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THEATER KULTUR JOKER 7

Reise in die Latzhose

Das Theater im Marienbad spielt Saša Stanišics Kinderbuch „Hey, hey, hey, Taxi!“

Christoph Müller steht im

Rund des Bühnenschwimmbeckens

und scheint außer

Atem. Er ist auf dem Weg

nach Hause. „Zurück zu dir“,

presst er hervor. Immer und

immer wieder. Denn immer

und immer wieder ist er auf

Reisen, mit einem Taxi, in

seinem Kopf oder in der Ape,

einem dreirädrigen Kleintransporter.

„Hey, hey, hey,

Taxi!“ ruft er und schon hat

er sein Zuhause wieder verlassen.

Episodenhaft, Schlag

auf Schlag geht es in der Bühnenfassung

von Saša Stanišics

erst kürzlich veröffentlichtem

Kinderbuch „Hey, hey, hey,

Taxi!“ Kühn als Einpersonenstück

konzipiert ruht die

dramatische Last ganz auf

den Schultern des Schauspielers,

Bastlers und Gestalters

des Stücks Christoph Müller,

der den namenlosen Protagonisten

spielt. Ihm zur Seite

stehen diverse Requisiten als

Brandbeschleuniger der Ideenreisen,

die Müller händeringend,

packend, augenöffnend

und jeden kleinen Flecken

der Bühne vermessend unternimmt.

Mit Unterstützung

Mehr zutrauen

Das Shibui Kollektiv hat einen Film über die Bedeutung von Nähe gemacht

Eigentlich hätte Emi Miyoshi

eine längere Recherche über das

Leben im Alter vor sich gehabt.

Doch dann verhinderte die Pandemie

einerseits das Reisen nach

Japan, wo sie Feldstudien machen

wollte, andererseits rückten

die Maßnahmen gegen das Virus

die Situation von alten Menschen

in der unmittelbaren Umgebung

in den Blick. Wer vorher schon

wenige soziale Kontakte hatte,

trennte nun mehr kaum etwas

von der Einsamkeit. Zuerst reagierte

die Freiburger Tänzerin

und Choreografin mit „Relaytionship“

darauf, eine Produktion,

die lediglich als Stream

zu sehen war und die das Fürsich-Sein

aufbrach durch den

reproduzierten Puls und Herzschlag

(Sound: Ephraim Wegner).

„Second Body“ knüpft an

die vorherige Produktion an und

konnte sie doch erweitern. Die

angepeilten Workshops konnten

stattfinden und ein professionell

produzierter Film (Kamera:

Marc Doradzillo; Regie: Emi

Miyoshi, Marc Doradzillo) hat

sich als die adäquate Form dieses

besonderen Projekts erwiesen.

Am 15. und 16. Oktober war der

Christoph Müller spielt den namenlosen Protagonisten im Einzelstück „Hey, hey, hey Taxi!“ Foto: Minz&Kunst

Film im Freiburger Südufer zu

sehen.

Das Alter zeichne sich durch

fehlende Berührungen aus, wird

eine der Teilnehmerin sagen.

Diese Erfahrung war während

des Lockdowns vielen gewährt,

doch keinen traf es härter als

die Seniorinnen und Senioren.

„Second Body“ ist Dokumentation

und Plädoyer. So stehen im

Mittelpunkt die Begegnungen

zwischen den drei Tänzerinnen

(Unita Gay Galiluyo, Anna Kempin,

Emi Miyoshi) und Christel,

Renate, Balduin, Beate, Edith

und Gabi. Doch der Film ist eben

auch ein Werben für mehr Bewegung

im Alter, für mehr Zutrauen

in den eigenen Körper, auch

wenn dieser nicht mehr so beweglich

wie in der Jugend ist, für

mehr Lebendigkeit und Spontaneität.

Es ist sicherlich kein Zufall,

dass einige der beteiligten

Laien soziale oder pädagogische

Berufe hatten oder noch haben,

es macht anscheinend locker für

kreative Prozesse. Und ganz so

alt sind diese Alten ja noch nicht

einmal, eine der Frauen arbeitet

noch. Und ein Glücksfall war sicherlich,

dass zwei Freundinnen

von Vanessa Valk ist ein Objekttheaterstück

entstanden,

das von Anna Fritsch dramaturgisch

begleitet wurde.

Nicht nur die Ape wird zum

fliegenden Gefährt zwischen

Erde und Mond, alltäglichem

Zuhause und skurriler Märchenwelt.

Schon ein Blick in

die Brusttasche der Latzhose

eröffnet neue Dimensionen.

Ein Eisenkoffer mit Pflastern

beklebt wird zur Straße, auf

der Gurken, Tomaten und Paprika

die klassischen Ampelfarben

geben und den Verkehr

regeln. Doch dann steht eine

Aubergine im Raum. Grün,

rot, gelb…? Chaos! Aber egal,

die Reise muss weitergehen.

Saša Stanišic hatte für die

Buchvorlage kindliche Vorstellungskraft

an seiner Seite.

Er entwickelte das Buch

zusammen mit seinem jungen

Sohn. Entsprechend sind

viele klassische Figuren aus

mitmachten, die sich regelmäßig

zum Tanzen treffen. Wie sehr

das Projekt „Second Body“ einen

geschützten Raum schuf für

Nähe, zeigen die ersten Sequenzen

des Films. Zwei Tänzerinnen

versenken erst die Hände, dann

die Arme im Shirt der Partnerin,

dann verdrehen sie sich völlig in

ihrer Trainingskleidung, dass

manchmal der Stoff zwischen ihnen

ist, manchmal nicht einmal

dieser. Schnittwechsel und wir

sehen die Tänzerinnen und ihre

Laien-Partner in verschiedenen

Freiburger Proberäumen. Hilfsmittel

wie Stäbe, Luftballons

und ein Stoffschlauch markieren

Nähe und Distanz, immer wirkt

dies spielerisch und wie aus

dem Augenblick geboren. Viel

Losgelöstsein, geradezu Heiterkeit

und Lebensfreude ist hier

zu sehen. Die Teilnehmer, aber

auch die drei Tänzerinnen berichten

von ihren Absichten und

Erfahrungen. Und man sieht,

es kann etwas entstehen, wenn

Kunstschaffende mit Laien arbeiten,

aber es ergibt auch Sinn,

wenn alte Menschen mit Künstlerinnen

und Künstlern arbeiten

dürfen. Annette Hoffmann

dem Repertoire der Gutenachtgeschichte

anwesend:

Zwerge, Drachen, Piraten.

Aber das ist nicht alles. Viele

seltsame Wendungen machen

die Märchenwelt skurril und

zur Herausforderung für die

Bühnenarbeit Christoph Müllers.

In einer Geschichte hält

er inne, denn irgendetwas

stimmt nicht mit seinem Gefährt.

Lautmalerisch mimt er

einen stotternden Motor. Ein

Check im Motorraum offenbart:

Da ist gar kein Motor, sondern

ein Mann in seinem Bett,

der die Motorengeräusche

bloß mimt. Das ganze Szenario

steht in Christoph Müllers

Gesicht geschrieben, das vor

Erstaunen geweitet ist.

Ganz unverkopft hat sich

auch das Stück selbst thematisiert:

Allein das Erzählen

hält die Welt am Laufen und

am Verändern. Entsprechend

ist es unser Verhalten, unser

Singen, Sprechen und Schauen,

das uns und anderen Freude

bereitet. Und ob die Piraten

nun seekrank werden oder die

Maus ihr Käsetaxi nicht zum

Anbeißen lässt – alles bleibt

möglich, wenn wir ihm nur

Raum lassen. Das Schwimmbecken

des Marienbads hatte

für Christoph Müller ausreichend

davon.

„Hey, hey, hey, Taxi!“ ist ab

dem 11. November mobil als

Klassenzimmerstück buchbar.

Anfragen unter 0761/1379721

oder per Mail gruppen@

marienbad.org. Für nächstes

Jahr ist eine Wiederaufführung

im Theater geplant.

Fabian Lutz

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