db 2020-4 WEB
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Kultur
Wolken verleihen
Flügel
Alte Reifenschläuche an der Decke, Kabelstücke auf
dem Sockel, Wasserflaschen am Boden oder eine
geheimnisvolle Maschine sind zu sehen. Was hat
das wohl mit Wolken zu tun?
Jeder von uns hat sofort Bilder im Kopf, wenn es um
Wolken geht. Mal sind es fröhliche weiße Wolken am blauen
Himmel, die zum Spiel „ich sehe was, was du nicht
siehst“ zum Figurenraten auffordern. Mal machen bedrohliche
Gewitterwolken - von hinten grell orange beleuchtet -
Angst vor Blitz, Donner oder sogar Untergang. Seit Urzeiten
spiegeln Wolken unbewusst unsere Wünsche, Hoffnungen
und Ängste.
Frischen Wind in unser Wolkenbild bringen jetzt 80
Exponate, die Direktor Thomas Thiel und Kuratorin Ines
Rüttinger für die Museumsräume im alten Postgebäude ausgewählt
haben. Mit Foto-und Videoarbeiten, Bildern, Skulpturen
und Installationen haben sich aktuell 15 internationale
Künstlerinnen und Künstler mit dem Thema auseinandergesetzt.
Mal analog, mal digital, mal wissenschaftlich. Das
macht die Sache spannend.
Wie Thomas Thiel beim Rundgang erklärte, sei die Wolke
ein Symbol für das Göttliche, Traumhafte, Nebulöse
gewesen, wurde aber im Lauf des 19. Jahrhunderts nicht
nur Thema der Fantasie und der Kunst sondern der Wissenschaften
wie Physik oder Meteorologie. Negativer Höhepunkt
war wohl im 20. Jahrhundert die Entwicklung der
Atombombe mit dem bedrohlichen „Atompilz“ am Himmel.
Für eine Überraschung sorgt das Werk „Encrage „ (2014)
von Latifa Echakhch, einer in Marokko geborenen Künstlerin,
die heute in der Schweiz lebt. Es sind auf Holz gemalte
Wolkenplatten, die an Stahlseilen befestigt sind und nah
über dem Boden schweben. Erinnerungen an alte Kulissen
werden wach. Betritt man den eher kleinen Raum zeigen
sich schwarze Wolken, neben denen wie zufällig Fundstücke
aus vergangenen Jahrzehnten arrangiert sind: ein kleiner
analoger Fotoapparat sowie ein verschlissener Karton mit
der Fantasie
Herbstausstellung im Museum für Gegenwartskunst Siegen
alten Schallplatten. Beide Objekte sind schwarz bepinselt.
Geht man um die Installation herum zeigt sich die heitere
Seite: Wie im Kinderbuch wurden die Schäfchenwolken
hier weiß und himmelblau bemalt. Ein bisschen Retro!
Ganz unsentimental geht der Amerikaner Trevor Paglen
vor. In der aktuellen Fotoserie „Clouds“ (2019) zeigt
er Wolkenformationen, von denen er verschiedene Bild-
Algorithmen strukturell erfassen ließ. Es geht ihm um die
„Vermessung der Welt“, wo wir auch beim Thema Tracking-
Systeme sind, Künstliche Intelligenz und Überwachung.
Die computergenerierten Linien von den Wolken wurden
dann von Paglen über die Originalfotos gelegt, wie ein ästhetisch
anmutendes Netz.
Der Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter
und jetzt zur KI (Künstliche Intelligenz), durch die Corona-
Krise erneut befeuert, wird am besten von Nina Canell´s
Installation „Brief Syllable/Thin Vowels“ (2014) verdeutlicht.
Die schwedische Bildhauerin und Installationskünstlerin,
die heute in Berlin lebt, machte aus geordnetem Kabelgewirr,
das für die Übertragung digitaler Daten in einen
Datenspeicher, Cloud (Wolke) genannt, notwendig ist, ein
feines ästhetisches Kunstwerk. Abgekappte kleine Stücke
der notwendigen Strom- und Fernmeldekabel, die zur Übertragung
dieser Daten notwendig sind, wurden von Canell
wie kleine, feine Skulpturen behandelt und zeigen so auch
die große ästhetische Qualität von Technik. Man kann bei
Querschnitten durch die Kabel an Murano-Glas oder an feine
handgemachte Bonbons denken. Dabei liegen die Kabelstränge
kilometerlang versteckt unter der Erde oder auf den
Meeresböden. Sie verbinden Kontinente und machen so die
Globalisierung erst möglich. Für die „digital natives“ alles
ganz normal. Das hochkomplexe Kommunikationssystem
hat also auch mit Schönheit zu tun. Form follows function!
Wasser und Wolken stehen immer wieder im Fokus des
amerikanischen Künstlers David Horvits. Eine Art Liebeserklärung
ist sein Satz „Wann immer ich unter der Dusche
stehe, denke ich daran, dass
das Wasser einmal eine Wolke
war“. Seine Arbeit „Imagined
Clouds“ (2020) macht
auf den Kreislauf von Wasser
und den Recyclingzyklus
von Flaschen aufmerksam.
Kuratorin Ines Rüttinger stellte
nach seinen Vorgaben zu dieser
Ausstellung ortsbezogen auf
Siegen die Installation zusammen
und in Form einer Wolke
auf: 400 Wasserflaschen - alle
in Siegen gekauft - hauptsächlich
aus Deutschland, einige
aus aller Welt, stehen auf dem
Parkettboden in einem großen
hellen Saal des MGK. Kann
sein, dass Horvits auf die Problematik
des Wassers für alle hinweisen
möchte. Ist das Element
Wasser ein Grundrecht? Darf das Element Wasser privatisiert
werden? Europäer denken hier an die EU-Wasserpetition von
2013, in der der Zugang zu Trinkwasser zu gerechten Preisen
für alle gefordert wird. Trinkwasser sollte kein Spekulationsobjekt
sein und werden.
In einem abgedunkelten Raum steht ein geheimnisvoller
Turm aus Technik, Motoren, Schläuchen sowie Glaskolben
und entpuppt sich am Ende als das Werk der französischen
Künstlerin Marie-Luce Nadal: Es ist eine „Wolkenmaschine“
oder Destillationsmaschine mit dem Titel „Factory of
the Vaporous“ No.2“ (2014). Erinnerungen
an die Alchimisten im
Mittelalter oder an die Welt des Romans
„Das Parfum“ werden wach.
Es sollten edle Metalle oder Düfte
destilliert werden. Dank ihres Apparats
gelingt es heute der Künstlerin,
Siegener Luft - oder ein Stück vom
Himmel - draußen einzufangen und
nach Durchlauf durch ihre Maschine
zu kostbaren Tropfen zu destillieren.
Zu Hause in Paris wird sie
diese wenigen Tropfen dann wieder
in einem verschlossenen Gefäß in
Siegener Wolken verwandeln. Eine
verrückte Idee - perfekt inszeniert!
Es gibt noch viel zu entdecken:
Video-Installationen, genial gemalte
Bilder und viele Arbeiten beschäftigen
sich kritisch mit politischen,
sozialen und ökonomischen
Problemen, vor allem mit der Erderwärmung
und Umweltzerstörung
und ihren Folgen. Hierzu gehört
Ho Tzu Nyen „The Cloud of Unknowing“ (2011)
Benoît Maire, „Clouds Painting“, (2020)
auch die bedrohlich wirkende Arbeit von Michael Sailstorfer
„Himmel Berlin“(2014-16) die er 2020 nach Siegen
brachte. Die alten LKW-Schläuche arrangierte er diesmal
in Wolkenform unter der Decke des Eckzimmers des alten
Postgebäudes. Unheimlich, die Betrachter scheinen die Autoabgase
fast zu riechen. Man ist überrascht und froh, gleich
in den nächsten Raum zu verschwinden. Das Thema Auto
und Umwelt wird hier sehr plakativ auf den Punkt gebracht.
Für die Video-Installation „The Cloud of Unknowing“
(Die Wolke der Unwissenheit, 2011) von dem Künstler Ho
Tzu Nyen aus Singapur muss man
sich Zeit mitbringen. Die Macht
der Bilder wirkt magisch. Ziel des
Künstlers war es, kulturell historisch
und philosophisch die europäische
und die ostasiatische Kunst
zu verbinden und einen überraschenden
Mix aus beiden Kulturen
zu präsentieren. Die Arbeit von Ho
Tzu Nyen verwebt verschiedene
Charaktere in einem Hochhaus in
Singapur, die mit einer Wolke, die
der Unwissenheit - real oder symbolisch
- konfrontiert werden. Zu
sehen ist eine grandiose Bilderexplosion.
Unbedingt ansehen und
anhören! Pop-Songs begleiten die
einzelnen Szenen. Am Ende des
Films gibt es noch eine Überraschung.
Die Ausstellung läuft bis zum
10. Januar 2021, dazu gibt es ein
umfangreiches Begleitprogramm.
Text: Tessie Reeh, Fotos: Rita Petri
44 durchblick 4/2020 4/2020 durchblick 45