54 Wirtschaft Indien Indiens Entwicklung schafft auch einen rasant wachsenden Konsumentenmarkt, der das ganze wirtschaftliche Spektrum abdeckt. So ist in den letzten Jahren eine kaufkräftige Mittelklasse entstanden, die mit etwa 300 Millionen potenziellen Kunden die gleiche Grösse hat wie die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten Amerikas. Credit Suisse Bulletin 2/<strong>07</strong>
Wirtschaft Indien 55 Wachstum, Wachstum, Wachstum! Die letzte Dekade Indiens war eindrucksvoll, die nächste soll nicht anders werden. Doch neben Freude und Zuversicht schwingt auch ein bisschen Sorge mit. Denn ohne beeindruckendes Wachstum droht Indiens Zukunft Gefahr. Text: Marcus Balogh Fotos: Niklaus Spoerri, remote.ch | Punit Paranjpe, Reuters Seit Ende April 20<strong>07</strong> ist Indien das jüngste Mitglied im Trillion Dollar Club. Ausgeschrieben in eindrücklicher Länge: 1000000000000. An sich ist die Aussage gewagt, basiert sie doch auf einer Hochrechnung der Ergebnisse des ersten Quartals 20<strong>07</strong>. Sofern in der zweiten Jahreshälfte keine unerwarteten Katastrophen über Indien oder die Weltwirtschaft hereinbrechen, wird das Ziel jedoch bestimmt erreicht. Als Pedant würde man hinzufügen, dass das blosse Überschreiten einer bestimmten Anzahl von Nullen kein magischer Akt sei – denn an sich verändert sich rein gar nichts. Das Ereignis spiegelt jedoch Indiens nächsten Schritt beim Aufstieg zu einer der bedeutendsten Wirtschaftsmächte des 21.Jahrhunderts wider. Die Eckdaten von Indiens Wirtschaft sehen denn auch beeindruckend aus. Und Indiens Staatsdiener werden nicht müde, sie zu zitieren – und dabei gleich noch einen erwartungsvollen Blick in die Zukunft zu werfen. So hat auch Indiens Finanzminister P. Chidambaram an der von der Credit Suisse jährlich in Hongkong veranstalteten Asian Investment Conference seiner Zuversicht Ausdruck verliehen, dass sein Land für die nächsten fünf bis zehn Jahre ein Wachstum von jährlich neun Prozent erreichen werde. Kein Zittern ums Wachstum Die Aussage ist optimistisch – aber durchaus realistisch. Indiens Wirtschaftslandschaft steht heute auf solidem Fundament. Noch vor zehn Jahren hätte sich eine Firma wie Tata Steel vielleicht darüber Gedanken machen müssen, ob Gefahr droht, von einem Unternehmen wie Corus übernommen zu werden. Heute halten die Bilanzen vieler indischer Firmen jedoch jedem internationalen Vergleich stand und das Senior Management dieser Unternehmen zeichnet sich durch eine herausragende «ability to execute» aus. Statt dass Corus Tata übernimmt, hat der indische Stahlriese der Corus Group in Grossbritannien Anfang dieses Jahres eine Übernahmeofferte in Höhe von 6,2 Milliarden Pfund unterbreitet. Auch in anderer Hinsicht sorgt der Wandel der indischen Industrie für zufriedene Gesichter. Nachdem während Jahren vor allem die IT- und die Dienstleistungsbranche das wirtschaftliche Wachstum Indiens bestimmte, haben in letzter Zeit andere Bereiche aufgeholt. «Unsere Fertigungsindustrie ist in den letzten Jahren jeweils um zehn Prozent Stahlindustrie, der Automobilsektor, die Textil- und Lederindustrie und die Herstellung von Maschinenteilen finden sich global an vorderster Front. Und es ist unser Ziel, in mindestens einem Dutzend weiterer Industriezweige unter die Top Drei der Industrienationen zu kommen», so Finanzminister Chidambaram. Als gutes Zeichen deutet er schliesslich die anwachsende Sparrate: «Unsere Ersparnisrate liegt bei beeindruckenden 32,4 Prozent der Höhe des Bruttoinlandsproduktes, unsere Investitionsrate bei 33,8 Prozent.» Dazu kommt, dass Indien sich wachsender ausländischer Direktinvestitionen erfreut. Rund 15 Milliarden US-Dollar sind es für die Zeitspanne April 2006 bis März 20<strong>07</strong> gewesen. Für dieses Fiskaljahr rechnet Chidambaram mit 20 Milliarden US Dollar. Wachstum muss sein Natürlich stellt sich die Frage, ob sich das prognostizierte Wachstum tatsächlich über die nächsten fünf bis zehn Jahre garantieren lässt. «Wir hoffen, dass sich an den vielen kleinen Konfliktherden dieser Welt nicht plötzlich eine grosse neue Auseinandersetzung entzündet. Wir hoffen auch, dass sich Zurückhaltung und Vorsicht als wichtiges Prinzip der Politik halten können», gibt Finanzminister Chidambaram diplomatisch zu Protokoll. Neben einer glücklichen Entwicklung der US-Handelsbilanz wünscht er sich schliesslich, dass es der Indischen Zentralbank gelingen möge, die Inflation in Grenzen zu halten. Neben diesen exogenen Faktoren kämpft Indien auch mit schwerwiegenden innenpolitischen Herausforderungen. Ein Wachstum von rund acht Prozent braucht der Staat allein, um den jährlichen Bedarf an Millionen neuer Arbeitsstellen decken zu können. Um das in die richtige Perspektive zu rücken: 700 Millionen von 1,1 Milliarden Indern sind heute im arbeitsfähigen Alter, und bis 2015 kommen weitere 85 Millionen hinzu. Ein Wachstum von mindestens acht Prozent braucht Indien ausserdem, um der Armut Herr zu werden. 250 Millionen Inder leben heute noch unter der Armutsgrenze und bergen beträchtliches soziales und politisches Sprengkapital in ihren Reihen. Indiens politische Klasse ist sich dieser Tatsache und des daraus resultierenden Handlungsbedarfs aber durchaus bewusst. Schliesslich braucht Indien in den nächsten Jahren beträchtliche Summen, um die marode Infrastruktur des Landes zu modernisieren. «Flughäfen, Hafenanlagen, Kraftwerke, Telekommunikation, Strassenbau, in den nächsten fünf Jahren plant der indische Staat, rund 320 Milliarden US-Dollar in Infrastrukturprojekte zu investieren. 120 Milliarden hoffe ich durch ausländische Direktinvestitionen zu bekommen. Aber 200 Milliarden muss ich in Indien finden», so Chidambaram. Und dazu braucht es eben – wie für vieles andere auch – Wachstum. < Credit Suisse Bulletin 2/<strong>07</strong>