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Berliner Zeitung 20.12.2019

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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 296 · F reitag, 20. Dezember 2019 – S eite 21<br />

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Feuilleton<br />

In Ingeborg Ruthes<br />

Bild der Woche geht es<br />

um einen Schielenden<br />

Seiten 24/25<br />

„Manchmal glaube ich nämlich, dass es mich gar nicht gibt.“<br />

Der Schauspieler Sylvester Groth hält das in unserem Interview für einen schönen Gedanken. Seite 22<br />

Advent<br />

Nach<br />

Hause<br />

Harry Nutt<br />

hörtChris Rea<br />

im Pflegeheim.<br />

In dem Pflegeheim, in dem ich<br />

meine Mutter besuche,ist der Eingangsbereich<br />

weihnachtlich geschmückt.<br />

Eine weiß-geflockte Decke<br />

simulierteine Schneelandschaft,<br />

und ein altes Paar Skier deutet eine<br />

Mobilität an, über die hier niemand<br />

mehr verfügt. DasArrangement kündet<br />

vom Wechsel der Jahreszeiten.<br />

Das Leben, soll das wohl heißen,<br />

geht weiter –das Heim als Durchgangsstation.<br />

Und obwohl hier das<br />

ganze Jahr über eine Art weihnachtliche<br />

Langsamkeit den Takt angibt,<br />

werden die Feiertage hier doch als<br />

besonderes Fest wahrgenommen.<br />

Die Zahl der Besuche steigt an, und<br />

wenigstens für ein paar Tage erfährt<br />

das Personal jeneWertschätzung, die<br />

es das ganzeJahr über verdient hätte.<br />

Es gibt sie tatsächlich, die Weihnachtsstimmung.<br />

Chris Reas Song<br />

„Driving Home for Christmas“ ist ja<br />

wohl nur deshalb ein Evergreen, weil<br />

er sehr viel mehr ausdrückt als die<br />

Fahrtbewegung von hier nach da.<br />

Vielmehr handelt das Lied von dem<br />

anthropologischen Bedürfnis nach<br />

Ankunft. Die Tage davor werden als<br />

Passage wahrgenommen, durch die<br />

man sich in dieWeihnachtszeit rettet<br />

–das gilt auch für jene,die darauf aus<br />

sind, aus der weihnachtlichen Enge<br />

auf ferne Inseln zu entfliehen.<br />

Wohlige Vergangenheit<br />

Eine ganz ähnliche Stimmungslage<br />

war es wohl auch, die die Briten in<br />

der vergangenen Woche dem Halunken<br />

Boris Johnson den Vorzug<br />

hat geben lassen. Im Gegensatz<br />

zum orientierungslosen Zauderer<br />

Jeremy Corbyn nahm man Johnson<br />

trotz all der nachgewiesenen Lügen<br />

ab, dass er wenigstens weiß, wohin<br />

er will. Wenn der Slogan „Let’s get<br />

Brexit done“ schon keine Aussage<br />

über die Zukunft enthielt, so signalisierte<br />

er doch das Versprechen auf<br />

ein wohliges Vergangenheitsgefühl.<br />

Die populistischen Bewegungen<br />

verheißen einen Zuwachs an Selbstachtung<br />

und Geltung, die aus nationaler<br />

Besinnung hervorgehen mögen.<br />

Es geht dabei um ein rückwärtsgewandtes<br />

Adveniat.<br />

Enthielt die christliche Botschaft<br />

angesichts bedrückender Ungewissheit<br />

und Kontingenz seit jeher auch<br />

ein Zukunftsversprechen, so scheint<br />

diese derzeit nicht allzu hoch im<br />

Kurs zu stehen. Obwohl die junge<br />

Bewegung „Fridays for Future“ die<br />

Zukunft im Namen trägt, verweist sie<br />

auf das Drama des Zuspätkommens,<br />

eine Art negative Eschatologie. Die<br />

Apokalypse droht nicht mehr als atomarer<br />

Knall, sondern durch langsames<br />

Verglühen. Die Kipppunkte, so<br />

heißt es in mathematischer Nüchternheit,<br />

sind kurzdavor,überschritten<br />

zu werden.<br />

Vorein paar Tagen musste meine<br />

99-jährige demente Mutter für ein<br />

paar Tage ins Krankenhaus. Eine<br />

aus medizinischer Sicht gebotene<br />

Operation unterblieb mit Verweis<br />

auf ihr hohes Lebensalter. An ihrem<br />

Bett sitzend, erklärte ich ihr<br />

wiederholt, wo sie sich befinde.<br />

„Du bist im Krankenhaus“, versuchte<br />

ich mit Nachdruck zu sagen.<br />

Unter einigen Mühen drehte sie<br />

sich langsam zu mir und sagte ruhig,<br />

aber bestimmt: „Komm, lass<br />

uns jetzt nach Hause gehen!“<br />

Moskau in den 1920er-Jahren. Der Literat und Ingenieur Andrej Platonow setzte im Kampf gegen Armut auf technischen Fortschritt und Ökologie.<br />

Kommunismus, Sex und Ökologie<br />

Zweineue Bücher zeigen den modernen Klassiker Andrej Platonow alserstaunlichen VordenkerunsererZeit<br />

VonMathias Schnitzler<br />

Konnte Andrej Platonow in<br />

die Zukunft sehen? In seinem<br />

Roman „Dshan“, dessen<br />

Druck die sowjetischen<br />

Zensoren 1935 verhinderten, reist ein<br />

Ökonom im Auftrag der Regierung<br />

nach Zentralasien, um ein von Hungertod<br />

bedrohtes Volk zu retten. Das<br />

gelingt nur mithilfe einer minderjährigen,<br />

recht schroffen Aktivistin. Als<br />

die Menschen dennoch beschließen<br />

fortzugehen, besteigt das junge Mädchen<br />

einen Berg. Als Zukunft ihres<br />

Volkes und möglicherweise der<br />

Menschheit behält die Zurückbleibende<br />

als Einzige den Überblick:„Die<br />

kleine Sonne bestrahlte die ganze<br />

große Erde,und das Licht reichte vollkommen.“<br />

Mithilfe der Sonnenenergie<br />

würden die Menschen nachhaltig<br />

überleben können.<br />

Natürlich war Platonow<br />

(1899–1951), dessen Meisterwerke<br />

„Tschewengur“ oder „Die Baugrube“<br />

erst lange nach seinem Toderschienen<br />

und den Stalin schon Anfang der<br />

30er-Jahre als Anarchisten, als<br />

„Dreckskerl“ beschimpft hatte; natürlich<br />

war der melancholische, mitfühlende<br />

Ingenieur aus Woronesh,<br />

der das kommunistische Paradies<br />

suchte und die Verbrechen der Sowjetunion<br />

thematisierte; natürlich<br />

war der von Joseph Brodsky auf eine<br />

Stufe mit Kafka und Joyce gestellte<br />

Autor nicht Nostradamus –und das<br />

asiatische Mädchen Aidym aus dem<br />

Volk Dshan keine Präfiguration Greta<br />

Thunbergs.<br />

Als ökologischen Propheten darf<br />

man Platonowdennoch bezeichnen.<br />

Vor hundert Jahren forderte er die<br />

Abkehr von fossilen Brennstoffen,<br />

beschäftigte sich mit erneuerbaren<br />

Energien und kritisierte den Raubbau<br />

an der Natur:injournalistischen<br />

und fiktionalen Texten ebenso wie in<br />

seiner Arbeit als Ingenieur und Bewässerungsexperte.<br />

Nährstoffe und<br />

Feuchtigkeit, die dem Boden durch<br />

Landwirtschaft entzogen wurden,<br />

wollte er diesem zurückzugeben.<br />

Auch experimentierte er an einem<br />

„fotoelektromagnetischen Resonanz-Transformator“,<br />

dem Prototypen<br />

einer Solarzelle.<br />

Platonow hatte für die Oktoberrevolution<br />

und im Bürgerkrieg gekämpft<br />

–gegen den ewigen Kreislauf<br />

vonArmut und Hunger des einfachen<br />

Volkes, dem er selbst entstammte.<br />

Technischem Fortschritt als Motor<br />

der gesellschaftlichen Verbesserung<br />

stand er positiv gegenüber, warnte<br />

aber vor Stalins radikaler Industrialisierung<br />

und Kollektivierung. Beides<br />

wurde ohne Rücksicht auf Verluste,<br />

mit Millionen Toten in der Landbevölkerung<br />

und enormem Zerstörungen<br />

der Naturvorangetrieben.<br />

Platonow, Sohn eines Eisenbahnschlossers<br />

und Ingenieur aus<br />

Leidenschaft, wurde schon als Kind<br />

für Ökologie sensibilisiert. In seiner<br />

Heimat, dem Schwarzerdegebiet<br />

Zentralrusslands, hatte Peter der<br />

Große im 18. Jahrhundertviele Wälder<br />

abholzen lassen. Seither litt die<br />

Region oft unter massiven Dürren.<br />

Als eine solche 1921 zur Hungerkatastrophe<br />

führte,reistePlatonowfür<br />

das Gouvernement übers Land,<br />

säuberte Flussbette, baute Dämme<br />

und Brunnen, schuf nachhaltige<br />

Projekte und leitete die bäuerliche<br />

Bevölkerung in demokratischem<br />

Geist an, sich selbst zu helfen. Bei<br />

den sowjetischen Bürokraten aber<br />

stieß er bald auf Widerstand, Verbote<br />

und Intrigen folgten.<br />

„Das Grundkapital der Menschen<br />

ist die Fruchtbarkeit der Erde“,<br />

schrieb Platonow 1924. „Deshalb darf<br />

man dieses Kapital nicht plündern<br />

und vernichten, sondern muss es so<br />

nutzen, dass seine absolute Größe<br />

konstant gehalten wird.“<br />

In seinem Essay „Über die erste<br />

sozialistische Tragödie“ (1935), den<br />

man als einen der frühesten und bedeutendsten<br />

ökologischen Texte bestaunt,<br />

warnt der Autor vor der Gefahr<br />

einer durch den Menschen ver-<br />

NEU ERSCHIENEN VON ANDREJ PLATONOW<br />

Andrej Platonow: Dshan oder Die erste<br />

sozialistische Tragödie Prosa, Essays,<br />

Briefe. Herausgegeben und aus dem<br />

Russischen übersetzt vonMichael Leetz.<br />

Quintus, Berlin 2019. 376 S.,25Euro.<br />

Andrej Platonow:<br />

Die glückliche Moskwa<br />

Roman. Ausdem Russischen<br />

vonRenate Reschkeund Lola Debüser.<br />

Suhrkamp, Berlin 2019. 221 S.,24Euro.<br />

ursachten globalen Umweltkatastrophe.<br />

Die literarische Bedeutung Platonows<br />

mit seiner Erzähltechnik subversiv<br />

verfremdeter Sprache<br />

wächst immer mehr. Doch wer<br />

wusste, dass viele seiner Texte ein<br />

frappierend aktuelles ökologisches<br />

Denken beinhalten? Der Slawist<br />

Michael Leetz! In dem von ihm im<br />

<strong>Berliner</strong> Quintus-Verlag herausgegebenen<br />

und übersetzten Buch<br />

„Dshan oder Die erste sozialistische<br />

Tragödie“ erscheinen die<br />

meisten der Platonow’schen Texte<br />

mit ökologischen Motiven erstmals<br />

auf Deutsch oder, wie der Roman<br />

„Dshan“, in der ungekürzten Originalfassung.<br />

Leetz zeigt, auch in seinem<br />

spannenden Nachwort, dass<br />

Literatur auf höchstem ästhetischen<br />

Niveau und ein über den<br />

Zeitgeist hinausgehendes Umweltbewusstsein<br />

einander nicht ausschließen.<br />

Ein Buch des Jahres,<br />

auch für die junge Generation.<br />

IMAGO<br />

Ebenfalls atemberaubend ist der<br />

dritte, wieder wunderschön gestaltete<br />

Band der Platonow-Werkausgabe<br />

bei Suhrkamp.Erzieht neueste<br />

Forschungsergebnisse heran, bietet<br />

Varianten und gestrichene Passagen<br />

aus den Notizbüchern des Autors.<br />

„Die glückliche Moskwa“, geschrieben<br />

zwischen 1932 und 1936,<br />

Fragment gebliebener Roman,<br />

ebenfalls verboten und erst 1999<br />

publiziert, ist ein Buch zum Verlieben<br />

–und extrem verstörend. Heldin<br />

ist die junge, aus ärmsten Verhältnissen<br />

stammende Moskwa<br />

Tschestnowa, die „Tochter der Revolution“<br />

genannt wird, aber bekennt:<br />

„Ich bin keine Tochter, ich<br />

bin eine Waise“. Ihre ersten Erinnerungen<br />

und ihr Leben beginnen mit<br />

der Oktoberrevolution.<br />

Selten hat man in der russischen<br />

Literatur solch eine strahlende,<br />

starke, selbstbestimmte und sexy<br />

junge Frau gesehen. Auf der Suche<br />

nach Essen, Wohnraum, Arbeit<br />

und einer glücksverheißenden Zukunft<br />

irrt und fliegt sie (unter anderem<br />

als Fallschirmspringerin)<br />

durch das Moskau der frühen<br />

30er-Jahre, während die Männer,<br />

meist Angehörige der neuen Elite,<br />

über den Geist der Epoche philosophieren<br />

und Stalins Losungen<br />

reflektieren. Moskwa schläft mit<br />

vielen Männern, will sich aber<br />

nicht binden: „Liebe kann unmöglich<br />

Kommunismus sein.“<br />

Emotional ist Moskwa, wie auch<br />

die Struktur des gesamten Romans,<br />

zerrissen: Es fehlt die notwendige<br />

Verbindung zwischen Bewusstsein<br />

und Seele, Technik und Natur, Gemeinschaft<br />

und individuellen Bedürfnissen,<br />

zwischen gestern und<br />

morgen, neu und alt. Diepropagierte<br />

Geschichtslosigkeit, das Waisentum<br />

der apostrophierten „neuen Menschen“<br />

der ersten originär sozialistischen<br />

Generation macht diese zu<br />

seelischen Krüppeln.<br />

So erzählt dieser packende Roman<br />

von der aufrichtigen, utopischen Attraktion<br />

und Hoffnung, die viele Russen<br />

in der Anfangsphase mit dem<br />

Kommunismus verbanden. Und endet<br />

–fragmentarisch, düster,tragisch<br />

–mit verlorenen Illusionen und Gewalt.<br />

Auch der Mensch lässt sich, wie<br />

die Natur, nicht ungestraft manipulieren<br />

und berauben.<br />

NACHRICHTEN<br />

Volker Heller erneut zum<br />

Vorstand der ZLB berufen<br />

DerStiftungsrat der Zentral- und<br />

Landesbibliothek Berlin (ZLB) hat<br />

Volker Heller erneut zum Vorstand<br />

und nun auch zum Generaldirektor<br />

berufen, dies teilt die Kulturverwaltung<br />

mit. Als Vorstand und Managementdirektor<br />

leiteteVolker Heller die<br />

ZLB seit 2012, das bisherigeVertragsende<br />

der Stiftung mit Volker Heller<br />

war im Dezember 2019. DieZentralund<br />

Landesbibliothek Berlin ist<br />

Deutschlands größte öffentliche Bibliothek.<br />

Siearbeitet starkprogrammbezogen<br />

und bietet 3,5 Millionen<br />

Medien. (BLZ)<br />

Tanz, Performance, Theater:<br />

Stipendien ausgeschrieben<br />

DieSenatsverwaltung für Kultur vergibt<br />

2020 Arbeits- und Recherchestipendien<br />

im Bereich des Tanzes und<br />

der darstellenden und performativenKünste.Wie<br />

die Behörde mitteilt,<br />

sind die Stipendien für professionelle<br />

Bühnenkünstler bestimmt. Gefördertwerden<br />

sollen mit bis zu 8000<br />

Euro selbst gewählte Vorhaben, z.B.<br />

Forschung, Recherche oder Vorarbeiten<br />

an einem bestimmten<br />

Thema, die Entwicklung vonProjekten<br />

oder die Erschließung neuer Arbeitstechniken.<br />

Bewerbungsschluss<br />

ist der 30. Januar 2020 um 18 Uhr.<br />

Formular und Informationen auf<br />

berlin.de. (BLZ)<br />

Suche nach Azteken-Grab<br />

in Mexiko-Stadt<br />

Mitten in der Millionenmetropole<br />

Mexiko-Stadt wollen Archäologen<br />

erstmals eine Grabstätte der mächtigen<br />

Aztekenherrscher freilegen. Zwar<br />

erwarten die Forscher nur ein recht<br />

einfaches Grab −die Entdeckung der<br />

letzten Ruhestätte eines Aztekenkönigs<br />

wäretrotzdem eine wissenschaftliche<br />

Sensation. Aufder Suche<br />

nach dem Grab haben Archäologen<br />

am Fuße des Haupttempels der Aztekenhauptstadt<br />

Tenochtitlan<br />

(1325−1521) schon mehrereüber 500<br />

Jahrealte Opfergaben gefunden, die<br />

für den Sonnengott Huitzilopochtli<br />

bestimmt waren. (dpa)<br />

Ausstellung über Geschichte<br />

und Symbolkraft des Huts<br />

Mitder Symbolik und der Historie<br />

vonKopfbedeckungen setzt sich<br />

eine neue Ausstellung in Stuttgart<br />

auseinander.Unter dem Titel „Hut<br />

ab? Pickelhaube,Pussyhat und andereKopfgeschichten“<br />

hinterfragt<br />

die Schau im Haus der Geschichte<br />

vorallem, warum Kopfbedeckungen<br />

nach Jahrzehnten wieder im Alltag<br />

auftauchen −und dann oft als religiöse<br />

Symbole für Streit und Debatten<br />

sorgen wie die Kippa und das<br />

Kopftuch. (dpa)<br />

Kopfbedeckungen können auch zur politischen<br />

Botschaft werden. DPA/TOM WELLER

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