tassilo - das Magazin rund um Weilheim und die Seen - Ausgabe Januar/Februar 2021
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Original in Bayerischer Staatsbibliothek<br />
Das Wessobrunner Gebet<br />
Wessobrunn | Es handelt sich <strong>um</strong><br />
<strong>das</strong> älteste erhaltene, christliche<br />
Gedicht deutschsprachiger Literatur:<br />
Das Wessobrunner Gebet.<br />
Aufbewahrt wird <strong>das</strong> Original<br />
in der Bayerischen Staatsbibliothek<br />
München, Abteilung „Handschriftliches“.<br />
Genaugenommen<br />
in einem <strong>r<strong>und</strong></strong> <strong>um</strong> <strong>die</strong> Uhr gesicherten<br />
Ra<strong>um</strong>, gemeinsam mit<br />
anderen, historisch wertvollen<br />
Handschriften. Um <strong>die</strong>se „Pergamenthandschrift<br />
mit mittelalterlichem<br />
Ledereinband über einem<br />
Holzdeckel“ möglichst lange im<br />
Urzustand erhalten zu können,<br />
ist <strong>das</strong> Wessobrunner Gebet nicht<br />
nur <strong>r<strong>und</strong></strong> <strong>um</strong> <strong>die</strong> Uhr bewacht –<br />
<strong>die</strong> Temperatur des Aufbewahrungsra<strong>um</strong>es<br />
beträgt ganzjährig<br />
18 Grad, <strong>die</strong> Luftfeuchtigkeit liegt<br />
immer bei 50 Prozent. Obendrein<br />
ist <strong>das</strong> Schriftstück in eine auf Maß<br />
angepasste Schutzkassette aus alterungsbeständiger<br />
Pappe mit<br />
Leinenbezug <strong>und</strong> schadstofffreiem,<br />
natürlichem Klebstoff gehüllt.<br />
So ist der „Wessobrunner Codex“<br />
vor mechanischer Beschädigung<br />
ebenso wie vor Licht, Staub sowie<br />
raschen Temperatur- <strong>und</strong> Feuchtigkeitsschwankungen<br />
geschützt.<br />
Verfasser bis heute<br />
unbekannt?<br />
Einer, der schon unzählige Male<br />
den Weg nach München auf sich<br />
genommen hat: Konrad Hölzl,<br />
zwischen 1972 <strong>und</strong> 1996 Bürgermeister<br />
der Gemeinde Wessobrunn,<br />
der sich mit zunehmendem<br />
Alter immer häufiger der<br />
hiesigen Ortshistorie annahm. Er<br />
schrieb Haus- <strong>und</strong> Hofgeschichte<br />
nieder, veröffentlichte ein Buch<br />
mit gesammelten Sterbebildern<br />
Altbürgermeister Konrad Hölzl mit der Nachbildung des Originals.<br />
<strong>und</strong> kennt sich auch mit dem<br />
Wessobrunner Gebet bestens aus.<br />
„Geschrieben wurde es <strong>um</strong> 800“,<br />
sagt er. Der Verfasser? „Unbekannt“.<br />
Aber noch viel spannender:<br />
„Obwohl namentlich alles<br />
darauf hindeutet, wurde es nicht<br />
in Wessobrunn geschrieben.“ Allein<br />
deshalb nicht, weil 955 nach<br />
Christus, also <strong>r<strong>und</strong></strong> 155 Jahre nach<br />
der Entstehung des Schriftstückes,<br />
<strong>die</strong> Ungarn <strong>das</strong> komplette Wessobrunner<br />
Kloster zerstört <strong>und</strong><br />
nahezu alle darin lebenden Mönche<br />
<strong>um</strong>gebracht hatten – lediglich<br />
drei Mönchen gelang damals <strong>die</strong><br />
Flucht. Eine grausame Zeit, <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong>ses christliche Gedicht unmöglich<br />
hätte überleben können. Getauft<br />
wurde <strong>das</strong> Schriftstück erst<br />
im Jahre 1803 z<strong>um</strong> „Wessobrunner<br />
Gebet“. Hinterg<strong>r<strong>und</strong></strong>: Im Zuge der<br />
Säkularisation, zwischen 1799 <strong>und</strong><br />
1821, wurden kirchliche Besitztümer<br />
verstaatlicht, fand sozusagen<br />
erstmals in der Geschichte der<br />
Menschheit eine Art Verweltlichung<br />
statt. Davor blieb auch <strong>das</strong><br />
Wessobrunner Kloster nicht verschont.<br />
Und alles, was <strong>die</strong> damaligen<br />
Staatsmänner beim Streifzug<br />
durch Wessobrunn gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
als wertvoll angesehen haben,<br />
wurde beschlagnahmt. Dazu gehörte<br />
auch <strong>die</strong>ses handgeschriebene<br />
Gebet in altdeutscher Sprache,<br />
<strong>das</strong> damals, also 1803, im<br />
Wessobrunner Kloster gef<strong>und</strong>en –<br />
<strong>und</strong> deshalb auch z<strong>um</strong> „Wessobrunner<br />
Gebet“ getauft wurde.<br />
Wie <strong>und</strong> vom wem es dorthin<br />
gekommen ist? „Auch nicht bekannt“,<br />
sagt Hölzl <strong>und</strong> grinst. Forscher<br />
gehen allerdings davon aus,<br />
<strong>das</strong>s es jemand aus den Diözesen<br />
in Augsburg oder Regensburg geschrieben<br />
haben könnte.<br />
Hinkelstein am<br />
Lindenplatz<br />
Ein bisserl traurig sind <strong>die</strong> Wessobrunner<br />
schon, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Original<br />
ihren Namen trägt, aber nicht in<br />
Gemeindebesitz ist. Wobei <strong>die</strong><br />
Nachbildung, aufbewahrt im<br />
Wessobrunner Pfarramt, dem Original<br />
verblüffend ähnlich sieht.<br />
Z<strong>um</strong>al weitere Erinnerungen an<br />
<strong>das</strong> christliche Gedicht fest im<br />
Dorf verankert sind. Z<strong>um</strong> Beispiel<br />
ein <strong>r<strong>und</strong></strong> 2,50 Meter großer Hinkelstein,<br />
platziert am Lindenplatz<br />
gegenüber des Gasthauses „Zur<br />
Post“. In ihm ist ebenfalls <strong>das</strong><br />
Das Gebet in Stein gemeißelt: Am Lindenplatz in Wessobrunn, über dem Gasthaus „Zur Post“, steht <strong>die</strong>ser<br />
gegen-<br />
Hinkelstein.<br />
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