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Bajour Magazin #2

Unsere journalistischen Perlen des letzten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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↓ Unser Schlafplatz für die Nacht.<br />

sen sein. «Man wollte mich wegen Diebstahls<br />

verurteilen. Aber ich habe nichts getan. Trotzdem<br />

musste ich einen Monat in U-Haft», sagt<br />

er aufgebracht. Er will wissen, ob er nicht eine<br />

Entschädigung für die im Gefängnis verbrachte<br />

Zeit erhalten könne. Schliesslich habe die<br />

Untersuchung nichts ergeben. Wir blicken uns<br />

an und sagen, dass das eher unwahrscheinlich<br />

klingt. Der Mann, der uns seinen Namen nicht<br />

verraten wollte, verwirft die Hände, schimpft<br />

laut los und läuft sauer davon.<br />

Weihnachten zu Hause<br />

Gavril kaut noch immer an seinem Brot und hat<br />

die Szene wortlos mitangesehen. «Im Sommer<br />

kam ein Polizist zu uns und hat uns die Regeln<br />

erklärt. Wir halten uns daran und wollen keinen<br />

Ärger», sagt Gavril. «Ich bin katholisch. Ich<br />

würde nie stehlen», sagt er ernst. Cousin Mihail<br />

pflichtet ihm bei.<br />

«Mihail taugt als Bettler nichts», sagt Gavril<br />

lachend. «Er ist zu schüchtern. Das nächste<br />

Mal nehme ich ihn nicht mehr mit.» Mihail ist<br />

etwas kleiner und schmaler als Gavril, trägt<br />

auch Schnurrbart und hat sich in mehrere dicke<br />

Pullis gepackt. Er schüttelt den Kopf, lacht verlegen<br />

und meint nur: «Ich wollte nicht betteln.<br />

Ich schäme mich. Aber ich habe meinen Job<br />

als Putzkraft verloren und darum mittlerweile<br />

keine Wahl mehr.» Die beiden hoffen, in etwa<br />

↓ Assia, Kalin, Ivo und das, was von ihrem<br />

Nachtlager übrig geblieben ist.<br />

einer Woche nach Hause reisen zu können. Sie<br />

würden die Festtage gerne zu Hause verbringen.<br />

An Weihnachten sitzt man mit der Familie zusammen,<br />

isst Sermale – rumänische Sauerkrautrouladen<br />

– und trinkt Cola. Und zieht von Tür<br />

zu Tür und singt rumänische Weihnachtslieder.<br />

Bis dahin müssten sie aber noch mehr Geld erbetteln,<br />

um das möglich zu machen.<br />

Mihail und Gavril gehen zu ihren Schlafplätzen.<br />

«Gute Nacht und bis morgen», sagen wir<br />

zu ihnen. «Bis morgen. Und vergesst nicht, mir<br />

eine Wurst mitzubringen», ruft uns Gavril noch<br />

hinterher. Dann schlüpft er unter seine Decke<br />

und zieht sie sich bis unters Kinn.<br />

Wir gehen weiter, machen aber mit Gavril ab,<br />

dass wir später zum Schlafen zum Pavillon zurückkommen.<br />

22 Uhr, Unterführung Heuwaage<br />

Assia, Kalin und Ivo schlafen schon, als wir bei<br />

ihnen in der Unterführung an der Heuwaage<br />

auftauchen. «Hallo zusammen», rufen wir zaghaft.<br />

Eine Hand schiebt ein Stück Karton weg,<br />

darunter taucht eine dunkelhaarige Frau mit<br />

weisser Bommelmütze auf. Sie streckt verschlafen<br />

ihren Kopf hoch. «Oh, hallo», sagt sie<br />

erfreut zu uns auf Deutsch. Wir haben uns letzte<br />

Woche schon einmal unterhalten.<br />

Assia, ihr Ehemann Kalin und ihr Bruder Ivo sind<br />

aus Bulgarien. Seit etwa einem Monat sind sie<br />

in Basel und betteln nach Geld. Ein schlimmer<br />

Autounfall, der Assias Ehemann vor zehn Jahren<br />

beide Hände kostete, stürzte die Familie<br />

zunächst in die Arbeitslosigkeit und dann in<br />

die Armut. «Eine Hand hätte nicht amputiert<br />

werden müssen. Aber wir hatten schon damals<br />

nicht so viel Geld und konnten uns die Operation<br />

nicht leisten.» Seither bleibt ihnen nichts<br />

anderes übrig, als zu betteln. Es sei das zweite<br />

Mal, dass sie in Basel seien. Das erste Mal waren<br />

sie im Oktober 2020 hier.<br />

«Weisst du, wir sind das Problem. Nicht die<br />

Menschen hier, ich weiss das», sagt Assia in<br />

nüchternem Ton. Sie verstehe, dass die Menschen<br />

nicht gerne angebettelt werden. Aber sie<br />

und ihre Familienmitglieder würden nur stumm<br />

dasitzen, mit einem Becher vor ihnen. «Ich bin<br />

meistens vor der Post. Und die anderen beiden<br />

in der Shoppingstrasse», erzählt sie.<br />

Damals, im Oktober 2020, hätten sie deutlich<br />

mehr Geld zusammenbekommen. «Es gab<br />

Tage, da haben wir zu dritt bis zu 200 Euro<br />

erhalten», sagt Assia. Mittlerweile bekommen<br />

sie fast nichts. Es reichte aber immerhin für die<br />

Easyjet-Rückflugtickets. Denn morgen Samstag<br />

wollen sie zurück nach Hause.<br />

Von ihrem anderen Bruder, der in Bern lebt, haben<br />

Assia und die anderen vom aufgehobenen<br />

Bettelverbot erfahren. Darum seien sie diesen<br />

Herbst nach Basel gekommen.<br />

«Und warum lebt ihr nicht in Bern bei deinem<br />

Bruder?», will ich wissen.<br />

«Er kann uns ja nicht alle durchfüttern. Und wir<br />

haben kein Geld, um ihm etwas an die Miete zu<br />

zahlen. Wir wollen ihm nicht zur Last fallen»,<br />

sagt Assia und zuckt mit den Schultern.<br />

«Heute ist es wenigstens nicht ganz so kalt»,<br />

sagt sie. Sie hat recht. Zwei Nächte zuvor stieg<br />

das Thermometer nicht über minus 3 Grad. Der<br />

Regen hält weiterhin an. Aber in der Unterführung<br />

ist es immerhin trocken.<br />

«Wir sprechen seit<br />

diesem Sommer<br />

darüber und suchen<br />

krampfhaft nach<br />

schnellen Lösungen.<br />

Wie aber auch in der<br />

Coronakrise gibt es<br />

diese hier nicht.»<br />

Beda Baumgartner, SP-Grossrat<br />

Dünner Karton schützt die drei Bulgar*innen<br />

vor dem kalten Asphalt. Sie teilen sich drei<br />

Wolldecken. Vorher hätten sie mehr warme<br />

Kleidung und Decken gehabt. Aber dann habe<br />

die Polizei ihre Sachen vor wenigen Tagen abgeräumt,<br />

erzählen sie.<br />

Denn die Bettler*innen dürfen sich nur nachts<br />

im Park und in den Unterführungen einquartieren.<br />

Im Freien zu übernachten, ist in Basel nicht<br />

verboten. Aber die Polizei will, dass die Lager<br />

ab 7 Uhr geräumt werden. Tagsüber ist auch<br />

im Pavillon, wo die Roma übernachten, nichts<br />

mehr übrig von ihrem Schlafplatz. Sie schleppen<br />

während des Tages all ihr Hab und Gut mit.<br />

Die SP ist nicht glücklich über den Umgang<br />

mit den Bettler*innen in Basel. Dass man sie<br />

vom Platz verweise und sogar eine Wiedereinführung<br />

des Bettelverbots im Grossen Rat<br />

diskutiert, sorgt für Unmut unter den Linken.<br />

So sagte SP-Grossrat Beda Baumgartner am<br />

2. Dezember 2020 zur «bz»: «Wir haben ein<br />

grundsätzliches Problem und müssen einen<br />

anderen Umgang damit finden.»<br />

Wie dieser Umgang aussehen soll, das weiss die<br />

SP allerdings auch nicht. Baumgartner wünscht<br />

sich einen stärkeren Dialog mit den Bettler*innen<br />

und sagt aber gleichzeitig: «Wir sprechen seit<br />

diesem Sommer darüber und suchen krampfhaft<br />

nach schnellen Lösungen. Wie aber auch<br />

in der Coronakrise gibt es diese hier nicht.»<br />

Schneeregen<br />

Wir wollen Assia, Ivo und Kalin nicht weiter vom<br />

Schlafen abhalten und beschliessen, zum Pavillon<br />

zurückzukehren. Als wir uns verabschieden,<br />

laden uns die drei ein, sie in Bulgarien irgendwann<br />

zu besuchen.<br />

Wir stapfen durch den Park, vorbei an dem<br />

grün-weissen Schild der Stadtgärtnerei, das<br />

darauf hinweist, dass es verboten ist, sich im<br />

Gebüsch zu erleichtern. Ein Schild extra für die<br />

Bettler*innen, die hinter Büsche und an Kirchenmauern<br />

gepinkelt hatten.<br />

Zurück beim Pavillon, schlafen längst alle. Man<br />

hört bloss noch das leise Schnarchen Einzelner.<br />

Platz hat es für uns dort inzwischen keinen<br />

mehr. Darum legen wir uns zu den anderen drei<br />

Familienangehörigen, die vor der Sarasin-Bank<br />

übernachten. Eine ältere Frau mit ihrem Sohn<br />

und seiner Ehefrau.<br />

Der Mann hebt bloss kurz den Kopf und nimmt<br />

uns kommentarlos zur Kenntnis. Dann verschwindet<br />

er wieder unter der Decke. Die Stunden<br />

vergehen nur zäh, während ich mich in meinem<br />

Schlafsack hin und her wälze. Meine Füsse sind<br />

kalt. Dagegen helfen auch die Skisocken nicht.<br />

Ich spüre meine noch vom Regen feuchte Jeans<br />

durch die Thermoleggins. Gegen 2 Uhr, es ist<br />

etwa null Grad mittlerweile, setzt der Schneeregen<br />

ein und peitscht auf den Asphalt. Der<br />

Dachvorsprung ist gerade so breit, dass wir<br />

davon verschont bleiben.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#2</strong> | 2021<br />

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