flip-Joker_2021-11
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THEATER KULTUR JOKER 7
Reise in die Latzhose
Das Theater im Marienbad spielt Saša Stanišics Kinderbuch „Hey, hey, hey, Taxi!“
Christoph Müller steht im
Rund des Bühnenschwimmbeckens
und scheint außer
Atem. Er ist auf dem Weg
nach Hause. „Zurück zu dir“,
presst er hervor. Immer und
immer wieder. Denn immer
und immer wieder ist er auf
Reisen, mit einem Taxi, in
seinem Kopf oder in der Ape,
einem dreirädrigen Kleintransporter.
„Hey, hey, hey,
Taxi!“ ruft er und schon hat
er sein Zuhause wieder verlassen.
Episodenhaft, Schlag
auf Schlag geht es in der Bühnenfassung
von Saša Stanišics
erst kürzlich veröffentlichtem
Kinderbuch „Hey, hey, hey,
Taxi!“ Kühn als Einpersonenstück
konzipiert ruht die
dramatische Last ganz auf
den Schultern des Schauspielers,
Bastlers und Gestalters
des Stücks Christoph Müller,
der den namenlosen Protagonisten
spielt. Ihm zur Seite
stehen diverse Requisiten als
Brandbeschleuniger der Ideenreisen,
die Müller händeringend,
packend, augenöffnend
und jeden kleinen Flecken
der Bühne vermessend unternimmt.
Mit Unterstützung
Mehr zutrauen
Das Shibui Kollektiv hat einen Film über die Bedeutung von Nähe gemacht
Eigentlich hätte Emi Miyoshi
eine längere Recherche über das
Leben im Alter vor sich gehabt.
Doch dann verhinderte die Pandemie
einerseits das Reisen nach
Japan, wo sie Feldstudien machen
wollte, andererseits rückten
die Maßnahmen gegen das Virus
die Situation von alten Menschen
in der unmittelbaren Umgebung
in den Blick. Wer vorher schon
wenige soziale Kontakte hatte,
trennte nun mehr kaum etwas
von der Einsamkeit. Zuerst reagierte
die Freiburger Tänzerin
und Choreografin mit „Relaytionship“
darauf, eine Produktion,
die lediglich als Stream
zu sehen war und die das Fürsich-Sein
aufbrach durch den
reproduzierten Puls und Herzschlag
(Sound: Ephraim Wegner).
„Second Body“ knüpft an
die vorherige Produktion an und
konnte sie doch erweitern. Die
angepeilten Workshops konnten
stattfinden und ein professionell
produzierter Film (Kamera:
Marc Doradzillo; Regie: Emi
Miyoshi, Marc Doradzillo) hat
sich als die adäquate Form dieses
besonderen Projekts erwiesen.
Am 15. und 16. Oktober war der
Christoph Müller spielt den namenlosen Protagonisten im Einzelstück „Hey, hey, hey Taxi!“ Foto: Minz&Kunst
Film im Freiburger Südufer zu
sehen.
Das Alter zeichne sich durch
fehlende Berührungen aus, wird
eine der Teilnehmerin sagen.
Diese Erfahrung war während
des Lockdowns vielen gewährt,
doch keinen traf es härter als
die Seniorinnen und Senioren.
„Second Body“ ist Dokumentation
und Plädoyer. So stehen im
Mittelpunkt die Begegnungen
zwischen den drei Tänzerinnen
(Unita Gay Galiluyo, Anna Kempin,
Emi Miyoshi) und Christel,
Renate, Balduin, Beate, Edith
und Gabi. Doch der Film ist eben
auch ein Werben für mehr Bewegung
im Alter, für mehr Zutrauen
in den eigenen Körper, auch
wenn dieser nicht mehr so beweglich
wie in der Jugend ist, für
mehr Lebendigkeit und Spontaneität.
Es ist sicherlich kein Zufall,
dass einige der beteiligten
Laien soziale oder pädagogische
Berufe hatten oder noch haben,
es macht anscheinend locker für
kreative Prozesse. Und ganz so
alt sind diese Alten ja noch nicht
einmal, eine der Frauen arbeitet
noch. Und ein Glücksfall war sicherlich,
dass zwei Freundinnen
von Vanessa Valk ist ein Objekttheaterstück
entstanden,
das von Anna Fritsch dramaturgisch
begleitet wurde.
Nicht nur die Ape wird zum
fliegenden Gefährt zwischen
Erde und Mond, alltäglichem
Zuhause und skurriler Märchenwelt.
Schon ein Blick in
die Brusttasche der Latzhose
eröffnet neue Dimensionen.
Ein Eisenkoffer mit Pflastern
beklebt wird zur Straße, auf
der Gurken, Tomaten und Paprika
die klassischen Ampelfarben
geben und den Verkehr
regeln. Doch dann steht eine
Aubergine im Raum. Grün,
rot, gelb…? Chaos! Aber egal,
die Reise muss weitergehen.
Saša Stanišic hatte für die
Buchvorlage kindliche Vorstellungskraft
an seiner Seite.
Er entwickelte das Buch
zusammen mit seinem jungen
Sohn. Entsprechend sind
viele klassische Figuren aus
mitmachten, die sich regelmäßig
zum Tanzen treffen. Wie sehr
das Projekt „Second Body“ einen
geschützten Raum schuf für
Nähe, zeigen die ersten Sequenzen
des Films. Zwei Tänzerinnen
versenken erst die Hände, dann
die Arme im Shirt der Partnerin,
dann verdrehen sie sich völlig in
ihrer Trainingskleidung, dass
manchmal der Stoff zwischen ihnen
ist, manchmal nicht einmal
dieser. Schnittwechsel und wir
sehen die Tänzerinnen und ihre
Laien-Partner in verschiedenen
Freiburger Proberäumen. Hilfsmittel
wie Stäbe, Luftballons
und ein Stoffschlauch markieren
Nähe und Distanz, immer wirkt
dies spielerisch und wie aus
dem Augenblick geboren. Viel
Losgelöstsein, geradezu Heiterkeit
und Lebensfreude ist hier
zu sehen. Die Teilnehmer, aber
auch die drei Tänzerinnen berichten
von ihren Absichten und
Erfahrungen. Und man sieht,
es kann etwas entstehen, wenn
Kunstschaffende mit Laien arbeiten,
aber es ergibt auch Sinn,
wenn alte Menschen mit Künstlerinnen
und Künstlern arbeiten
dürfen. Annette Hoffmann
dem Repertoire der Gutenachtgeschichte
anwesend:
Zwerge, Drachen, Piraten.
Aber das ist nicht alles. Viele
seltsame Wendungen machen
die Märchenwelt skurril und
zur Herausforderung für die
Bühnenarbeit Christoph Müllers.
In einer Geschichte hält
er inne, denn irgendetwas
stimmt nicht mit seinem Gefährt.
Lautmalerisch mimt er
einen stotternden Motor. Ein
Check im Motorraum offenbart:
Da ist gar kein Motor, sondern
ein Mann in seinem Bett,
der die Motorengeräusche
bloß mimt. Das ganze Szenario
steht in Christoph Müllers
Gesicht geschrieben, das vor
Erstaunen geweitet ist.
Ganz unverkopft hat sich
auch das Stück selbst thematisiert:
Allein das Erzählen
hält die Welt am Laufen und
am Verändern. Entsprechend
ist es unser Verhalten, unser
Singen, Sprechen und Schauen,
das uns und anderen Freude
bereitet. Und ob die Piraten
nun seekrank werden oder die
Maus ihr Käsetaxi nicht zum
Anbeißen lässt – alles bleibt
möglich, wenn wir ihm nur
Raum lassen. Das Schwimmbecken
des Marienbads hatte
für Christoph Müller ausreichend
davon.
„Hey, hey, hey, Taxi!“ ist ab
dem 11. November mobil als
Klassenzimmerstück buchbar.
Anfragen unter 0761/1379721
oder per Mail gruppen@
marienbad.org. Für nächstes
Jahr ist eine Wiederaufführung
im Theater geplant.
Fabian Lutz
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