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Berliner Zeitung 20.12.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 296 · F reitag, 20. Dezember 2019 15<br />

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Berlin<br />

Kulturbrauerei<br />

Der Glühwein wärmt, die<br />

Pilzpfanne brutzelt und der Duft<br />

der Lebkuchen weht einem um die<br />

Nase. Doch wer sind eigentlich die<br />

Menschen, die uns auf den<br />

Weihnachtsmärkten der Stadt bis<br />

zum Fest und mancherorts auch<br />

darüber hinaus diese schönen<br />

Stunden bereiten? Die den ganzen<br />

Taginder Kälte stehen und immer<br />

ein freundliches Wort haben.<br />

Wirstellen auf dieser Doppelseite<br />

fünf von ihnen vor<br />

VonMechthild Henneke(Text)<br />

und Thomas Uhlemann (Foto)<br />

Petra Sauerzapf ist eigentlich Übersetzerin.<br />

Finnischer Glögi mit spanischem Rotwein<br />

Es muss nicht immer Schreibtischarbeit<br />

sein, dachte sich Petra Sauerzapf vor gut<br />

15 Jahren und begann, in Finnland nach einem<br />

Rezept für ein Weihnachtsmarktgetränk<br />

zu suchen. „Dort gibt es in jedem Dorf, bald<br />

jeder Familie eigene Rezepte für den Glögi,<br />

den finnischen Glühwein“, sagt sie. Häufig<br />

sind das Beerensäfte, die mit Hochprozentigem<br />

vermischt werden. Die 61-Jährige kennt<br />

sich in dem Land bestens aus, denn sie ist<br />

Dolmetscherin und Übersetzerin für die<br />

Sprache. Eine finnische Freundin verriet ihr<br />

schließlich das Rezept ihrer Oma und damit<br />

kehrte Sauerzapf zufrieden nach Berlin zurück.<br />

Ausder Idee,mal was anderes zu machen,<br />

wurde ein Plan. Die große, blonde Frau holte<br />

ein paar Freunde an den Küchentisch. Sietesteten<br />

das feine Gesöff aus dem Norden und<br />

befanden es für gut. Bald war eine feste<br />

Gruppe gegründet, die gemeinsam auf dem<br />

Lucia-Weihnachtsmarkt in der Kulturbrauerei<br />

inPrenzlauer Berg einen Glögi-Stand eröffnete.<br />

„Inzwischen sind wir zwölf Leute“,<br />

sagt Sauerzapf. DieSchichten werden geteilt,<br />

genauso wie der Gewinn.<br />

Der Glögi schmeckt würzig, ist aber nicht<br />

zu kräftig. Manhat den Eindruck, sein Aroma<br />

ist differenzierter,natürlicher als beim klassischen<br />

Glühwein. Drei Euro kostet ein Glas,<br />

mit Schuss sind es vier.Die Basis für den Glögi<br />

bildet spanischer Rotwein. Die Gewürzzutaten<br />

sind nicht viel anders als beim Glühwein:<br />

Ingwer,Vanille, Zitronen- und Orangenschalen,<br />

Zimt, Nelken, Kardamom und Sternanis.<br />

DieMischung macht’s und die wirdnatürlich<br />

nicht verraten, sagt Sauerzapf. Die Spirituosen<br />

für den Schuss sind ungewöhnlich: finnischer<br />

Likör aus Multebeere, Moosbeere oder<br />

Blaubeere, finnischer Wodka, Salkmiak- oder<br />

Minz-Likör.<br />

Da kann man sich schon durch einige Gläser<br />

durchprobieren. Am Stand herrscht Betrieb.„Wirdachten,<br />

wir machen das ein, zwei<br />

Jahre und dann ist es das“, sagt Sauerzapf.<br />

Weit gefehlt –seit 2004 ist der Glögi-Stand fester<br />

Teil des Lucia-Weihnachtsmarkts. „Der<br />

Glögi hat eine super Qualität. Er schmeckt<br />

sehr rein“, sagt ein Kunde. Dieses Kompliment<br />

freut Sauerzapf besonders. Schließlich<br />

geben sich die Freunde größte Mühe, den<br />

besten Glögi hinzubekommen. „Wir setzen<br />

uns in die Küche und probieren, bis wir lustig<br />

sind“, sagt Sauerzapf. Tetrapaks verwenden<br />

die Freunde keine. Der Glögi wird jedes Jahr<br />

neu angesetzt und schmeckt deshalb auch<br />

immer ein bisschen anders.Hinter Sauerzapf<br />

stehen drei große, weiße Kanister am Boden,<br />

die mit roter Flüssigkeit gefüllt sind. „An einem<br />

Samstag können schon mal 14 20-Liter-<br />

Kanister leer werden“, verrät sie.Das sind 280<br />

Liter oder 1400 Gläser. Kein schlechtes Geschäft.<br />

Kommt der Januar,werden aus den Glögi-<br />

Verkäufernwieder Rentner,Reisebüro-Mitarbeiter,<br />

Studenten oder eben Übersetzer für<br />

finnische Sprache.Der Elchkopf an der Rückwand<br />

des Stands und die Weihnachtsdeko<br />

aus dem fernen Norden wandern ineinen<br />

Karton. Bis Ende November ist wieder Bürojob<br />

angesagt, aber es kommt die Zeit, da wird<br />

in der Küche der Glögi gekocht.<br />

Ist es wegen der Schals oder ist<br />

es wegen Majid Sultani, dass<br />

die Menschen stehenbleiben?<br />

Aufjeden Fall fragt eine Besucherin<br />

des Weihnachtsmarkts am<br />

Gendarmenmarkt, ob sie ein<br />

Foto von dem 59-Jährigen machen<br />

dürfe. Der Mann aus Kashmir<br />

in Nord-Indien ist ein Hingucker<br />

–mit seinem langen, grauschwarz<br />

gelockten Bart und den<br />

blitzenden, dunklen Augen unterm<br />

Lederhut. Sultani weiß das<br />

und lässt die Frau das Foto schießen,<br />

„weil sie so freundlich gefragt<br />

hat“. Er ist schließlich auf<br />

dem Markt, um Geschäfte zu machen<br />

und nicht um die Passanten<br />

optisch zu beglücken.<br />

Vermutlich ist es das Gesamtpaket,<br />

das die Frau begeistert.<br />

Vor Sultani liegen Hunderte<br />

Schals aus feiner Wolle und Seide<br />

ausgebreitet, in allen Farben, die<br />

die Palette hergibt: von Purpur<br />

über Südsee-Blau bis zu Cremeweiß.<br />

Es ist schwer sich loszureißen,<br />

die Hände greifen nach den<br />

Schals, obwohl kleine Schilder<br />

warnen: Nicht berühren! Do not<br />

touch! Der Besuch an seinem<br />

Stand hat etwas Sinnliches. Sind<br />

wir noch in Berlin? Reiselust wird<br />

geweckt nach fernen Ländern<br />

mit Märkten und Bazaren.<br />

Und dann noch die Kälte! Sie<br />

fordert einen geradezu dazu auf,<br />

den altbekannten Schal, der<br />

vorm Rausgehen achtlos um den<br />

Hals geschlungen wurde, durch<br />

feines Webgut vonSultanis Tisch<br />

zu ersetzen. „Alles kommt original<br />

aus Kashmir“, sagt er und<br />

verweist auf das Paisley-Muster<br />

im Schal, den er vor sich ausgebreitet<br />

hat. „So, wie in Europa<br />

Blumen zur Verlobung geschenkt<br />

werden, schenkt der<br />

Mann der Frau in Indien zur Verlobung<br />

einen Schal mit Paisley-<br />

Muster“, erzählt der Händler.<br />

Die Paisley-Form ähnele einer<br />

Mandel und diese sei ein typisches<br />

Hochzeitsgeschenk.<br />

Eine Amerikanerin tritt an<br />

den Tisch und wählt einen<br />

Schal, der sie durch die kalten<br />

Winter in der Hauptstadt Washington<br />

bringen soll. „Das ist<br />

sehr gut“, bestärkt Sultani sie.<br />

Die Wolle atme und dadurch sei<br />

sie angenehm zu tragen. Um<br />

den Vergleich zu Polyester deutlich<br />

zu machen, hat er einen<br />

Schal aus diesem Material hinter<br />

sich liegen, den die Kunden<br />

in die Hand nehmen dürfen, um<br />

sich zu überzeugen.<br />

Er ist ein guter Verkäufer,<br />

weiß genau, wann er Argumente<br />

bringen, wann er schweigen<br />

muss. Die Preise sind ordentlich:<br />

zwischen 25 und 150 Euro<br />

liegen sie. Ein handgestickter<br />

Schal mit Blumenmuster bringt<br />

den höchsten Preis. Wer über<br />

100 Euro anlegt, bekommt<br />

schon ein kleines Kunstwerk,<br />

das sicher an jedem Hals bewundert<br />

wird. Ein Beamter aus<br />

einer nahen Behörde gesteht,<br />

dass er jedes Jahr bei Sultani<br />

zwei, drei Schals für seine Frau,<br />

den Sohn oder sich selbst kauft.<br />

Sultani hat seine Berufung<br />

gefunden. Vor einem Vierteljahrhundert<br />

kam er, verliebt in<br />

eine Deutsche, nach Berlin. Er<br />

probierte sich im Einzelhandel,<br />

auf Baustellen, in einer Tischlereiund<br />

sogar in einem Kraftwerk<br />

aus. Nirgends war er so zufrieden<br />

und erfolgreich wie hinter<br />

dem Marktstand, den er seit<br />

mittlerweile 17 Jahren betreibt.<br />

Gibt es Schals, die er ungern<br />

hergäbe? „Ja, drei“, sagt Sultani<br />

und lacht. Die hat er zu Hause.<br />

Sie hängen als Dekoration an<br />

seiner Wand –so, wie das in Indien<br />

mit besonders wertvollen<br />

Stücken üblich ist.<br />

Vladimir Krivickij bietet das russische Kinderspielzeug an.<br />

Matrjoschkas, die Geschichten erzählen<br />

Die Armee aus Lindenholz ist bunt und<br />

sieht die Passanten magnetisch an.<br />

Kleine und große Püppchen, in Rot, Türkis,<br />

Dunkelblau, Grün und Gelb stehen aufgereiht<br />

auf der Etalage.ZweiTage brauchtVladimir<br />

Krivickij, 57, um die Truppen in Stellung<br />

zu bringen. Es sind aber keine Soldaten, die<br />

auf dem Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz<br />

neben U-Bahn-Eingang und Straßenbahnschienen<br />

in Reih und Glied stehen. Es<br />

sind kleine Matrjonas, Mütterchen, auf Russisch:<br />

Matrjoschkas.<br />

Siewecken Glücksgefühle und Erinnerungen<br />

und das ist Krivickij durchaus bewusst.<br />

Seine Auslage trifft die Nostalgischen, die<br />

Mütter und Großmütter, die Liebhaberinnen<br />

und Liebhaber russischer Märchen an ihrer<br />

empfindlichsten Stelle: der Sehnsucht nach<br />

dem Einfachen und Schönen.<br />

Vor mehr als 100 Jahren tauchten die<br />

Matrjoschkas zum ersten Mal auf. Ende des<br />

19. Jahrhunderts entwarfen zwei russische<br />

Künstler sie, inspiriert von japanischem<br />

Spielzeug. Die Idee mit der Puppe, inder<br />

Puppe, inder Puppe war allerdings original<br />

russisch. Auf Krivickijs Tisch gibt es Varianten<br />

von vier bis 13 Püppchen, die ineinander<br />

stecken. Sie kosten zwischen sieben<br />

und 390 Euro.<br />

Die teuersten sind sehr groß und haben<br />

wunderschöne Blumen auf ihrem Kleid.<br />

„Daran kann man erkennen, woher die<br />

Puppen stammen. Dieses Muster ist typisch<br />

für die Stadt Kirow“, sagt er und zeigt auf die<br />

aufgeblühten Rosen. Eine andere Puppe<br />

trägt ebenfalls eine Rosendekoration –doch<br />

die Blätter sind anders gestaltet. „Das ist typisch<br />

für Semjonow bei Nischni Nowgorod.“<br />

Fragt man ihn, ob mehr Kinder oder Erwachsene<br />

mit den Matrjoschkas spielen,<br />

sagt er vage: „Fünfzig –fünfzig.“ Krivickij<br />

legt sich ungern fest. Der Russe kam vor 15<br />

Jahren nach Deutschland, versuchte sich in<br />

russischen Lebensmitteln, hat Bonbons auf<br />

Märkten verkauft, Geschenkartikel, Socken<br />

oder Taschen. „Dann habe ich gemerkt: Die<br />

Matrjoschkas sind besser“, erzählt er.<br />

Er spezialisierte sich auf das Kinderspielzeug<br />

und importiertesaus Kirow, einer Stadt,<br />

die 900 Kilometer östlich von Moskau, aber<br />

noch westlich vom Ural liegt. Dort werden<br />

Alexanderplatz<br />

handbemalte Matrjoschkas traditionell gefertigt.<br />

Undwer an dem Stand genau hinschaut,<br />

sieht, dass jedes Püppchen anders guckt und<br />

die Bäckchen mal richtig rot und mal nur<br />

leicht rosa sind.<br />

Werden Tisch genauer studiert, entdeckt<br />

auch, dass die Püppchen ganze Märchen erzählen.<br />

In einer Reihe stehen die Figuren aus<br />

dem Märchen „Die Rübe“, in dem es darum<br />

geht, dass ein Rübchen gezogen werden soll.<br />

Doch weder der Großvater, noch die Großmutter,<br />

noch ein Mädchen, noch ein Hündchen,<br />

noch ein Kätzchen schaffen es.Erst ein<br />

Mäuslein kommt auf die rettende Idee: Es<br />

müssen sich alle bei den Händen fassen und<br />

gemeinsam ziehen. So kommt die Rübe aus<br />

der Erde raus.<br />

Eine ältere Dame aus Friedrichshain beginnt<br />

zu schwelgen, als sie die Märchen-<br />

Matrjoschkas entdeckt. Die Geschichten aus<br />

alten Zeiten tauchen vorihrem inneren Auge<br />

auf. Jetzt nimmt sie erst mal eine Drei-Puppen-Variante<br />

für ihreEnkeltochter Ronja mit.<br />

„Sie ist erst zwei Jahre“, sagt sie ein bisschen<br />

entschuldigend, und fügt hinzu: „Ich kaufe<br />

das auch für mich.“

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