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Credit Suisse bulletin, 2007/02
Credit Suisse bulletin, 2007/02
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Foto: Andri Pol<br />
Was meinen Sie mit existenziell?<br />
Wir haben es hier mit tief greifenden Beziehungen<br />
zu den menschlichen Lebensgrundlagen<br />
zu tun. Kunst, Religion, Säkularität,<br />
soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche,<br />
kommunale und sportliche Aktivitäten gehören<br />
zum Existenziellen, sind ein Zweck an<br />
sich. Das Endresultat ist Freude, eigentliche<br />
Offenbarung. Wir erfahren uns gegenseitig<br />
und loten unsere Menschlichkeit aus. Die<br />
Menschen finden darin einen Lebenssinn.<br />
Sie erleben hier jene Momente, an die sie<br />
sich auf dem Sterbebett erinnern.<br />
InIhremBuch«DasEndederArbeit<br />
und ihre Zukunft» sagen Sie voraus, dass<br />
die wöchentliche Arbeitszeit abnehmen<br />
und die Zeit für existenzielle Erfahrungen<br />
als Folge der Verbreitung intelligenter<br />
Technologien zunehmen wird.<br />
Richtig. Die wöchentliche Arbeitszeit wird<br />
auf 30 Stunden zurückgehen, weil die smarten<br />
Technologien eine höhere Produktivität<br />
ermöglichen werden. Das wist die eigentliche<br />
Leistung der industriellen Revolution:<br />
kürzere Arbeitszeiten und mehr Freizeit. 30<br />
Stunden Arbeit pro Woche halte ich für vernünftig;<br />
die Forschung hat ergeben, dass<br />
Säugetiere, insbesondere Primaten, drei bis<br />
vier Stunden pro Tag in Topform, also reproduktionsfähig<br />
sind – der Rest ist Spiel und<br />
Erholung, egal ob Hund oder Katze oder<br />
Löwe oder Sie oder ich.<br />
Die 40-Stunden-Woche ist demnach …<br />
… nichts als Zeitverschwendung, ein total<br />
veraltetes Konzept – Arbeit, Arbeit und immer<br />
mehr Arbeit. Ich denke, sechs Stunden<br />
pro Tag sind ausreichend, was mehr Zeit für<br />
Spiel und Familie bedeutet und eher einem<br />
europäischen Ansatz entspricht. Überhaupt<br />
glaube ich, dass die Europäer richtig und die<br />
Amerikaner falsch liegen. Wir leben, um zu<br />
arbeiten, die Europäer arbeiten, um zu leben.<br />
Die Japaner und Koreaner halten sich an<br />
das amerikanische Modell, ein Grossteil der<br />
restlichen Welt an das europäische, streben<br />
also nach einem Gleichgewicht zwischen<br />
Arbeit und Spiel.<br />
Die europäische Fähigkeit, sich auf die<br />
Lebensqualität zu fokussieren, hat dazu<br />
beigetragen, dass Sie den europäischen<br />
Traum als dem amerikanischen überlegen<br />
betrachten.<br />
Der amerikanische Traum ist eng mit Arbeitsmoral<br />
verknüpft – wir haben die weltweit<br />
längsten Arbeitszeiten, sogar längere<br />
als die Japaner und Koreaner. Sie bildet<br />
einen Bestandteil unserer Religiosität: Wenn<br />
du eine gute Ausbildung erwirbst und hart<br />
arbeitest, kannst du dein Leben erfolgreich<br />
gestalten. Doch dieser Traum ist individualistisch<br />
und egoistisch, ausgerichtet auf<br />
die Anhäufung von persönlichem Reichtum,<br />
während der europäische Traum sich stärker<br />
an Lebensqualität orientiert. Das flexible,<br />
kommunitaristische europäische Modell der<br />
Gesellschaft, der Geschäftswelt und des<br />
Gemeinwesens eignet sich besser für die<br />
Herausforderungen des 21.Jahrhunderts.<br />
Ist Europa bereit für die Herausforderung?<br />
Europa ist in der Tat am besten positioniert,<br />
um den Weg ins neue Zeitalter zu weisen –<br />
es ist eine Position zwischen dem extremen<br />
Individualismus Amerikas und dem extremen<br />
Kollektivismus Asiens.<br />
Sie scheinen bezüglich Europa sehr<br />
optimistisch zu sein.<br />
Europa ist ein Chaos, mit all der Scheinheiligkeit,<br />
der Voreingenommenheit, den Defiziten<br />
und den Machtkämpfen – und dennoch repräsentiert<br />
es das Laboratorium der Globalisierung.<br />
Ich mache mir keine Illusionen in<br />
Bezug auf Europa, doch trotz aller Probleme<br />
haben es 500 Millionen Menschen aus<br />
27 Ländern, von Irland bis Russland, innerhalb<br />
von weniger als drei Generationen – so<br />
verwirrend es auch sein mag – geschafft,<br />
die erste transnationale politische Gemeinschaft<br />
der Geschichte zu kreieren. Der zugrunde<br />
liegende Traum, so brüchig er auch<br />
sein mag, repräsentiert den ersten Versuch,<br />
so etwas wie ein globales Bewusstsein zu<br />
erreichen.<br />
Was braucht es, damit der europäische<br />
Traum Wirklichkeit wird?<br />
Ich glaube, das hängt von der Fähigkeit<br />
Europas ab, den Islam zu integrieren. Der<br />
Traum Europas besteht darin, eine globale<br />
öffentliche Plattform zu sein, Einheit in der<br />
Vielfalt, in der die Menschen dieser Welt<br />
zusammenleben können, vereint im Bestreben<br />
nach Zugehörigkeit, Nachhaltigkeit,<br />
Menschenrechten und Frieden. Doch um<br />
diesen Traum zu verwirklichen, muss Europa<br />
Nordafrika und den Nahen Osten sowie speziell<br />
den Islam wirksam integrieren. Falls<br />
dies nicht gelingt, wird die Welt einen Schritt<br />
rückwärts machen und werden wir jenes<br />
globale Bewusstsein möglicherweise nicht<br />
erreichen. Dann stellt sich die Frage, wer<br />
anstelle Europas diesen Traum verwirklichen<br />
kann. <<br />
Jeremy Rifkin war Referent an<br />
der Credit Suisse Thought Leadership<br />
Conference vom März 20<strong>07</strong>.<br />
Modus 274/7<br />
Der Zeit voraus.<br />
Modus ist seit 12 Jahren der Beweis<br />
dafür, dass Tradition und Moderne<br />
keine Widersprüche sind.<br />
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