Filmakademie Baden-Württemberg Campus Magazin 21/22
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ALUMNI IM FOKUS<br />
Auf Facebook und YouTube veröffentlichst du regelmäßig<br />
Erklärvideos über sicherheits- und geopolitische<br />
Themen. Das hast du auch nach dem Einmarsch türkischer<br />
Truppen in die kurdischen Gebiete im Norden Syriens<br />
getan. Möchtest du etwas über den Shitstorm erzählen,<br />
der über dich hereingebrochen ist?<br />
Oh ja, das war irre. Nachdem die türkische Armee gemeinsam<br />
mit islamistischen Milizen in Afrin einmarschiert<br />
ist, habe ich ein kurzes Video auf meiner<br />
Facebook-Seite veröffentlicht, in dem ich vor den katastrophalen<br />
Folgen gewarnt habe: viele tote Zivilisten,<br />
mehr Krieg, hunderttausende Flüchtlinge. Dieses Video<br />
ging viral, ich glaube, es wurde mehrere tausend Male<br />
geteilt. In der ersten Welle gab es unfassbar viele positive<br />
Rückmeldungen, oft von Menschen mit Verwandten<br />
in der Region. Dann fand das Video seinen Weg in die<br />
türkisch-nationalistische Bubble, und ab da ging es ab.<br />
Ich wurde wortwörtlich tausende Male beleidigt, zum<br />
Teil recht heftig. Ich muss zugeben, das Ganze hat mich<br />
sehr belustigt. Wenn solche Leute sich über deine Arbeit<br />
aufregen, dann weißt du, du hast etwas richtig gemacht.<br />
Leider waren auch einige konkrete Drohungen dabei, inklusive<br />
Ankündigung, man würde „meine Reste“ eines<br />
Tages irgendwo herumliegen finden. Diese Mordfantasien<br />
habe ich direkt zur Anzeige gebracht – ohne Erfolg.<br />
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart schrieb mir, ich sei Journalist,<br />
und als solcher müsse ich „auch kritische Reaktionen<br />
auf meine Postings“ erdulden. Es gäbe also kein<br />
öffentliches Interesse, diese Drohungen zu verfolgen.<br />
Seitdem wundert mich nicht mehr, dass wir eine Pandemie<br />
an digitaler Gewalt in Deutschland haben, wenn<br />
so viel Inkompetenz auf juristischer Seite vorherrscht.<br />
Siehst du die sozialen Medien eher als Chance oder Gefahr<br />
für freie Meinungsäußerungen und faire Berichterstattung?<br />
Beides. Es ist mit den sozialen Medien wie mit dem Buchdruck<br />
oder dem Fernsehen. Die sozialen Medien können<br />
eine unfassbare Hetzmaschinerie werden, wenn die<br />
Betreiber nicht entschieden gegen Hassbotschaften und<br />
Lügen vorgehen. Gerade Facebook ist das vollkommen<br />
egal. Hier müssten die nationalen Regierungen deutlich<br />
strenger gegen die Plattformbetreiber vorgehen. Wobei<br />
sich Facebook damit langsam selbst ins Abseits schießt<br />
– wie viele junge Leute wollen noch auf einer Plattform<br />
sein, die von alten Männern bevölkert wird, die in den<br />
Kommentaren gegen Geflüchtete und die Weltverschwörung<br />
hetzen?<br />
Auf der anderen Seite bieten die sozialen Medien aber<br />
auch einen unvorstellbaren Gewinn für faire Berichterstattung<br />
und globale freie Meinungsäußerung. Dass<br />
heute Millionen Menschen auf der ganzen Welt Ereignisse<br />
filmen und veröffentlichen können, ist ein Game<br />
Changer, es wird fast unmöglich, Ereignisse zu verschweigen.<br />
Von der Ermordung George Floyds bis zu den<br />
Szenen am Flughafen von Kabul: Bilder werden verbreitet,<br />
die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen<br />
wären. Als ich auf Lesbos gedreht habe, konnte ich rund<br />
um die Uhr mit meinen Protagonisten über Whatsapp<br />
schreiben, auch wenn diese in den Lagern eingesperrt<br />
waren. Die Presse wird bewusst aus diesen Lagern rausgehalten<br />
– was aber fast egal war, weil die Protagonisten<br />
die Zustände einfach selbst mit dem Smartphone filmen<br />
UN-Blauhelmsoldaten im Osten der Demokratischen<br />
Republik Kongo<br />
Eine junge Frau mit ihrem stark unterernährten Kind<br />
in Somalia<br />
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