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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 286 · M ontag, 9. Dezember 2019 – S eite 21<br />
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Feuilleton<br />
Torsten Wahl über<br />
Milan Peschel als<br />
ZDF-Kommissar<br />
Seite 23<br />
„Europa ist das größte Friedensprojekt der Welt.“<br />
Der Regisseur Werner Herzog bei der Filmpreisverleihung Seite 22<br />
Fußball<br />
Aus der guten<br />
alten Zeit<br />
Cornelia Geißler<br />
über Spannung außerhalb<br />
der Adventstage<br />
Für das größte Missgeschick des<br />
Wochenendes ist ein nicht näher<br />
benannter Tontechniker der ARD<br />
verantwortlich: Noch bevor in der<br />
„Sportschau“ die Zusammenfassung<br />
des Fußballspiels zwischen Borussia<br />
Mönchengladbach und dem FC Bayern<br />
gezeigt wurde, hörte man den<br />
Moderator Matthias Opdenhövel<br />
von einem Sieg der Gladbacher reden.<br />
Zwar lief Werbung, seine Worte<br />
galten nur den Kollegen –aber sein<br />
Mikrofon war an. DieRedaktion und<br />
der Moderator entschuldigten sich.<br />
Einst wäre das richtig schlimm<br />
gewesen. Es hätte sich um Geheimnisverrat<br />
gehandelt, vergleichbar<br />
mit dem verfrühten Öffnen von Adventskalendertürchen.<br />
Damals<br />
nämlich, als die Bezahlsender noch<br />
nicht alle Spiele liveanboten und Internetseiten<br />
nicht das Geschehen<br />
kommentierten. Als man das Radio<br />
tagsüber stumm ließ und um 18 Uhr<br />
neugierig die Glotzeeinschaltete.<br />
Matthias Opdenhövel schickte<br />
nach der „Sportschau“ ein eigenes<br />
„Sorry für den Spoiler“ per Twitter<br />
raus. „95% der Leute wissen das Ergebnis<br />
doch sowieso,für 5% war halt<br />
nur die Spannung weg“, antwortete<br />
jemand milde.Ein anderer ergänzte:<br />
„Und diese 5% sind über 55 Jahrealt<br />
und haben eh kein Smartphone.“<br />
Tatsächlich ist sonst das Smartphone<br />
der Spielverderber, auch bei<br />
Direktübertragungen. Denn der Toralarm–sofernman<br />
ihn für Lieblingsmannschaften<br />
eingeschaltet hat –<br />
meldet sich Sekunden vor dem Bild.<br />
Der wahre Fan aber will das Torsehen<br />
und nicht erzählt bekommen.<br />
Noch ulkiger gestaltet sich das<br />
Zusammenleben mit Menschen, die<br />
sich Sportsendungen noch mit einem<br />
Videorekorder aufnehmen oder<br />
in der Mediathek nachschauen. Ich<br />
habe mal einen Kollegen um eine<br />
selbstempfundene Freude gebracht,<br />
als ich ihm nachmittags zu einem<br />
Sieg vonEnergie Cottbus per Whats-<br />
App gratulierte. Zum Glück spielt<br />
Cottbus jetzt unterhalb meiner<br />
Wahrnehmungsschwelle.Und leider<br />
arbeitet der Kollege nicht mehr hier.<br />
Habe Zeit und nimm Umwege<br />
Am Sonnabend in Stockholm hielten Olga Tokarczuk und Peter Handke ihre Reden zum Nobelpreis<br />
VonArnoWidmann<br />
Es ist ein Glücksfall, gleich<br />
zwei Literaturnobelpreisreden<br />
hintereinander zu erleben.<br />
Man wird zum Vergleich<br />
gezwungen: Olga Tokarczuks<br />
Text umfasst in der gedruckten Fassung<br />
25 Seiten, der vonPeter Handke<br />
gerade mal zehn. Jeder der laut und<br />
deutlich artikulierten Sätze der polnischen<br />
Autorin wurde begleitet von<br />
den stumm mitlaufenden Aufforderungen:<br />
Hörtmir zu, begreift, was ich<br />
sage.Esist zu begreifen! UnddieWelt<br />
ist es auch. Peter Handke dagegen<br />
stand manchmal wie verloren in seinen<br />
eigenen Sätzen. Einmal schien<br />
er vor Ergriffenheit gegen Tränen zu<br />
kämpfen. Warmein Eindruck.<br />
Die 1962 in Sulechów bei Zielona<br />
Górageborene polnische Schriftstellerin<br />
Olga Tokarczuk, von der dieses<br />
Jahr auf Deutsch der mehr als 1000<br />
Seiten umfassende Roman „Die Jakobsbücher“<br />
(Kampa Verlag, Zürich)<br />
erschien, erhält den Literaturnobelpreis<br />
rückwirkend für 2018. Peter<br />
Handke, 1942 in Griffen in Kärnten<br />
geboren, ist der diesjährige Preisträger.<br />
Sein bisheriges Gesamtwerk erschien<br />
vergangenes Jahr im Suhrkamp-Verlag.<br />
DiePreisverleihung ist<br />
am 10. Dezember, die Nobelpreisreden<br />
hielten die beiden am Sonnabend<br />
in Stockholm.<br />
In der Literatur geht es wesentlich<br />
um Eindrücke. Was draußen passiert,<br />
wird erst wichtig, wenn es in<br />
uns eindringt. Das sagte in ihrer<br />
Rede auch Olga Tokarczuk: „Ereignisse<br />
sind Tatsachen. Erfahrung aber<br />
ist etwas unaussprechlich anderes.“<br />
An dieser Stelle kamen die beiden<br />
Nobelpreisträger sich ganz nahe.<br />
Aber eine Minute später hatten sie<br />
sich wieder voneinander entfernt.<br />
„Literatur“, sagte Olga Tokarczuk,<br />
„beginnt mit der Frage nach dem<br />
Warum?“ Weiter kann man vor<br />
Handke nicht davonlaufen.<br />
Dabei hatten sie ganz ähnlich begonnen.<br />
Beide erinnerten an ihre<br />
Mütter, zitierten sie. Beide sprachen<br />
von der Zeit und ihrem Verschwinden.<br />
Aber wie unterschiedlich machten<br />
sie das. Olga Tokarczuk hielt einen<br />
Vortrag über Literatur und darüber,<br />
wie ein Autor arbeitet, wie er<br />
hinein holt in seinen Text, was ihn<br />
reizt. Peter Handke dagegen erzählte<br />
auch von Erlebnissen und wie sie<br />
Olga Tocarczuk und Peter HandkeamSonnabend in Stockholm<br />
Eingang finden in seine Texte, er erwähnte<br />
sogar Autoren, die ihm wichtig<br />
sind, aber er trat nie hinaus aus<br />
seiner Erzählung. Wo er das tat,<br />
bleibt das Teil der Erzählung. Vielleicht<br />
verhaspelte er sich darum. Er<br />
wusste,dass er sich in den Augen derer,<br />
die er nicht erreicht, blamiert.<br />
Der Künstler riskiert immer, sich lächerlich<br />
zu machen mit seiner<br />
Kunst.<br />
Lange Passagen seiner Nobelpreisrede<br />
waren Zitate aus früheren<br />
Büchern. Zwei mehrminütige Abschnitte<br />
aus dem dramatischen Gedicht<br />
„Über die Dörfer“ aus dem<br />
Jahre 2002. Daneben Erzählungen<br />
seiner Mutter, die Lauretanische Li-<br />
JONAS EKSTROMER/AFP<br />
tanei, wie sie in seiner Dorfkirche auf<br />
slowenisch zu hören war, und zum<br />
Schluss ein Gedicht von Thomas<br />
Tranströmer auf Schwedisch. Das<br />
Unverständliche, das zur Dichtung<br />
gehört, Handke hat es reichlich geliefert.<br />
Beiden zitierten Bitten an die<br />
Madonna durfte die nicht fehlen, in<br />
der sie als Elfenbeinturm angesprochen<br />
wird. UndanTranströmers Gedicht<br />
„Romanische Bögen“ werden<br />
ihn besonders die Verse bewegt haben:<br />
„Schäm dich nicht, Mensch zu<br />
sein, sei stolz!/ In dir öffnet sich Gewölbe<br />
um Gewölbe, endlos.“ (Übersetzung:<br />
Hanns Grössel.)<br />
Olga Tokarczuk sprach davon,<br />
dass Erzählung die Erzählung eines<br />
einzelnen Ichs sein muss. Handke<br />
führte das besessen vor. Olga Tokarczuk<br />
erinnerte daran, dass mit den<br />
Fernsehserien neue Erzählweisen<br />
aufgekommen sind, die leben vonder<br />
Hoffnung auf eine zweite, dritte,<br />
vierte Staffel, sodass sich die Spannung<br />
nie auflösen darf. Sie glaubt<br />
auch, dass es noch nie in der Menschheitsgeschichte<br />
so viele Menschen<br />
gab, die ihre Geschichten erzählen.<br />
Ich glaube das nicht. Die Spinnstuben,<br />
die Lagerfeuer, die gemeinsame<br />
Jagd –wurde da nicht viel mehr miteinander<br />
gesprochen als heute jeder<br />
vor seinem Computer? Die Einführung<br />
der Meetings in den Büros, früher<br />
ein Privileg des oberen Managements,<br />
diente der Abschaffung jener<br />
Geschichten, die kleine Angestellte<br />
sich auf den Gängen erzählten.<br />
Peter Handke zitierte zu Beginn<br />
seines Vortrages seine Mutter, die<br />
ihm beibrachte: „Sei nicht die<br />
Hauptperson … Beobachte nicht,<br />
prüfe nicht, bleib geistesgegenwärtig<br />
bereit für die Zeichen …Bück dich<br />
nach Nebensachen …“Olga Tokarczuk<br />
dagegen war schon in der ersten<br />
Minute beim Kosmos und in einer<br />
„süßen Nähe zur Ewigkeit“. Sie endete<br />
mit den Sätzen: „Darum glaube<br />
ich, dass ich Geschichten so erzählen<br />
muss, als wäre die Welt ein lebende,<br />
einzige Einheit, die sich vor<br />
unseren Augen immer wieder neu<br />
bildet, und als wären wir ein kleiner,<br />
aber doch mächtiger Teil von ihr.“<br />
Das scheint mir nicht weit weg von<br />
Handkes Mutter, die ihm sagte:<br />
„Scheitereruhig. Vorallem habe Zeit<br />
und nimm Umwege. Überhör keinen<br />
Baum und kein Wasser.“<br />
Aber Handkes Grundton scheint<br />
zunächst völlig anders als der tröstende<br />
von Olga Tokarczuk. Er lautet:<br />
„Die Hoffnung ist der falsche Flügelschlag<br />
…Liebe Leute von hier: Die<br />
Schreie des Grauens werden sich<br />
ewig fortsetzen.“ Ein paar Zeilen<br />
später aber eine Utopie: „Der ewige<br />
Friede ist möglich. Hört die Karawanenmusik.<br />
Abmessend-wissend,<br />
seid himmelwärts. Haltet euch an<br />
dieses dramatische Gedicht. Geht<br />
ewig entgegen.“ DerDichter als Moses.Das<br />
istwirklich lächerlich. Es sei<br />
denn, man sieht es als Erzählung in<br />
einer Erzählung. Auch Moses, folgt<br />
man den Schriftgelehrten der Neuzeit,<br />
war ja kein Gottesgeschöpf,<br />
sonderneineMenschenerfindung.<br />
Schwurspruch<br />
statt<br />
Asche<br />
Zentrum für politische<br />
Schönheit setzt Aktion fort<br />
Nach heftigen Protesten gegen<br />
die unter dem Titel „Sucht nach<br />
uns“ in der vergangenen Woche eröffneten<br />
Gedenkstätte, für die angeblich<br />
Asche aus der Umgebung<br />
nationalsozialistischer Konzentrationslager<br />
verwendet worden war,will<br />
die Künstlergruppe Zentrum für Politische<br />
Schönheit (ZPS) nicht einfach<br />
den geordneten Rückzug antreten.<br />
„Wir haben die Gedenkstätte<br />
komplett überarbeitet: Es handelt<br />
sich jetzt um eine ,Schwurstätte gegen<br />
den Verrat an der Demokratie‘“,<br />
heißt es in einer Pressemitteilung<br />
von Sonnabend. Auf der Säule<br />
prange nun der antike Schwurspruch<br />
zum Staatsschutzgesetz von<br />
410/409 v. Chr.: „Ich schwöre Tod<br />
durch Wort und Tat, Wahl und eigne<br />
Hand –wenn ich kann –jedem, der<br />
die Demokratie zerstört“, teilt das<br />
ZPS mit. DasZPS setzt damit eine Aktion<br />
fort, die insbesonderevonVertretern<br />
jüdischer Organisationen sowie<br />
Nachkommen von Holocaustopfern<br />
dafür kritisiert wurde, ungefragt instrumentalisiert<br />
worden zu sein. Die<br />
Künstlergruppe hatte sich darauf öffentlich<br />
entschuldigt und das Mahnmal<br />
verhüllt. Am Sonnabend zog das<br />
ZPS auch vor die Parteizentrale der<br />
CDU in Berlin und teilte mit: „Franz<br />
von Papen, der am vergangenen<br />
Dienstag aus seinem Grab in Wallerfangen<br />
(Saarland) verschwunden<br />
war, ist heute vor der CDU-Parteizentrale<br />
(Klingelhöferstraße 8, 10785<br />
Berlin) angekommen.“ (BLZ)<br />
Das ZPS legte am Sonnabend VonPapens<br />
Grabstein vor die CDU-Parteizentrale ZPS<br />
UNTERM<br />
Strich<br />
Rom &Peter<br />
Für Wahnsinn<br />
passend befunden<br />
VonPeter Wawerzinek<br />
Klang klingt als Wort schon schön. Klang<br />
als Name für einen Klub auszuwählen, in<br />
dem Musik zur Aufführung kommt, liegt<br />
nahe. Dass es den klangvollen Klub in Rom<br />
gibt, haben Agnese und Julia vom Team<br />
Massimo herausgefunden. Sie sind sofort<br />
hingefahren und haben ihn für Wahnsinn,<br />
passend, toll befunden, mit den Betreibern<br />
alles weiterebesprochen. Siehaben mir umgehend<br />
Fotos vom Ort geschickt, sich dermaßen<br />
gefreut und mich dann überglücklich<br />
darüber informiert, dass alles klar gemacht<br />
worden ist von ihnen für meinen großen<br />
Abend, den Auftritt mit Dirk Schlömer.Einstmals<br />
Gitarrist bei TonSteine Scherben.<br />
Mitdem Dirk verbindet mich eine fruchtbare<br />
Zusammenarbeit. VonBeginn an. Eine<br />
Band gründen, vergiss das in deinem Alter,<br />
hat eine Freundin meine Idee für absolut<br />
Wahnsinn erklärt, mir eine Adresse genannt.<br />
Da gehst du hin, mit schönen Grüßen von<br />
mir. Und ich bin dann losgezogen wie’s tapferePeterlein.<br />
Habbei Dirk geklingelt, wurde<br />
eingelassen. Stand in seinem Studio wie unterm<br />
Torbogen die Goldhaarige. Hab meine<br />
Jacke fallen lassen, alle Schüchternheit abgelegt<br />
und dem König mein Ansinnen vorgetragen.VonNachmittag<br />
an bis weit nach Mitternacht<br />
habe ich ununterbrochen vorsingen<br />
dürfen, Texte herübergereicht, mir<br />
Rhythmen, Klangfarben auf der Palette der<br />
musikalischen Möglichkeiten ausgesucht.<br />
Zwei Tage später präsentierte mir Dirk<br />
dann zu den einzelnen Vorstellungen<br />
zwei, drei exakte Melodien. Ich wusste<br />
vondaan, wir sind mehr als nur wir beide,<br />
wir sind die Sechse, werden als solche<br />
durch die Welt kommen.<br />
KLAUS ZYLLA<br />
Erste Station also Rom, im angesagten<br />
Klub Klang. Dennis,der Mann für wirklich alles,was<br />
anfällt in derVilla, will uns,den Kleinbus<br />
voller Schlömer’scher Technik, schnell<br />
hinfahren. Wirgeraten mitten hinein in etwas<br />
typisch Römisches, einen Superstau, den<br />
man sich nicht erklären kann. So mit Urgewalt<br />
und plötzlich sind wir mittenmang am verstopften<br />
Kreisverkehr. KeinVor-oder-Zurück,<br />
kein Klugsein, kein Seitenstraße-Nehmen. Alles<br />
dicht, keinerlei Fluchtgasse.Nix geht mehr.<br />
Geduld heißt da der Stoff, aus dem die edle<br />
Weisheit tropft: Schenk Gelassenheit, Dinge<br />
hinzunehmen, die nicht zu ändern sind, gib<br />
Mut, Dinge wenigstens in Gedanken zu ändern,<br />
lass Weisheit sein, eins vomanderen zu<br />
unterscheiden. Statt zehn Minuten hin brauchen<br />
wir über eine Stunde.<br />
Die Klang-Leute sehen es freundlich gelassen.<br />
Anfassen, aufbauen, einrichten. Alle<br />
packen mit an. Alle helfen, wo sie können. Alles<br />
geht professionell schnell vonstatten. Ehe<br />
das Publikum eintrifft, steht die Bühne. Zeit<br />
für den Happen davor. Zeit für nötige Absprachen.<br />
Muße füreinen Drink. Losgehtes.<br />
Aufregend, unser erstes gemeinsames<br />
Konzert imAusland. Schöne Rede von der<br />
Villa-Chefin Julia Draganovic, die die Freude<br />
aller Villa-Leute darüber ausdrückt, dabei zu<br />
sein und uns als Duoerleben zu dürfen. Feiner<br />
Romanauszug aus Liebestölpel in italienischer<br />
Sprache, vom Schauspieler Lorenzo<br />
würdig vorgetragen. Undschon legen wir los,<br />
der Dirk und ich. Laboratorium veranstalten<br />
wir, improvisieren um Lieder und Textauszüge<br />
herum. Schaffen einen Sound, der unser<br />
ist und aufs Publikum überspringt. Wir<br />
wachsen über uns hinaus. Alles, wie es sein<br />
soll. Und springen dann geschafft und froh<br />
am Ende von der Bühne zuden Leuten. Genießen<br />
den Nachhall von Tönen, Worten,<br />
Lobund Klängen im Musikklub Klang.