11.09.2021 Aufrufe

bull_07_02_Städte

Credit Suisse bulletin, 2007/02

Credit Suisse bulletin, 2007/02

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Städte</strong> Louvain-la-Neuve 15<br />

Louvain-la-Neuve<br />

Eine junge europäische Stadt<br />

Im Jahr 1971 gab es hier, südöstlich von Brüssel, nichts als Rübenfelder und vier<br />

Bauernhöfe. Heute steht an diesem Ort eine pulsierende Universitätsstadt, in der mehr<br />

als 37000 Menschen leben, studieren und arbeiten. Das Bulletin ist der Frage nachgegangen,<br />

warum und auf welchen städtebaulichen Prinzipien hier in Rekordzeit die erste<br />

<strong>Städte</strong>gründung Belgiens seit Charleroi im Jahr 1666 erfolgte. Unterhalten haben wir<br />

uns mit einigen Konzeptvätern – <strong>Städte</strong>planer und Architekten – sowie mit Einwohnern<br />

dieser neuen Stadt.<br />

Text: Dorothée Enskog<br />

Foto: Thomas Eugster<br />

Die im Jahr 1425 gegründete Université Catholique de Louvain<br />

(UCL) gehört zu den ältesten Universitäten der Welt. Wie damals<br />

in Europa üblich, wurde in Latein gelehrt. Ab 1835, fünf Jahre nach<br />

der Unabhängigkeit Belgiens, löste das Französisch das Latein als<br />

Unterrichtssprache ab. Ab dem ausgehenden 19.Jahrhundert wurden<br />

bestimmte Universitätsdokumente zwar auch in Niederländisch<br />

abgefasst, doch war man von einem parallelen zweisprachigen<br />

Kursangebot noch weit entfernt – Französisch blieb die dominierende<br />

Unterrichtsprache. Die flämische Separatistenbewegung<br />

gewann im Laufe der Zeit zunehmend an Gewicht, ebenso deren<br />

Forderungen. Als Folge der Proteste flämischer Studenten wurde<br />

die Katholische Universität Löwen – so der deutsche Name –<br />

schliesslich im Juni 1968 aufgeteilt: in eine niederländischsprachige<br />

Fakultät mit 12 500 Studenten sowie in eine französischsprachige<br />

Fakultät mit 11 800 Studenten. Weil ein Zusammenleben nicht<br />

mehr praktikabel schien, sollte die frankofone Abteilung in die noch<br />

zu bauende Stadt Louvain-la-Neuve (Neu-Löwen) «umgesiedelt»<br />

werden.<br />

Im Jahr 1969 erwarb die UCL mit einem Darlehen des belgischen<br />

Staats für 747 Millionen belgische Francs (30 Millionen Schweizer<br />

Franken) 30 Kilometer südöstlich von Brüssel 920 Hektaren bis<br />

anhin landwirtschaftlich genutztes Land. Das Darlehen wurde vor<br />

zwei Jahren zurückbezahlt. Die UCL-Verantwortlichen hätten, dem<br />

Geiste der Sechzigerjahre folgend, einen reinen Universitätscampus<br />

bauen können, doch sie entschieden sich für die Gründung einer<br />

neuen Stadt. Schliesslich hatte sich in Louvain im Verlaufe von mehr<br />

als fünf Jahrhunderten gezeigt, dass das Zusammenleben zwischen<br />

Studenten und Bevölkerung einen ganz speziellen, überaus angenehmen<br />

Geist fördert, den man auch in Louvain-la-Neuve nicht<br />

missen wollte; eine reine Schlafstadt oder ein Studentenghetto galt<br />

es um jeden Preis zu vermeiden. Nachdem ein erstes Projekt des<br />

amerikanischen Architekten Victor Gruen als zu monolithisch verworfen<br />

worden war, beauftragten die Universitätsbehörden Raymond<br />

Lemaire, einen Kunstgeschichteprofessor aus den eigenen<br />

Reihen, mit der Erarbeitung eines städtebaulichen Konzepts.<br />

Im Jahr 1970 wurde Lemaires Konzept schliesslich verabschiedet,<br />

und es bestimmt noch heute die Entwicklung von Louvain-la-Neuve.<br />

Ziel war und ist die Schaffung eines mittelgrossen urbanen Umfelds,<br />

in welchem die nichtstudentische Bevölkerung überwiegt. «Wir<br />

strebten nach einer kleinen städtischen Einheit, deren Zentrum sich<br />

über maximal einen Kilometer erstreckt und so den sozialen und<br />

intellektuellen Austausch fördert. Es galt also, eine begrenzte und<br />

dichte fussgängerfreundliche Stadt zu bauen, denn wenn ein Einheimischer<br />

mehr als zehn Minuten zu Fuss gehen muss, nimmt er<br />

sein Auto», erläutert der <strong>Städte</strong>planer Luc Boulet, der die städtebauliche<br />

Entwicklung von Louvain-la-Neuve koordiniert. Um das<br />

Stadtzentrum zu beleben und am Pulsieren zu halten, verteilten die<br />

Planer von Neu-Löwen die Universitätslokalitäten über die gesamte<br />

Stadt.<br />

Pioniere in Gummistiefeln<br />

Im Februar 1971 erfolgt die Grundsteinlegung, und nur 21 Monate<br />

später, im Oktober 1972, wird der Studienbetrieb in Louvain-la-<br />

Neuve aufgenommen. Die Bevölkerung der neuen Stadt setzt sich<br />

zu diesem Zeitpunkt aus 200 Nichtstudenten und rund 800 Studenten<br />

der Fakultät der angewandten Wissenschaften zusammen.<br />

Die Universitätsleitung war davon ausgegangen, dass künftige Ingenieure,<br />

die sich dereinst von Berufs wegen häufig auf Baustellen<br />

bewegen würden, sich von den Unannehmlichkeiten der omnipräsenten<br />

Bautätigkeit wenig beeindrucken lassen würden. «Der Ort war<br />

eine permanente Baustelle, und in den ersten Monaten musste man<br />

sich in Gummistiefeln fortbewegen», erinnert sich Philippe Piette<br />

von Inforville, dem Informationsdienst der Stadt Louvain-la-Neuve.<br />

«Es herrschte ein wahrer Pioniergeist unter den Neuankömmlingen.»<br />

Das vollumfänglich als Fussgängerzone konzipierte Stadtzentrum<br />

ist in ein kleines Tal eingebettet und wird von vier Wohnquartieren<br />

umrahmt. Das Zentrum wurde auf einer Betonplatte errichtet – als<br />

eine Art Dach, unter dem Servicebetriebe, Eisenbahninfrastruktur<br />

sowie über zwei bis drei Ebenen verlaufende Autostrassen und ><br />

Credit Suisse Bulletin 2/<strong>07</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!