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Kurzgeschichte

Kurzgeschichte

Meide Spiegel!

Die Zeit ist nur ein leerer

Raum, dem Begebenheiten,

Gedanken und Empfindungen

erst Inhalt geben.

Wilhelm von Humbold

Lange hatte er diesen Tag herbeigesehnt. Endlich

war es soweit! Urlaub! Der Koffer war gepackt, die

Schecks und die spanische Währung hatte er sich

einige Tage zuvor besorgt. Die Geräusche der vielen Menschen

in der Abflughalle vereinigten sich zu einem stetigen,

intensiven Summen, das nur gelegentlich von Lautsprecherdurchsagen

unterbrochen wurde. Krampfhaft das Ticket in

der Hand haltend, so fieberte er dem Einschecken in seine

Maschine entgegen. Schließlich öffnete sich die Türe zur

Gangway, eine Stewardess erschien, das eingeübte Lächeln

auf den geschminkten Lippen, und die Drängelei setzte ein.

Eine halbe Stunde später hob sich die 707 vom Rollfeld

ab und setzte den Kurs Richtung Süden. Während dieses

Manövers hatte er sich tief in seinen Sessel gedrückt

und mit bleichem Gesicht und mit zusammengebissenen

Lippen auf die Veränderungen der Motorengeräusche gelauscht,

die von einem dunklen, satten Ton in ein hohes

Heulen übergingen. Vor Start und Landung hatte er immer

ein wenig Angst. Zwar spürte er die gewaltige Kraft der

Düsen, die ihn stets noch wohlbehalten über die Wolken

getragen hatten, doch ihre Kraft konnte sich auch gegen

ihn wenden. Allein dieser Gedanke presste ihn nicht nur

fest in seinen Sessel, sondern zwang ihn auch, seine Augen

zu schließen. Nur nichts sehen, wenn was passiert! Zu viele

Unfälle hatten sich schon beim Abheben und beim Niedersinken

ereignet. Schwere Unfälle mit zahlreichen Toten

waren stets die Folge gewesen. Die Presse schlachtete die

Ereignisse dann häufig in einer Weise aus, dass die Toten

noch einmal starben. Für Medien und Publikum! Die Ursachen

für die Katastrophen unterschieden sich kaum. Meist

hatte man in der entsprechenden Rubrik des Unfallberichtes

die Wahl zwischen technischem und menschlichem

Versagen, schön und gut! Doch wem wurde eigentlich was

versagt? Der Technik die Funktion, dem Menschen die Reaktion?

Jedenfalls ein Defekt im System!

Mit dem allmählichen Schweigen des Riesenvogels,

der von einer Schräglage in die Horizontale überging, stieg

auch sein Vertrauen. Ich werde mein Urlaubsziel wohlbehalten

erreichen, sagte er zu sich. Er atmete tief durch und

bestellte einen Drink. Einen Unfall beim Rückflug würde

er in Kauf nehmen. Jetzt noch! Wie das dann aussah, ließ

er lieber dahingestellt.

Der Flug verlief ruhig. Keine Turbulenzen oder Luftlöcher

erschütterten das sanfte Gleiten der 707 über den weißen

Wolkenwegen der Luftstraße. Sie wirkten so substan-

ziell, als könne man auf ihren kleinen Hügeln und in ihren

kleinen Tälern tanzen. Nur an wenigen Stellen gab die dichte

Wolkenschicht den Blick auf das darunterliegende Land

frei. Dann sah man, dass die Welt unten düster und grau

war. Hier oben über den Wolken herrschte dagegen die Sonne.

Man müsste hier oben in der Sonne leben können. Aber

was soll’s, flog er doch geradenwegs in ein von der Sonne

verwöhntes Gebiet. Er lehnte sich zufrieden in seinen Sitz

zurück und genoß glücklich seinen Whisky.

Da plötzlich ein Stoß. Spürbares Zittern des Passagierraumes.

Er schloss die Augen. Die alte Angst stieg wieder in

ihm hoch, gewann über sein Vertrauen die Oberhand. Nicht

jetzt, nur nicht jetzt, betete er. Unvermittelt dann wieder die

Normalität: Die vertrauten Fluggeräusche gaben seinen Ohren

das Signal, dass keine Gefahr mehr bestand. Zögernd

öffnete er wieder die Augen. Und sogleich schwand das

beklemmende Gefühl. Einige Reihen vor seinem Platz lächelte

die Stewardess einen Gast an, dem sie gerade den

bestellten Drink reichte. und der Dicke neben ihm rauchte

unbeeindruckt seine Zigarre. Kurze Zeit später schon setzte

das Flugzeug zu einer sanften Landung an, und er wunderte

sich darüber, denn er hatte mit einer längeren Flugzeit

gerechnet. Die Passagiere applaudierten begeistert, als die

Bugräder die Betonpiste berührten und die Maschine mit

immer weiter abnehmender Geschwindigkeit auf das

langgestreckte Flughafengebäude zurollte. Der

Dicke neben ihm rief durch seine wulstigen

Lippen ein paarmal laut sein: Da capo!

Da capo!

und die Passagiere

in seiner

Nähe lachten ausgelassen

und befreit.

Der Transfer zum Hotel klappte reibungslos

und ohne längere Wartezeiten. Beim

Einstieg in den Bus begrüßte ihn die blonde Reisebegleiterin

mit einem Lächeln. Ihre hochgewachsene, wohlproportionierte

Gestalt mit dem ovalen, braungebrannten Gesicht

und dem kessen Blick erinnerte ihn an eine frühere Freundin,

die ihn mit einem anderen betrogen und ihn dann - konsequent

ist konsequent - verlassen hatte. Er sah genauer hin. Ja,

unverkennbar, fast schon wie eine Zwillingsschwester. Er

zwinkerte ihr behutsam zu, und sie zwinkerte aufmunternd

zurück. Da konnte sich möglicherweise etwas ergeben!

Nach einer halbstündigen Busfahrt durch enge Straßen,

die von weißen, tiefgeduckten Häusern begrenzt waren,

erreichten sie das Hotel. Ganz genau so wie die Abbildungen

es auf dem Prospekt gezeigt hatten, stand da ein Hochhausbau

mit vielen Balkonen in der Mittagssonne. Genau

so hatte er es sich seit seiner Buchung vor einem halben

Jahr erträumt. Nur die Landschaft war merkwürdig karg

und weiß, und der Bau stand völlig einsam auf dem felsigen

Grund.

Der Empfangschef begrüßte ihn

freundlich und lächelte, und er erinnerte

sich, dass er sein Bild

im Katalog gesehen hatte.

Genau so wie jetzt

hatte er vor dem

Schlüsselbrett

und den

Post-

fächern

gestanden

und in die

Kamera gelächelt.

Seltsamerweise

trug

er sogar den

gleichen Anzug

und schien kein Jahr

älter geworden zu sein,

obgleich seit dieser Aufnahme

schon einige Jahre ins Land gegangen

sein mussten, denn auch in älteren Katalogen

hatte er dieses Bild gesehen.

Er blickte sich um. Nichts war ihm fremd. Überall

sah er bekannte Gesichter. Die Gäste, das Personal, alle

ähnelten in auffälliger Weise irgendwelchen Bekannten

oder Freunden. Aber das war einfach nicht möglich! Nur

ein Zufall, sagte er zu sich. Gott sei Dank unterschieden

sich gerade die Kellner, Serviererinnen, Oberkellner und

Zimmermädchen durch ihr eindeutig dominierendes, südliches

Aussehen. So wurde ein möglicher Verdacht jedenfalls

in den Bereich der Illusion verwiesen.

Der Page, der mit dem rotzfrechen Nachbarjungen zu

Hause eine ebenso unangenehme wie unverkennbare Ähnlichkeit

hatte, führte ihn in sein Zimmer. Geräumig, Südlage

mit Balkon, so wie das im Katalog abgebildete Lockbeispiel.

Es ist doch einfach wunderbar, wenn einem alles

gleich so vertraut ist, dachte er bei sich, wobei er mit einer

gewissen Genugtuung feststellte, dass in dem Kleiderschrank

eine ausreichende Anzahl unterschiedlicher Bügel

baumelte. Das weißgetünchte Bad machte einen sauberen

Eindruck. Er registrierte befriedigt, dass der Handtuchhalter

zusätzlich ein flauschiges, weißes Duschtuch trug. Das

Klo war durch einen breiten Papierstreifen versiegelt. Aus

irgendeinem Grund mied er den Blick in den Spiegel. Er

hätte nicht sagen können, warum. Er hatte einfach nicht

das Bedürfnis hineinzusehen. Es war nicht von Bedeutung.

Irgendwann würde er hineinsehen, das war keine große Sache.

Aber jetzt hatte er Wichtigeres zu tun; er musste sich

mit seiner Umgebung vertraut machen.

Er verließ das Zimmer und sah sich nach den Möglichkeiten

um, die das Hotel zur Unterhaltung bot. Es gab die

üblichen Spiele und Sportarten, selbstverständlich von

gutgelaunten Animateuren geleitet (einer sah wahrhaftig

aus wie einer seiner früheren Lehrer). Es fehlte auch nicht

die unvermeidliche Disco im Freien mit dem stets lächelnden

Plattenjockey, der sich durch seine abgeleierten Scheiben

quälte, dabei mit den Zerrtönen um die Wette heulte

und Stoßgebete zum Himmel sandte, wobei er dem Pfarrer

wie aus dem Gesicht geschnitten war, der erst neulich mit

einem Lob des Herrn auf den Lippen seinen Onkel zu jener

Ruhe geleitet hatte, die man zwar die ewige heißt, die

dennoch für den Gläubigen jene vor dem Tohuwabohu des

Jüngsten Gerichtes ist. Beerdigungen, Hochzeiten, Taufen

und allenfalls noch die Konfirmation waren die einzige

Gründe für ihn, mit Rücksicht auf die Gefühle seiner Angehörigen

jene kalten und kargen Stätten mit dem tönenden

Glockenturm aufzusuchen, die er ansonsten mied.

Alles war genau so, wie es der Prospekt versprochen hatte.

Nur an manchen Stellen in dem weitläufigen Hotelbau gähnte

eine spürbare Leere, als hätte man die dort ehemals vorhandenen

Gegenstände ausradiert. Nicht, dass er irgendwas

vermisste! Ja, er hätte nicht einmal zu sagen gewusst, was

dort fehlte. Es war einfach so ein Gefühl. In der Empfangshalle

beherrschte ihn eine andere Empfindung. Dort war

unübersehbar eine Wand von einem großen Spiegel eingenommen.

Meide Spiegel, sagte er zu sich bei seinem Anblick.

Und obgleich er nicht die geringste Vorstellung hatte, welcher

Umstand diesem Befehl zugrunde lag, der aus seinem

tiefsten Inneren zu kommen schien, so bewegte er sich doch

stets vorsichtig durch die riesige Eingangshalle, wobei er den

Blick unverwandt auf die gegenüberliegende Seite der Halle

richtete und dabei stets die Reproduktion eines Picasso-

Gemäldes fixierte. Er kannte es. Im Museum of Modern Art

in New York hatte er es einmal gesehen und lange Zeit davor

gesessen. Sogar an den Titel konnte er sich noch erinnern.

„Frau vor dem Spiegel“ hatte der Künstler sein kubistisches

Werk genannt. Doch dieser Spiegel zeigte kein genaues Abbild

der Frau. Das sonnig strahlende Gesicht wirkte in seinem

Abbild traurig, beschädigt, ja fast schon verwüstet. Auch den

Körperformen, die ohnehin schon kubistisch verbogen waren,

nahm der Spiegel die gesunde Fülle. Schon damals hatte

ihn das Bild mit Traurigkeit erfüllt, ein Gefühl, das sich nun

jedesmal einstellte, wenn er durch die Halle schritt und seinen

Blick auf die farbenfrohen Flächen richtete.

Es waren herrliche Tage, ein toller Urlaub, und er genoß

ihn in jeder Sekunde. Die Sonne sandte ihre Strahlen täglich

über zehn Stunden vom Himmel herab und tönte seine weiße

Bürohaut erst rot, dann allmählich braun. Er stürzte sich in

die warmen Wogen des Mittelmeeres, grub seine Füße in den

sandig nassen Grund oder beobachtete vom Steg still ver-

Bild: wikimedia - commons, (bearbeitet)

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