdorf abholt, ist<br />
sehr pünktlich, sehr groß und sehr schlank, das Landleben<br />
scheint gut zu tun –der Mann ist 77, sieht aus<br />
wie 60 und ist so etwas wie der Stadtchronist von Lederhose.„Siemüssen<br />
HerrnSchmidt treffen, ich gebe<br />
Ihnen seine Nummer“, hatte Andreas Weber gesagt,<br />
Bürgermeister der Verwaltungsgemeinschaft Mün-<br />
Frau Müller,unterwegs mit<br />
Pudel, ist eine Zugezogene<br />
und hat sich noch nicht an<br />
das Landleben gewöhnt.<br />
DER KLEINE REISEFÜHRER: LEDERHOSE<br />
Entfernung von Berlin-Alexanderplatz: 217 Kilometer<br />
Dauer der Anreise mit Bahn und Bus: ca 3,5 Stunden<br />
Zahl der Übernachtungsplätze: Keine<br />
Einwohnerzahl: 262<br />
Partei mit dem stärksten Wahlergebnis: CDU<br />
Jahreshöhepunkte im Ort: Das Maibaumsetzen<br />
Wichtigste Sehenswürdigkeit: Dorfkirche<br />
Kulinarische Spezialitäten: Karpfen und Mutzbraten (in Birkenholzrauch<br />
gegartes Schweinefleisch)<br />
Nächste Bademöglichkeit: Bornalteich oder das Naturbad in<br />
Münchenbernsdorf<br />
chenbernsdorf, zu der auch Lederhose gehört. Herr<br />
Schmidt sei so etwas wie das Gedächtnis des Ortes.<br />
Geboren in Weida, sei er der Liebe wegen nach Lederhose<br />
gezogen, sagt Gerd Focken Schmidt und lacht<br />
ein wenig schüchtern. Schmidt war Ingenieur im VEB<br />
Wetron Weida und lebt mit seiner Frau seit einem halben<br />
Jahrhundert in Lederhose, einer sogenannten<br />
Landstadt mit 270 Einwohnern, Tendenz relativ stabil.<br />
Mit dem Beinbekleidungsstück habe der Ortsname<br />
ursprünglich nichts zu tun, obwohl das Stadtwappen<br />
eine Lederhose ziert, erklärt Schmidt. Der<br />
Name komme aus dem Slawischen und sei wohl aus<br />
dem Namen Ludorad entstanden: Ludoraz –der Ort<br />
des Ludorad. 2012 feierte man 725 Jahre Lederhose,<br />
und es ist nicht vermessen zu sagen, dass die Zeit hier<br />
Naschhausen<br />
Rom<br />
Herzsprung<br />
Gerd Focken Schmidt lebt seit<br />
langer Zeit in Lederhose und weiß<br />
fast alles über den Ort.<br />
Eisdorf<br />
Lederhose<br />
Nächste Woche<br />
Lieberose<br />
BLZ/GALANTY<br />
Wüstenhain<br />
Klein Bademeusel<br />
Wetterwitz<br />
Altliebel/Rietschen<br />
ein wenig langsamer voranschreitet als anderswo.Das<br />
weiß auch Herr Schmidt, zu ruhig ist es ihm hier aber<br />
nicht, im Gegenteil: DieRuhe,die Möglichkeit durchzuatmen<br />
sei es, die das Leben in Lederhose lebenswert<br />
mache.Inmeinen Ohrenrauscht es,seit Minuten<br />
habe ich kein Auto mehr gehört.<br />
In der Ferne sieht man einen Lkw, der in das Gewerbegebiet<br />
fährt, das Lederhose sich mit dem benachbarten<br />
Münchenbernsdorf teilt. Strukturschwach<br />
ist die Region nicht. Entlackungsfirmen<br />
und Logistikunternehmen teilen sich den Standort,<br />
es gibt einen Betrieb, der Folien herstellt und einen<br />
Produzenten für Keramik. Undden letzten Hersteller<br />
vonTeppichen, eine Ware, für den die Region einmal<br />
berühmt war, Teppiche aus Greiz, das war was.<br />
Schmidts Frau ist gelernte Teppichweberin, zu DDR-<br />
Zeiten arbeitete sie in einer Teppichfabrik im Nachbarort.<br />
Die Fabrik gibt es nicht mehr, auch nicht das<br />
Werk,indem Herr Schmidt arbeitete und dessen Lebenslauf<br />
typisch ist für einen Bürger der DDR, dem<br />
die Wende nicht nur Gutes brachte.<br />
48 Jahre alt war Gerd Focken Schmidt, als die<br />
Mauer fiel und mit ihr verschwand auch sein Job. Eine<br />
Zäsur sei das gewesen, man habe ihn nicht mehr gebraucht,<br />
erzählt er ohne Bitterkeit. Als die große Geschichte<br />
den kleinen Ort Lederhose erfasste, dahätten<br />
sie immerhin ein eigenes Haus gehabt, fast abbezahlt.<br />
Doch fortan musste sich Gerd Focken Schmidt<br />
durchschlagen. Ja,das könne man so sagen, bekräftigt<br />
er, während er auf der Hauptstraße des Ortes steht.<br />
ABM-Maßnahmen folgten und eine Umschulung in<br />
der Branche „Heizung, Lüftung, Sanitär“ habe auch<br />
mal über einen längeren Zeitraum Arbeit gebracht,<br />
doch richtigFuß fassen konnte derVater vonzweiKindern<br />
imBerufsleben nicht mehr. Eine Zeit lang war<br />
Gerd Focken Schmidt Turmwächter im Ferberturm<br />
vonGera, einem Wahrzeichen der Stadt.<br />
Er habe nie den Mut verloren, sagt Schmidt, er<br />
habe seinem Sohn ein Vorbild sein müssen. Wegzugehen<br />
aus Lederhose sei ihm nie in den Sinn gekommen,<br />
seine Frau habe ja auch noch Arbeit gehabt. Und<br />
hier sei er daheim, hier gehe er nicht mehr weg.<br />
Mehr Gänse als Menschen<br />
Seit ein paar Jahren führt eine Umgehungsstraße am<br />
Ortvorbei, und so liegt das Städtchen sauber vomRegen<br />
und still da. An einem Freitagnachmittag stehen<br />
die Chancen gut, in Lederhose mehr Gänse als Menschen<br />
zu sehen und auf wendas keine meditativeWirkung<br />
ausübt, der ist fürs Landleben nicht geschaffen.<br />
Noch bin ich mir nicht sicher,zuwelcher Fraktion ich<br />
gehöre, in der Großstadt ist es nie so still, nicht einmal<br />
im ruhigsten Moment tief in der Nacht.<br />
Das Landleben, ja, das müsse man mögen, sagt<br />
Gerd Focken Schmidt. Er führt nun durch seinen Ort,<br />
eine große Runde in zwei Stunden, präsentiertstolz die<br />
kleine Dorfkirche,die vonFreiwilligen in Schuss gehalten<br />
wird, führtvorbei am einzigen Gasthof, der praktischerweise<br />
so heißt wie der Ort. Er liegt an der Hauptstraße<br />
und hat geschlossen –Sommerferien. Doch am<br />
Wochenende, dahabe man wieder auf, verkündet ein<br />
Schild neben dem Eingang. Früher einmal, da hat es<br />
mehrere Lokalitäten gegeben in Lederhose. Mit der<br />
Umgehungsstraße kam die Ruhe, gut für die Einwohner,<br />
schlecht für die Gastronomie. Proper ist der Ort,<br />
eine Mischung aus älteren Wohnhäusern, ehemaligen<br />
Gehöften und liebevoll saniertem Bestand.<br />
Das alles beeindruckt Frau Müller, die eigentlich<br />
anders heißt, wenig. Auch nicht die Ruhe,die meditativeStille.Sie<br />
istaber auch erst seit ein paar Jahren hier<br />
und einer der wenigen Menschen, die an diesem<br />
Nachmittag in Lederhose auf der Straße sind. Frau<br />
Müller geht mit ihrem Pudel spazieren, der sei „der<br />
Star vonLederhose“, sagt sie und lacht. So richtig daheim<br />
fühle sie sich in Thüringen nicht.<br />
Frau Müller arbeitet inder Pflege in Münchenbernsdorfund<br />
auch sie ist„der Liebe wegen hier“,„rübergemacht“<br />
aus Rheinland-Pfalz. Doch anerkannter<br />
Ureinwohner von Lederhose wird man erst nach ein<br />
paar Generationen. Freundlich seien die Menschen<br />
hier sehr,bestätigt Frau Müller. Siesei hier gut aufgenommen<br />
worden, doch, ach, das Ländliche, das mache<br />
ihr schon noch zu schaffen. Hätte sie kein Auto,<br />
dann wäredas ein großes Unglück.<br />
Ein Auto, das brauche man, bestätigt Gerd Focken<br />
Schmidt, obwohl seit 15 Minuten keines mehr vorbeigefahren<br />
ist. Er lädt zum Kaffee ins Eigenheim mit großem<br />
Garten. Es ist so ordentlich wie Lederhose selbst,<br />
so ruhig und so idyllisch. Manmuss das mögen.<br />
Einer,der dasganz sicher mag, ist Harald Deussen.<br />
Schmidt kennt ihn –bei 270 Einwohnern kennt jeder<br />
jeden –und überredet ihn noch auf der Straße, uns<br />
sein Anwesen zu zeigen, das sei einfach zu schön.<br />
Deussen ist 57 Jahre alt und Dozent, ein drahtiger<br />
Mann, der die 6000 Quadratmeter Grundstück selbst<br />
bewirtschaftet, eine Idylle, wie sie sich der Großstädternur<br />
erträumen mag mit einemWeiher,indem man<br />
schwimmen kann, und einem Garten,indem Pfefferminzeund<br />
Frauenmantel wachsen. Seit 25 Jahren lebt<br />
Deussen mit seiner Frau hier, ersei viel unterwegs,<br />
doch sein Lebensmittelpunkt seien Lederhose und<br />
diese Mühle,hierbekomme er „die Rübe frei“.<br />
Es istwohl genaudas,was dieMenschen an diesen<br />
kleinen Ortbindet –man bekommt denKopffrei, man<br />
hat Raum und Ruhe. Lederhose lässt einen friedlich<br />
werden.<br />
Marcus Weingärtner<br />
vermisste zurück in Berlin ein bisschen Freundlichkeit<br />
und vorallen Dingen eines: die Ruhe.