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Gesellschaft

Etwas über Ehen,

die im Himmel geschlossen werden

Es gab einmal eine Zeit, da suchte man zur Eheschließung

keineswegs ein Standesamt auf. Es gab nämlich

noch gar keines. Die Trauzeremonie fand in aller Regel

in der Kirche statt. Und zwar schon seit vielen Jahrhunderten.

Pastoren und Priester vollzogen sowohl Vermählungen

als auch Taufen und Beerdigungen. In Kirchenbüchern

wurden entsprechende Eintragungen handschriftlich nach

der zeitlichen Abfolge der Ereignisse niedergeschrieben.

Wer heutzutage Ahnenforschung betreibt, für den liefern in

der Regel die in den Pfarrämtern verwahrten Aufzeichnungen

die einzigen Zeugnisse über die Vorfahren.

Die einschneidende Änderung erfolgte am 6. Februar

1875. An diesem Tag wurde ein Gesetz verkündet, das mit

den Worten „Wir Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher

Kaiser, König von Preußen etc. verordnen…“ begann. Gleich

im Paragraph 1 wurde die Neuerung benannt: „Die Beurkundung

der Geburten, Heirathen und Sterbefälle erfolgt ausschließlich

durch die vom Staate bestellten Standesbeamten

mittels Eintragung in die dazu bestimmten Register.“ Das

Gesetz wurde am 1. Januar 1876 gültig.

Man kann sich gut vorstellen, dass die Kirchenoberen

zunächst mit Bestürzung auf die Neuerung reagierten. Ganz

gewiss waren auch die Gläubigen völlig verunsichert. Eine

Hochzeit ohne „Ja-Wort“ in einer festlich geschmückten Kirche

– das war doch gar nicht vorstellbar. Die feierlichen Handlungen

im Gotteshaus, die vollzählig anwesenden Hochzeitsgäste

und vor allem der erteilte Segen Gottes für die Ehe des

Foto: wikipedia commons

Foto: IStock

frisch getrauten Paars – das alles sollte wegfallen? „Nein!“,

sagten die weitaus meisten und seitdem feierten Christen in

Deutschland zweimal Hochzeit. Und dabei galt die auf dem

Standesamt als aufgenötigte und stilwidrige Formalie – die

in der Kirche hingegen wurde von den Gläubigen wie seit eh

und je als die „einzig richtige“ Trauung angesehen.

In dem 1963 aufgelegten Buch „Leben und Gebräuche im

Netpherland um 1900“ ist ausführlich dargelegt, wie die Netpherländer

damals ihr Leben gestalteten. Der Verfasser, Wilhelm

Weyer (1891 – 1971), stammte aus Dreis-Tiefenbach.

Ab 1946 leitete er drei Jahre lang das Siegener Stadtarchiv, die

städtischen Büchereien und überdies das Siegerland-Museum

im Oberen Schloss. Als „Dreisber“ – wie er sich oft und gerne

selbst bezeichnete – hatte der Doktor der Philosophie naturgemäß

die bestmögliche Eignung

für die Erstellung dieser Abhandlung.

In Westfalen wird man lange

suchen müssen, um eine ähnlich

ausführliche volkskundliche Darstellung

zu finden. Der Inhalt ist –

mit Ausnahme der mundartlichen

Untersuchungen – ganz bestimmt

auch für die Nachbarregionen des

Johannlands gültig.

Für den Ihnen vorliegenden

Aufsatz bietet das Kapitel „Verlobung

und Ehe“ die besten Wilhelm Weyer

Einblicke

in die Zeit, in der die Trauungen auf dem Standesamt

noch etwas Neues waren. Und gleich die ersten Sätze

überraschten mich ein wenig: „Bei den … Möglichkeiten

des Zusammentreffens junger Menschen beiderlei Geschlechts

kam es auch mal zu einer festen Bindung. Im

Allgemeinen war eine echte Jugendliebe selten.“ Und etwas

später liest man: „Man zeigte seine Gefühle nicht, die

meisten hatten wohl auch keine innigeren, wärmeren …

und ließen die gröberen erst mit der bevorstehenden Ehe

aufkommen, die, wie es im Ablauf des Lebens üblich war,

zu ihrer Zeit geschlossen wurde, offenbar ohne drängende,

zwingende Empfindungen.“

Überrascht war ich vor allem deshalb, weil in den Büchern

aus früheren Zeiten vielmals von Liebesbeziehungen

zwischen jungen Menschen zu lesen ist. Nicht zuletzt Jung-

Stilling fesselte die Leser schon im 18. Jahrhundert mit seiner

romantischen Erzählung „Florentin und Rosemarie von

Fahlendorn“ und dem hierin beschriebenen Schicksal zweier

jugendlicher Liebenden. Und bei uns sollte eine Jugendliebe

etwas Seltenes gewesen sein? Bei näherer Betrachtung

wurde mir freilich klar, dass die Erzähler in den verflossenen

Zeiten mit wenigen Ausnahmen die Lebensweise gut

Betuchter in den Städten, oft auch die Geschicke Adliger

auf ihren Gutshöfen, zu Papier brachten. Weyer hingegen

beschrieb anschaulich, dass er in den kleinen Siegerländer

Ortschaften etwas anderes erfahren hatte, nämlich eine unverkennbare

„Kühle der Gefühle“.

Diese scheinbare Gefühllosigkeit prägte laut Weyer auch

das gemeinsame Leben: „Nie sah man bei den Eltern eine

Berührung oder hörte ein zärtliches Wort. Die Ehe stellte

sich – wenigstens nach außen hin – als eine ausschließlich

praktische Lebensgemeinschaft dar.“ Die Eheschließung

selbst war für die weitaus meisten dennoch das unübertroffene

Geschehnis ihres Erdendaseins. Es blieb immerwährend

in schönster Erinnerung. Weyer: „Die Mädchen hielten

streng darauf, mit dem Brautkranz und die jungen Männer

mit dem Myrtensträußchen vor den Traualtar zu treten. Eine

unter Druck geschlossenen Ehe wurde von der ganzen Familie

als eine Schande und ein Unglück empfunden. Die

Kirche hielt strenge Zucht. Wer den Pfarrer im Traugespräch

belogen hatte, wurde im Gottesdienst bekanntgegeben und

eine gewisse Zeit nicht zu den Sakramenten zugelassen.“

Häufig kam es vor, dass junge Leute selbst keine Frau

oder keinen Mann finden konnten. Oft wurden in diesen

Fällen die Eltern als Vermittler tätig. Diese wussten ja am

besten, was für ihre Kinder von Vorteil sein würde. In den

beteiligten Familien achtete man sehr darauf, dass der vorhandene

Grundbesitz nicht zu stark voneinander abwich.

Dass eine Heirat gegen den Willen der Eltern zustande

kam, galt als unliebsame Ausnahme.

Hochzeit gefeiert wurde für gewöhnlich nach der Militärzeit

des Mannes. Da hatten die Bräute schon tüchtig vorgesorgt,

hatten ihre „Brautkiste“ mit der Wäscheaussteuer

gefüllt, das selbst gesponnene Leinen und alle eigens für

diesen Zweck erhaltenen Geschenke dazu gepackt.

Foto: Archiv Weber

Sehr schlicht ging es bei Kriegshochzeiten zu.

Unter den Bräuchen, die sich rund um das Heiraten drehten,

erregte das „Blatze“ das meiste Aufsehen. Hierunter

verstand man das schallende Knallen mit Peitschen. Die

Junggesellen eines Ortes passten auf, wenn ein vermuteter

Bräutigam das erste Mal das Haus seiner Braut aufsuchte.

Sie versammelten sich vor dem Gebäude und machten

durch einen kräftigen Lärm das Geschehen ortskundig. Der

Freier „revanchierte“ sich durch ein Geldgeschenk, mit dem

die Peitschenknaller ins Wirtshaus zogen. In manchen Orten

wurde auch anlässlich der Verlobung oder ein paar Tage

vor der Hochzeit „geblatzt“. Auch die Schulkinder zogen

ihren Vorteil aus der Heirat. Sie spannten paarweise mehrere

kurze Stricke vor der Kirchentüre auf und ließen diese

erst fallen nachdem sie vom Bräutigam, manchmal auch

von den Trauzeugen, eine Handvoll Münzen als Wegzoll in

die Hand gedrückt bekamen. Erwähnt werden soll auch ein

höchst herzloser Brauch, der bei passender Gelegenheit zur

Anwendung kam. Wenn die Braut vor der Trauung sichtbar

an Gewicht zugelegt hatte, dann stützten die jungen Männer

den Kasten, in dem das Aufgebot hing, mit einer größeren

Anzahl Holzbalken ab und gaben damit kund, dass die

Hochzeit „unter Druck“ geschlossen wurde.

In meinem Bücherbestand befindet sich ein Heft von

Ernst Modersohn (1870 – 1948). Vor der Jahrhundertwende

wirkte er einige Jahre als Pfarrer in Weidenau. Als Evangelist

und als erfolgreicher Schriftsteller wurde er später in

ganz Deutschland bekannt. Das Büchlein trägt den Titel:

„Christliche Liebeskunst – Was ein Vater seiner Tochter am

Hochzeitsmorgen sagt.“ Beschrieben wird mit einfachen

Worten, wie eine „gottgewollte Ehe“ zu „einem Stück Himmel

auf Erden“ wird. Ich möchte nachstehend einige Passagen

zitieren, mit denen der Verfasser vor einem Jahrhundert

in den großen Städten wohl hier und da mächtig angeeckt

wäre (vielleicht auch angeeckt ist). Schließlich erlebten in

jenen Tagen die Themen „Frauenrechte“ und „Gleichstellung

der Geschlechter“ ihre ersten Höhepunkte. In unserer

Region hingegen entsprachen seine Aussagen wohl ziemlich

genau der Denkweise nicht nur der Männer. Ich bin

mir sicher, dass auch die damals lebenden Frauen den

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